Stefan ist eingenickt. Er hat Glück gehabt, dass er kurz vor Stuttgart die Augen im Zug noch rechtzeitig aufschlägt. Die Strecke von Nürnberg aus, wo er Ingenieurswesen studiert, dauert mit Umsteigen nur knapp zwei Stunden. Heute Morgen war er froh, dass er den Zug überhaupt bekommen hat. Gut, dass er nicht aus Dublin anreisen muss. Da hat Motorola nämlich seinen Firmensitz. Einige Wochen seines Praktikums hat er auch dort verbracht, dazu auch in Wiesbaden, wo die Firma ihren Deutschlandsitz hat. Es ist das Jahr 1996 und Handies sind noch die absolute Kuriosität. Wie es eine Geschichte will, hat die Frau vom Motorola-Chef das erste Handy erfunden, weil sie drahtlos am Strand telefonieren wollte. Belegt ist das Ganze wohl nicht. Schön findet Stefan, den alle Steve nennen, die Geschichte trotzdem. Er liebt Geschichten. Vor allen Dingen im Vertrieb kann man Geschichten sehr gut nutzen, um die Kunden von den Produkten zu begeistern. Heute geht es aber nicht so sehr ums Verkaufen. Vielmehr soll Stefan für seinen Chef eine Software kaufen, damit die Elektronik im Handy nachhaltiger produziert werden kann. Er ist ziemlich gespannt auf das Zusammentreffen mit den GaBi-Leuten. Im Endeffekt war es seine Wahl, die Stuttgarter aufzusuchen. Es gibt weltweit noch zwei andere Anbieter von Ökobilanzen dieser Art — in Frankreich und in Holland. Da liegt Stuttgart doch deutlich gelegener und vor allen Dingen hat er sich eingelesen und findet den ganzheitlichen Ansatz von GaBi absolut herausragend. Das einzige Problem ist nur, dass Stefan Franke ist und kein Schwabe. Aber vielleicht macht das nichts. Man wird sehen.
Die Schaffnerin sagt als nächsten Halt Stuttgart Hauptbahnhof an. Stefan weiß, dass noch etwas Zeit bis zum Ausstieg ist. Aber er steht trotzdem schon von seinem Sitz auf und zieht die schwere Tasche neben sich unter dem Sitz hervor. Dabei rammt er aus Versehen den Fuß seines Sitznachbarn. „Tschuldigung, nicht meine Absicht“, sagt Stefan schnell. Der Sitznachbar schaut kurz und verschränkt dann wieder die Arme vor sich auf dem Bauch, um sein Nickerchen fort zu setzen. „Entschuldigen Sie nochmals, aber ich müsste die nächste raus. Würden Sie mich mal eben…? Danke.“ Stefan hebt mit aller Kraft die Reisetasche und seine Ledertasche mit Unterlagen in den Gang und läuft dann nach vorne Richtung Ausstieg. Man könnte meinen, er schleppt hier eine Bombe mit sich herum. Dabei ist es nur ein Pentium 133, auf dem die ganzen technischen Daten der Mobiltelefonproduktion gespeichert sind. Er hofft, dass die Software der GaBi darauf laufen wird, so dass man dann eine möglichst genaue Ökobilanz der Elektronik aufstellen kann. Das ist jedenfalls das Ziel der Reise. Stefan hat im Vorfeld alles versucht, um die Software vielleicht auf Diskette zu erhalten. Aber das sei unmöglich sagte man ihm. Eigentlich ist es ihm aber auch nicht unrecht, denn so kann er sich die GaBianer mal genauer anschauen.
