Die Führungsriege von Daimler ist da. Eigentlich sind alle vom Automogul da, die sich um Nachhaltigkeit kümmern. Das sind trotzdem noch verhältnismäßig wenig, wenn man sich vorstellt, welche Tragweite das Thema für die Zukunft hat. Aber nicht alle sehen das so. Andreas sieht das schon seit annähernd zehn Jahren glasklar in den Daten vor sich, die sie seitdem mit GaBi gesammelt haben. Er ist von Tag 1 an die Triebfeder der GaBi. Heute ist es an ihm, die Ergebnisse der neuen Datenerhebung vor zu stellen und den Entscheidern im Konzern klar zu machen, dass Umdenken und entsprechendes Handeln nicht nur der Umwelt dient, sondern auch dem Geldbeutel. So jedenfalls sieht es Thomas, der seinen Kugelschreiber etwas nervös zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände hin- und herrollt. Andreas steht vorn am Overhead-Projektor und ist tief drin im Redefluss. Es ist ein warmer Mai in diesem Jahr 1996. Sieben Jahre begleitet ihn GaBi schon. Er hat maßgeblich das VW Projekt voran getrieben — ein Meilenstein, den keiner für möglich gehalten hatte, bis sie es doch gezeigt haben: die Ganzheitliche Bilanzierung eines gesamten Fahrzeugs. Doch das war erst der Anfang. Wirklich etwas ändern wird sich erst, wenn alle Hersteller begreifen, dass sie trotz des Wettbewerbs einen gemeinsamen Gegner haben, gegen den sie alle nichts ausrichten können: die Natur. Mit all den CO2 Emissionen sind sie maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Planet sich jährlich um 1,5 Grad erwärmt. Das alles wissen sie schon lange aus der Forschung. Neu ist, dass jetzt genau errechnet werden kann, welchen Beitrag Fahrzeugproduktion beispielsweise dazu leistet.
Andreas geht jedes der Balkendiagramme in der Präsentation im Detail und mit der nötigen Gewissenhaftigkeit durch. Nur ab und an blickt er in die Riege der Zuschauer. Da ist Dr. Schneider, der Chef der Entwicklungsabteilung. Da sind seine engsten Mitarbeiter, darunter auch eine Frau, Sybille Kunert, die gerade ihre Promotion abschließt, wie Andreas in einem Gespräch erfahren hat. Da sind auch einige typische Manager dabei, wie Andreas sie mittlerweile in den zahlreichen Gesprächen und Projekten so oft erlebt hat. Sie haben oft sehr wenig Ahnung von dem, was die GaBi-Leute wirklich machen. Aber immerhin sorgen sie dafür, dass die Projekte, so sie denn wirklich zustande kommen, auch durchgezogen werden. Neben den beiden Managern sitzt Christine, die als Hauptansprechpartnerin für die Software dabei ist, von der es mittlerweile die Version 2.0 gibt. Und daneben sitzt schon Thomas. Andreas nimmt aus dem Augenwinkel wahr, dass Thomas ungeduldig wirkt und mit trüber Miene nach vorn starrt. Für einen kurzen Augenblick treffen sich ihre Blicke exakt. Andreas lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er weiß, was er hier tut. Er kennt die Daten in und auswendig. Er hat sich vorgenommen, die Fakten hier genauso darzulegen, wie es die Analyse ergeben hat. Dann meldet sich Berger, einer der Manager: „Herr Dr. Künzel, wenn ich kurz einhaken darf. Ich kann sehr gut verstehen, dass all diese Zahlen, die Sie seit einer halben Stunde präsentieren, ihre Berechtigung haben. Aber wenn Sie uns jetzt vielleicht ein kurzes Zwischenfazit liefern könnten, was das jetzt genau heißt für die C-Klasse beispielsweise.“ Andreas rückt die Folie auf dem Overhead-Projektor kurz zurecht und schaut zu Berger. „Ich kann verstehen, dass Sie jetzt bereits ein Zwischenfazit wünschen. Ich bin mir bewusst, dass es viel Datenmaterial ist. Dennoch ist es an dieser Stelle noch etwas früh, Ihnen eine solche Schlussfolgerung zu liefern. Lassen Sie mich gerade noch die letzten wichtigen Informationen durchgehen und dann gehe ich auf Ihre Frage ein.