
Die Sonne ist noch immer sehr warm durch die Windschutzscheibe zu spüren. Den ganzen Tag hat sie mit aller Kraft diesen Sommertag im Jahr 1996 erhitzt. Thomas hält das Lenkrad in beiden Händen und schaut konzentriert auf die Fahrbahn während hinten auf der Rückbank Mona, Felix und Thomas, ein Junge aus der Nachbarschaft, noch ganz aufgedreht über ihre Erlebnisse sprechen. „Weißt Du noch, wie der Pirat plötzlich in der Geisterbahn vor unserem Kopf runtergefallen ist?” fragt Mona ihren Bruder. „Da hast Du Dich ganz doll erschreckt und geschrien, ich hab es genau gesehen.“ „Ach, Quatsch mit Sauce, stimmt gar nicht“, gibt Thomas zurück. „Aber Du hast voll Angst gehabt in der Achterbahn.“ Dann schon schaltet sich Felix ein und schwärmt geradezu von der Wildwasserbahn und dem Karussell. Bettina schmunzelt auf dem Beifahrersitzt. Ihr tun die Füße weh vom Herumgelaufe auf dem großen Freizeitparkgelände. Von morgens 9:00 Uhr bis zur Schließung des Parks waren sie nun in Tripsdrill. Das hatte sich Felix zum Geburtstag gewünscht. Thomas hatte sie morgens hingefahren. „Was schaust Du denn so grimmig, Thomas? Bist Du heute nicht mit der Arbeit voran gekommen?“ fragt sie ihren Mann. „Was, ich? Doch, doch, doch, passt schon“, antwortet er kurz, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Rückbank zuwendet. „Sagt mal, Kinder, wisst Ihr eigentlich auch, wie so eine Achterbahn funktioniert? Ich meine, wie der Wagen da hoch kommt und dann nicht aus der Kurve fliegt?“ Felix und die anderen haben die Frage offensichtlich überhaupt nicht gehört. Sie sind so laut am Schwärmen und voller Eindrücke, dass sie nichts und niemand gedanklich aus der phantastischen Abenteuerwelt reißen kann. Dann schließlich fällt Mona doch ein, dass morgen schon Montag ist. „Mama, müssen wir morgen zur ersten Stunde in die Schule? Ich bin doch jetzt sooooo müde.“ Bettina schmunzelt. „Ja, Mona, morgen ist erste Stunde angesagt, wie immer. Aber Du kannst Dich doch drauf freuen, den anderen zu erzählen, wie es war. Und Du hast doch mit Lisa und Thomas auch die Stofftiere bei der Verlosung gewonnen. Die möchtest Du ihnen doch sicher so schnell wie möglich bringen, stimmt es?“ lenkt Bettina vom eigentlichen Thema ab. Bettina dreht sich kurz um und sieht, dass Mona verträumt aus dem Fenster in die Baumwelt neben der Autobahn schaut. „Ja, stimmt, hast schon recht. Auf die anderen freue ich mich schon, aber Mathe ist so langweilig bei Herrn Meyer. Da schlafe ich bestimmt ein.“ In dem Moment fängt Thomas an zu lachen und haut kurz aufs Lenkrad. „Siehst Du, Bettina, das genau ist es doch. Das ist das Problem. Da fahren die Kinder einen ganzen Tag lang Karussell und Achterbahn und haben einen Heidenspaß. Aber gelernt haben sie nichts. Und in der Schule sind sie zum Lernen, aber haben absolut keinen Spaß daran. Und dann wundern wir uns, warum wir keine Studenten mehr in den Natur- und Technikwissenschaften haben, wenn da so eine Schnarchnase von Meyer schon in der Mittelstufe alles an Motivation und Interesse zunichte macht. Das darf doch nicht sein. Man müsste ein bisschen Tripsdrill in Schule und Uni bringen, damit Lernen wieder Freude macht.“