Als Stefan schließlich am Bahnsteig steht. Sieht er nichts. Er schaut einmal in diese Richtung und einmal in jene, aber kein Mensch ist mehr zu sehen. Die anderen Passagiere sind längst die Treppen herunter ihrer Wege gegangen. „Na, das geht ja gut los an diesem Montagmorgen um noch nicht mal 9:00 Uhr“, denkt sich Stefan. Er holt noch einmal die Notizen vom letzten Telefonat aus der Aktentasche. Doch, da steht es, ein GaBi-Mitarbeiter würde ihn am Bahnsteig abholen, so hatten sie es vereinbart. Stefan schaut noch einmal auf die Uhr. Seit 10 Minuten wartet er nun schon. Es wird langsam zugig und kalt. Er entscheidet, erst mal Richtung Ausgang zu laufen, und zwar zum Parkplatzausgang. Vielleicht hat sich ja doch jemand vom GaBi-Team eine andere Info bekommen und wartet nun dort. Er schleppt die schwere Tasche über der Schulter, aber auch am Parkplatz angekommen sieht es nicht so aus, als wolle ihn jemand abholen. Er dreht sich herum und möchte auf den Haupteingang zusteuern, wo es sicherlich Telefonhäuschen gibt. Dann plötzlich schnelle Schritte hinter ihm.“ Hey, Du, bist Du der Stefan? Der von Motorola?“ Stefan dreht sich herum. Seine Haare stehen vom Wind ganz zu Berge. „Ja, bin ich. Sag mal, Du hörst Dich aber auch nicht an wie ein Schwabe?“ „Ich, nö“, antwortet Paul, Franke, ist doch klar, aus Nürnberg. Sorry dass ich bissl spät bin. Ich musste noch den Computer bewachen bis die Ablöse kam. Wir haben über Nacht wieder eine Rechnung laufen lassen. Das dauert immer. Aber jetzt komm, steig ein.“
Nur knapp 15 Minuten später laufen Sie über den Flur des Büros. Das Team ist seit Gründung der Abteilung auf bereits 15 Mitarbeiter angewachsen. Simon klopft laut an die Tür eines der Büros, in dem Andreas und Frank angeregt über eine Tabelle streiten. „Hey, Männer, kurz mal aufhorchen, der Typ von Motorola ist da, hab ihn gerade vom Bahnhof geholt.“ Andreas und Frank lösen ihre Blicke vom Papier und schauen sich verdutzt an. „Ach Du scheiße“, dämmert es Frank. „Den haben wir ja total vergessen!“ Er winkt Simon zu, dass er den Gast in das kleine Besprechungszimmer bringen soll. Andreas springt auf und steckt sich das T-Shirt ordentlich in die Hose. Simon beobachtet das Schauspiel noch kurz. „Hey, Männer, keinen Stress. Der ist total in Ordnung, scheint mir. Franke natürlich, ist doch klar.“
Ab diesem Zeitpunkt laufen die Gespräche wie von selbst. Stefan lässt die GaBi-Software auf den Rechner spielen und lässt sich alles haargenau erklären. Natürlich hat er sich während des Studiums auch schon mal für Umweltthemen interessiert, aber den meisten Profs. ging es eher darum zu zeigen, wie man Dinge baut, anstatt sie ganzheitlich zu betrachten. Total im Trend lag gerade Roboter bauen. Das lag Stefan nicht sonderlich, aber Elektronik fasziniere ihn. So kam dann auch das Interesse an Motorola und mit dem Praktikum die Möglichkeit, sich auch mehr mit der Nachhaltigkeit und Recyclingfragen der Materialien zu beschäftigen. Doch was die GaBis ihm hier alles an einem Tag erzählen, passt kaum auf eine menschliche Festplatte. Sie erzählen so viel und begeistert, dass Stefan gar nicht weiter überlegen muss, wohin er nach seinem Praktikum will. Am Ende des Tages ist klar: Er will auch zur GaBi. Und die GaBis kommen offensichtlich auch gut mit ihm aus.“Sagt mal“, traut er sich am Ende zu fragen. Wenn ich die Bilanz der Elektronik als Projekt hier bei Euch vorantreibe, ginge das?“ „Na klar“, ist Simons direkte Antwort. „Da musst Du aber eines wissen: Wünsche werden bei uns selbst erfüllt. Wenn Du also zu Deinem Thema promovieren magst und für das Projekt Mittel für eine Stelle einwirbst, dann hätte da bestimmt auch der Professor nichts dagegen. Unsere Datenbank wurde noch nicht mit Daten zu Elektronik gefüttert. Alles was wir bislang haben, ist Kupfer und Gold. Dein Thema ist sauspannend für uns.“