“ Andreas schaut kurz hinter sich auf die Wand, um zu sehen, ob die Diagramme weiter scharf zu sehen sind. Dann nimmt er Anlauf, um fort zu fahren. „Andreas, tschuldigung, Andreas, bitte. Einen Augenblick,“ hört er Thomass Einwurf. „Das geht so nicht. Ich bin ja bei Dir, dass wir die ganzen Daten anschauen müssen, aber Du hast doch eben die Zahlen der C-Klasse gezeigt. Da sieht man doch eindeutig, dass man insbesondere bei den Kunststoffen einen so enormen Energieverbrauch hat, dass völlig klar ist, wie der Ersatz durch Alternativen das Ergebnis verändern würde. Nichts anderes wollte doch Herr Berger gerade erfahren, wenn ich das richtig verstanden habe. Kannst Du nicht langsam mal zur Empfehlung kommen, die wir auf Basis der Daten und der Software machen würden?“ Kaum hat Thomas das gesagt, beugt er sich demonstrativ vor und breitet die Handflächen auf dem Tisch aus. Er schaut Andreas provokativ in die Augen. Die ganze Daimler-Runde schaut zunächst auf Thomas, dann schwenken alle Augen auf Andreas. Spätestens jetzt ist allen hier am Konferenztisch am neuen Sitz des Instituts klar, dass es hier um mehr geht als nur eine Präsentation. „Thomas, danke für den Einwand. Wie ich sagte, ich möchte gern die Faktenpräsentation noch abschließen und im Übrigen kann ich die von Dir als so eindeutig abgeleitete „Empfehlung“ mit dem Ersatzmaterial nicht so unterstützen. In dem Moment scheint Thomas zu kochen. Er schaut in die Luft, verschränkt die Arme vor dem Bauch, streckt die Füße unterm Tisch aggressiv nach vorne. „Herrschaftszeiten, Andreas, wir sind doch hier nicht beim Doktorandencolloquium. Wenn Du hier Erbsenzählerei machen willst, kannst Du ja gern zu den Kollegen von den anderen Instituten hier gehen. Die sind da Weltmeister drin. Meine Güte, die GaBi ist doch genau deshalb, was sie ist, weil wir nicht nur reden, sondern machen. Ohne die Empfehlungen, die aus der Analyse folgen, hat doch keiner was davon. Hab ich recht, meine Herren? Sie sind doch hier, weil Sie was fürs Geschäft davon haben wollen? Wir sind doch da auf einer Wellenlänge. Es geht um die Umwelt, aber nicht aus illusionärem Denken heraus, sondern mit dem Anspruch, eine nachhaltige wirtschaftliche Grundlage zu haben.“ Dr. Schneider und die anderen aus der Daimler-Runde nicken kurz. Einzig Sybille Kunert hält sich mit Gesten zurück. Sie lenkt den Blick auf Andreas. Die anderen tun es ihr gleich. Sie wollen hier nicht zur Meute werden, die mithilft, den Leiter der GaBi-Abteilung auf die Schlachtbank zu führen. Offensichtlich ist es das, was sich hier gerade abspielt. Andreas zeigt sich äußerlich weiter unbeeindruckt. Innerlich jedoch spürt er, dass nun auch ihm bald der Kragen platzt. „Na gut,“ nimmt er Anlauf. „Thomas, Du willst es so. Dann sage ich es hier vor versammelter Mannschaft. Die Daten erzählen aus meiner Perspektive erstens eine andere Geschichte, als Du sie hier so abgekürzt darstellst. Es gibt meiner Ansicht nach noch ganz andere Hebel, die bislang noch keiner berücksichtigt hat und zu denen unsere GaBi, bei aller Begeisterung, auch noch nicht viel sagen kann. Und, zweitens, sehe ich meine Rolle nicht darin, hier eindeutige „Empfehlungen“ an das Management zu geben. Ich bin kein Manager, sondern Wissenschaftler. Ja, wir arbeiten hier beratend während der Datengenerierung bei unseren Kunden. Es ist aber nicht an mir, Entscheidungen vorweg zu nehmen, zumal ich diese, wie eben erläutert, auch nicht aus den Fakten ableiten kann.“