Bettina schaut ihrem Mann zu, wie er diese Worte in seiner gewohnt energischen Art rüberbringt. Dann schaut sie wieder geradeaus auf die Fahrbahn. Irgendwie glaubt sie zu meinen, dass dieser letzte Satz nicht nur eine bloße Assoziation von Thomas war. Schon folgt auch der nächste Gedanke ihres Mannes. „Bettina, was denkst Du. Meinst Du, mir würde jemand abnehmen, wenn ich eine neue Lernmethode erfinde? Ich bin doch kein Pädagoge oder Lehrer. Aber ich glaube, ich weiß genau, was es braucht, um wieder Schüler für das Studium der Technikwissenschaften zu begeistern. Schließlich mache ich es ja schon immer in meinen Vorlesungen. Aber das ist nicht genug. Da ist es schon zu spät. Der Nachwuchs muss ja erst mal in die Uni finden. Wir brauchen eine neue Lernmethode mit Theorie und Praxis, mit der Lernen Spaß macht. Und da müssen Unternehmen dazu. So ähnlich wie bei GaBi. Wir brauchen ja Geldgeber aber vor allen Dingen den Kontakt mit den innovativen Organisationen, die guten Nachwuchs brauchen. Es muss doch möglich sein, dass Lernen wieder Spaß macht. Da werde ich verrückt, wenn ich höre, dass den ganzen Tag dumm im Kreis herum Karussell zu fahren den Kindern mehr Spaß macht, als ihren Kopf zu betätigen. Dabei macht beides zusammen so viel mehr Sinn.” Bettina hört aufmerksam zu und nickt mit dem Kopf. „Ich glaube schon, dass man Dir das abnimmt, warum denn nicht? Du bist doch schließlich schon lange genug Professor und Deine Studenten lieben die Vorlesungen. Und sicher kannst Du die GaBi auch als eine Art Vorlage nehmen, ich meine, die Art und Weise wie es sich entwickelt hat mit dem Unternehmen.“ „Ja, genau, genau das ist es. Die beiden Dinge hängen schon miteinander zusammen“, fährt Thomas fort. „Aber es sind schon zwei getrennte Sachen. Das darf man nicht vermischen. Die didaktische Methode muss erst mal an die Schulen. Aber der Unternehmergeist von GaBi, der gehört definitiv dazu.“
Während des Gesprächs geht langsam die Sonne draußen unter. Thomas schaltet das Licht ein und schaut in den Rückspiegel. Auf der Rückbank ist es plötzlich still geworden. Alle drei Abenteurer scheinen sich voller Aufregung in den Schlaf geredet zu haben. Mit leuchtenden Wangen hängen sie in ihren Kindersitzen und schlafen jetzt friedlich vor sich hin. Thomas schmunzelt. Er hatte sich gesträubt, den ganzen Tag mit den Kindern im Park zu verbringen. Zu viel Arbeit lag auf dem Schreibtisch und überhaupt hat er eine Abneigung gegen Freizeitaktivitäten, die offensichtlich Massen anlocken, aber mit Bildung herzlich wenig zu tun haben. Er war froh, dass Bettina kein Problem damit hatte, die Rasselbande den Tag allein zu betreuen, sofern Thomas den Fahrdienst übernehmen konnte. Nun ist Thomas froh, dass er das gemacht hat. Ja, er muss diese Idee einfach verfolgen. Es braucht dringend neue Zugänge zum Lernen. Anders wird man das Problem nicht in den Griff bekommen, dass schon jetzt die Hörsäle in den Anfangssemestern gähnend leer bleiben. Früher gab es Hunderte, die sich im Maschinenbau eingeschrieben haben. Heute gibt es manchmal nur 20. Das kann einfach nicht sein. Wie soll da die deutsche Industrie wachsen und Innovationen hervorbringen, wenn die klugen Köpfe der Zukunft fehlen? „Sag, Bettina, was hältst Du von dem Arbeitstitel „TheoPrax Werkstatt“?, fragt Thomas Bettina. Die denkt nur einen kurzen Moment nach. „Also TheoPrax klingt ganz wunderbar“, gibt sie zurück. „Das “Werkstatt” brauchst Du nicht. Eine Werkstatt kann ja trotzdem Teil davon sein. TheoPrax an sich reicht. Da versteht man sofort, dass es um Theorie und Praxis geht.“ Thomas nickt energisch. Sein Strahlen wird immer breiter.