Noch bevor Andreas seinen letzten Satz beendet hat, springt Thomas auf und tigert zum Fenster. Er hat eine Faust geballt und schaut hinaus über die Dächer des Industriegebiets. Er weiß, dass er aktuell nicht in allerbester Verfassung ist, um nicht zu sagen, es geht ihm nicht gut. Das weiß auch Andreas. Sie sind in den vielen Jahren Freunde geworden, auch wenn Andreas viele Jahre jünger ist und sein ehemaliger Student. Er weiß auch, dass Andreas für GaBi brennt und hier nichts ohne ihn heute so wäre, wie es ist. Aber eines kann er zunehmend nicht hinnehmen, dass Andreas nicht versteht, dass es hier ums Machen geht, um Entscheidungen, und um eine klare Sprache. Das ist es eigentlich, was ihn am meisten stört. Er könnte aus der Haut fahren, wenn er Andreas da stundenlang seine Tabellen erklären hört. Das ist genau das, wofür er und GaBi nicht stehen. Andreas schafft es einfach auch nach all den Jahren nicht, den Punkt rüber zu bringen. Man muss den Leuten eine Geschichte erzählen, die hängen bleibt. Man muss ihnen auch klarmachen, dass sie es mit ihrer Entscheidung in der Hand haben, ob sich was beim Thema Nachhaltigkeit ändert oder nicht. Und dafür muss man auch verdammt noch mal den Arsch in der Hose haben, hier aus seinem wissenschaftlichen Schneckenhaus heraus zu kriechen und klare Handlungsempfehlungen zu machen. Zumal die Fakten nun wirklich auf dem Tisch liegen. Thomas dreht sich herum, lehnt sich mit dem Rücken ans Fenster und stützt sich hinten mit den Händen auf der Heizung auf, um nicht Gefahr zu laufen, tatsächlich mit geballten Fäusten weiter zu sprechen. „Andreas, noch einmal: Wir haben hier doch alle keine Zeit zu verlieren. Kannst Du jetzt einmal bitte nur den einen Satz sagen, dass wir zumindest was die Datenlage angeht, davon ausgehen, dass der Einsatz von Polymeren an dieser Stelle nicht nur umweltlich schädigend sondern auch nicht ökonomisch ist? Ist das wenigstens mal möglich, um hier jetzt mal voran zu kommen in der Debatte?“
Andreas hat mittlerweile den Overhead Projektor ausgemacht. Er hat das Gefühl, dass es hier schon lange nicht mehr um die Präsentation und um die Folien geht. Offensichtlich geht es Thomas um einen Showdown. Warum der ausgerechnet hier und heute stattfinden muss, versteht Andreas nicht. Genauso wenig versteht er, wie das alles so hat kommen können. Aber dass es kommen würde, das hat er schon länger gespürt. Seit vielen Monaten gibt es Reibereien. Die PE greift Aufträge ab, die eigentlich der GaBi-Abteilung an der Uni zustünden. Ein Keil geht durch die beiden Teams. Thomas verhält sich mehr wie ein Platzhirsch als ein Wissenschaftler, dem es wirklich um wissenschaftliche Erkenntnisse geht. Er vermarktet GaBi mehr als er sie hinterfragt. Wenn das überhaupt noch einer verstehen kann im GaBi Team, dann ist es Holger. Aber er hat das hier schneller erkannt als Andreas. Er ist von sich aus gegangen. Er konnte mit dem ganzen Macho-Gehabe hier nichts anfangen. Am Anfang konnte Andreas seine Kritik selbst nicht verstehen. Jetzt sieht er es eindeutig vor sich. Ihm geht es gerade genauso. Hier geht es nicht nur oder vielleicht gar nicht um die Sache. Hier geht es um Werte. Hier geht es gerade darum, dass ein paar Leute ihr Ego ausleben wollen und die wissenschaftlichen Fakten nur zu etwas gebrauchen, dass ihrem Geschäftssinn in die Hände spielt. Hier geht es darum, dass die GaBi-Software auf jeden Fall erfolgreich verkauft werden soll. Ja, sie alle wollen einen Bewusstseinswandel in den Unternehmen und in den Köpfen der Menschen. Daran besteht kein Zweifel. Aber mit der Zeit haben sich hier Muster und Denkweisen eingeschlichen, die offensichtlich nicht dem entsprechen, was Andreas als wissenschaftlich vertretbar und fair empfindet. Und vor allen Dingen hätte er es für undenkbar gehalten, dass sein eigener Chef hier solch einen Machtkampf aufführt vor einem der wichtigsten Partnerunternehmen. Es ist beschämend. Es ist unfair und vor allem anderen ist es inhaltlich, zumindest aus Andreas Sicht, auch einfach falsch.
Andreas nimmt sich einen Stuhl und setzt sich nun ebenfalls zum ersten Mal. Er rückt sich die Brille zurecht und schaut dann in die Runde. „Meine Damen und Herren. Es tut mir leid, wenn ich Sie gelangweilt haben sollte mit all den Zahlen. Wie Sie sehen, bin ich von den Daten überzeugt. Auch empfehle ich, sich ebenfalls noch die restlichen Daten anzuschauen. Diese stehen auch alle in dem Bericht, den ich Ihnen da hinten ausgedruckt habe und nach der heutigen Präsentation aushändigen wollte. Nun ist die Präsentation etwas kürzer ausgefallen. Ich bleibe inhaltlich bei allem, was ich Ihnen bis hierhin präsentiert habe. Ich schlage angesichts des Gesprächsverlaufs vor, dass wir hier für heute zum Abschluss kommen. Herr Schneider, wir haben ohnehin für kommenden Dienstag einen Termin. Ich stehe gern zur Verfügung, Ihre Detailfragen dann zu klären. Bis dahin gehe ich davon aus, werden Herr Reiter und ich unsere inhaltlichen Sichtweisen sicherlich noch einmal ausgetauscht haben. Thomas, sehe ich das recht?“ Andreas schaut nur kurz zu Thomas hinüber, der mit weit aufgerissenen Augen und völlig verschwitzt am anderen Ende der Tischrunde sitzt. Er antwortet ebenfalls ohne Andreas direkt anzuschauen. „Ist schon recht. Ist wohl das Beste.“ Dann herrscht für einen langen Moment Schweigen. Die Daimler-Mannschaft schaut ausnahmslos pickiert ins Leere auf die Tische vor sich. Schließlich ergreift Schneider das Wort. „Gut, dann, also, würde ich sagen, danken wir den Herrschaften recht herzlich für die Präsentation. Ich denke, der Vorschlag von Herrn Künzel hört sich vernünftig an. Wir sprechen also kommende Woche noch einmal. Bis dahin werden Sie sicherlich Zeit gefunden haben, intern eventuell etwas gegensätzliche Analyseperspektiven durchgesprochen zu haben. Ich bin sicher, wir kommen da alle gemeinsam doch zu einer Lösung, die uns, insbesondere dem Management, eine solide Entscheidungsgrundlage gibt.“
Die Konzerngäste stehen daraufhin alle im Gleichklang auf. Es werden kurz Hände geschüttelt. Einzig Christine bleibt noch einen Moment ziemlich betrübt dreinblickend sitzen. Dann steht auch sie auf. Im Vorbeigehen fasst sie noch kurz Andreas an die Schulter, bevor auch sie den Raum mit den anderen verlässt. Andreas geht, ohne Thomas auch nur eines Blickes zu würdigen, zurück vorne an den Rednertisch und packt die Folien zusammen. Thomas steht noch immer an der Fensterseite und schaut ihn nun provozierend an. Er scheint keinerlei Verständnis zu haben für das, was Andreas hier hatte präsentieren wollen. Noch empfindet er Wertschätzung. Im Gegenteil, die Stimmung in der Luft ist eine Mischung aus Wut, Aggression und absoluter Enttäuschung. Andreas nimmt die Papiere und macht sich zur Tür auf. „Andreas, so geht das nicht. Das geht so einfach nicht. Du musst lernen, den Leuten mal die Sachen so darzustellen, dass für sie auch was rauskommt. Ich kann das nicht mit ansehen. Du kannst froh sein, dass die nicht schon von sich aus gegangen sind. Du musst doch sehen, dass Du die GaBi so nicht weiterbringst, mal abseits von der Tatsache, dass Du hier offensichtlich Deine wissenschaftliche Kompetenz ein bisschen hoch hängst. Ich habe das Gefühl, das geht so nicht mehr, Andreas. Da muss was passieren.“ Andreas hört das alles, während er weiter auf die Tür zusteuert. Bevor er durch den Türrahmen tritt, hält er an und dreht sich noch einmal kurz um. „Du hast recht, Thomas. Das geht so einfach nicht. Und es ist schon genug passiert. Es muss nicht mehr passieren. Das hier heute war genug. Was Du hier eben gemacht hast, ist mir genug. Schon lange. Mach weiter mit Deinen Managern. Erzähl Ihnen Deine Geschichten. Ich bleibe bei den Daten. Die sind es, die die GaBi erfolgreich machen. Dafür habe ich gebrannt und werde es immer tun. Aber hier werde ich verbrannt. Das hat eben jeder gesehen. Es ist vorbei.“ „Du wirst Dir was Neues suchen?“ „Ja.“ „Gut, Du hast sechs Monate. Mehr sollten es nicht sein.“ Dann dreht sich Thomas wieder zum Fenster und Andreas verlässt den Raum. Zum ersten Mal fühlt er etwas, das er so noch nie gefühlt hat. Er bereut die viele Zeit, die er in diesen Wänden für GaBi geopfert hat. Er weiß aber auch, dass es Thomas irgendwann leid tun wird. Ehrlich leid tun. Auch wenn er es selbst heute nicht so sieht. Zumindest ist das Andreas Hoffnung. Wissen kann er es nicht. Er weiß nur, dass er ab heute einen neuen Weg einschlagen wird.