Nachdem sie noch Thomas bei den Nachbarn abgeliefert haben, tragen Thomas und Bettina die schlaftrunkenen Kinder ins Bett. Es ist mittlerweile schon weit nach 21:00 Uhr. Aber Bettina ahnt schon, was Thomas noch vor hat. Sie geht schnell in die Küche, um ein paar Brote zu schmieren. Als sie sich umdreht, um das Essen an den Esstisch zu bringen, sitzt Thomas schon mit Stift und Papier in der Hand versunken an allerhand Notizen. „Schau, Bettina, wir müssen irgendeine Anfangsaktion finden, damit wir Schulen zum Mitmachen gewinnen. Und die Unternehmen müssen auch mit rein. Es muss etwas Motivierendes sein. Ein Wettbewerb vielleicht. Aber nicht so etwas wie “Jugend forscht”, nicht so arg wissenschaftlich. Etwas Praktisches muss es sein, mit Projektcharakter.” Bettina setzt sich und schiebt Thomas das Brett mit den Schinkenbroten herüber. „Nun iss erst mal noch was“, fordert sie ihn auf, während sie über die Notizen liest. „Was ist mit einem Ideenwettbewerb?“ kommt es ihr. „Man könnte doch eine Ausschreibung machen, wo sich Schulen beteiligten, wahrscheinlich eher nur auf Oberstufenebene.“ „Gute Idee“, gibt Thomas noch mit vollem Mund zurück, „prima! Ja, eine Ausschreibung brauchen wir. Aber Ideenwettbewerb klingt ein bisschen zu allgemein, da fällt uns noch ein griffigerer Titel ein. Aber das Prinzip stimmt. Nur muss es sich auf Produkte beziehen. Es müssen Ideen sein, die sich auch verkaufen lassen. Sonst haben die Jugendlichen keinen Ansporn. Sie sollen ja sehen, dass aus ihren Ideen auch was werden kann — nicht nur Geld, aber eben auch, sonst ist es ja nur keine Fiktion und hat mit Wirtschaft gar nichts zu tun.“ „Na, dann lade doch die Unternehmen ein, dass sie sich die Ideen anhören und dann mit den Schülern umsetzen. Das könnte doch klappen. Du kennst doch selbst von Deiner Industriearbeit und durch GaBi genug. Da machen bestimmt einige mit, auch wenn es erst mal ein Pilot ist“, denkt Bettina weiter. „Prima, Bettina, ja, das denke ich auch, das kriegen wir hin. Fehlt nur noch eine geeignete Schule. Dort muss es Lehrer geben, die auch mitmachen und die Schüler begeistern, nicht solche Schlaftabletten wie der Mathe-Meyer von Monas Schule. Aber das finden wir bestimmt, da bin ich sicher.“
Mittlerweile sind die Brote alle und Bettina und Thomas räumen den Tisch ab. Nun ist es weit nach Mitternacht geworden. Überall liegen Zettel mit Notizen und Zeichnungen auf dem Tisch verstreut. Bettina weiß überhaupt nicht, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Auch sie ist von dem ganzen Herumlaufen des Tages todmüde. Aber wenn Thomas diese Ideen hat, dann ist er nicht zu bremsen. Und ihr selbst macht es auch viel Spaß. Sie ist sicher, dass TheoPrax, wenn es bei dem Namen bleibt, ein Erfolg wird. Die anfänglichen Zweifel von Thomas, dass er als Ingenieur und Nicht-Pädagoge nicht für voll genommen werden würde, scheinen sich auch bei ihm verflüchtigt zu haben. Sie weiß aber auch, dass die Bedenken bestehen bleiben werden. Doch der Erfolg wird ihm recht geben, da ist sie sich sicher, schließlich ist sie es, die täglich die Hausaufgaben der Kinder betreut und sich oft fragt, wie man eigentlich ganz spannende Inhalte so realitätsfern unterrichten kann. „Meinst Du, das Markgrafengymnasium hier in Karlsruhe könnte ein geeigneter Partner für den Piloten sein?“ fällt es Thomas ein, als sie endlich müde die Treppe hinauf Richtung Schlafzimmer wandeln. „Ja, warum nicht, da geht doch auch der Marco, der ältere Freund vom Felix, hin. Da kann ich die Mutter kommende Woche mal ansprechen.“ „Prima, Bettina. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: „Schüler als Erfinder“. Bei diesem Projekt müssen wir ganz besonders darauf achten, dass es in die Zeitungen kommt, damit lokal und regional die Eltern das lesen und ihren Kindern von TheoPrax erzählen.“