Nur wenige Monate später, hat Stefan bereits sein Dissertationsthema fest gezurrt mit Andreas als Betreuer. Der Arbeitstitel lautet: „Ökologische und ökonomische Bewertung des Materialrecyclings von Elektronikschrott.“ Wie die anderen GaBis aber immer sagen: „Die Dissertation schreibst Du nach 18:00 Uhr.“ Das ist Stefan recht, denn Lust auf akademisches Theorisieren hat er ohnehin nicht. Das heißt aber nicht, dass ihn die Forschung nicht interessiert. Solange diese Wert für die Erweiterung der GaBi-Datenbank schafft, ist er Feuer und Flamme. Das ist nicht schwer, denn die anderen sind ansteckend mit ihrer GaBi-Euphorie. Besonders interessant ist auch mit zu verfolgen, wie sich die Software kontinuierlich entwickelt. Seit ca. einem Jahr gibt es bereits die GaBi-Software 2.0. Sie ist nicht unbedingt wesentlich schneller als die erste Version, aber die Datenbank wächst kontinuierlich. Und diese ist das Herzstück des gesamten GaBi-Projektes, da sind sich alle einig. Kaum jemand auf der Welt hat bereits so detaillierte Daten über die Materialien und Verfahren wie die eingeschworene Truppe aus dem Schwabenland. Stefans Schreibtisch ist mittlerweile übersäht von Computerchips und auseinander gebauten Docking Stations. Kupfer, Gold, Platin — das sind die Materialien, zu denen keiner mehr weiß als sie. „Wir bilanzieren nur, was wir angefasst haben“, sagt Frank immer. Für Stefan ist das das Wichtigste. Es geht darum, mit Machen die Welt zu retten, nicht mit Reden oder Protestieren. Das ist die gemeinsame Philosophie der GaBis. Auch wenn das in der Universität scheinbar mancherorts auf Unverständnis stößt, so macht es das Institut und zunehmend auch die PE immer erfolgreicher. Und wenn es irgendwo klemmt und ihnen wieder einmal ein Professor aus einem anderen Institut an den Karren fahren will, dann hält Thomas ihnen den Rücken frei. Das hat er immer gemacht. Auch wenn er im Tagesgeschäft für Leute wie Stefan nicht so präsent ist. Wenn es ernst wird, ist er da.
Ernst wird es für Stefan auch an diesen Tagen im Herbst, als er gemeinsam mit Andreas auf eine Fachtagung zu Elektronik in Fahrzeugen fährt. Im Zug gehen beide nochmals die Präsentation durch. Stefan erläutert Andi, wie ihn alle nennen, nochmals die neuen Berechnungen, die er erst letzte Nacht hat durchlaufen lassen. Es ist ihm wichtig, dass Andi diese Zahlen nennt und nicht die in dem Entwurfspapier von letzter Woche. „Schau, die Spalte hier mit den Emissionen, die ist absolut zentral. Wir hatten in der ersten Berechnung von letzter Woche einen kleinen Fehler drin. An der Gesamtaussage ändert das nichts. Aber mit den neuen Daten ist es noch überzeugender, dass man ein Vielfaches der Emissionen und der Kosten sparen kann, ganz zu schweigen von dem Recycling, das hier noch gar nicht bis zu Ende drin ist.“ Stefan erklärt dies alles in einer Geschwindigkeit, die nur Insider der GaBi so schnell verstehen. Doch Andi schaut ihn teils ratlos, teils amüsiert an, wie sie da gegenüber in dem 2. Klasse Abteil fachsimpeln. „Wieso erklärst Du mir das alles, Stefan? Du hältst den Vortrag auf der Konferenz.“ Als Stefan das hört, glaubt er zunächst, die Ohren nicht richtig gewaschen zu haben. Er schaut Andi direkt in die Augen mit einem fragenden Blick. Der antwortet absolut nichts. „Wie, ich? Du meinst, ich spreche vor 1,400 Leuten? Ich habe gerade mal Diplom gemacht. Ich bin HiWi.“ Andi scheint das total unberührt zu lassen. „Andreas, ich kann doch nicht… Ich meine… das geht nicht.“ Nun setzt Andreas einen Blick auf, den man bei GaBi-Führungskräften selten sieht. Aber er ist dafür umso durchdringender: „Stefan, was ich meinte: Mit diesem Scheißvortrag, den Du mir hier bislang erklärt hast, wirst Du mit Sicherheit nichts erreichen. Das stimmt. Aber wir haben ja noch drei Stunden bis zur Ankunft. Na, los. Ich werde es nicht erzählen…“
Noch nicht einmal acht Stunden und zwei durchgeschwitzte Hemden später, hat Stefan seine Feuerprobe überstanden. Am Abend sitzen er und Andreas an der Bar im Hotel. Alles ist gut gegangen. Der Vortrag lief rund, das Publikum hat sehr interessiert Fragen gestellt, darunter einige der Koryphäen der Lebenszyklusforschung. Manche davon konnte Stefan noch nicht so klar und professionell beantworten, wie es sicher Andreas oder die erfahreneren im Team gekonnt hätten. Aber das macht nichts. Wichtig ist, er wurde ernst genommen. Ihm wurde zugehört. Und noch wichtiger: Das GaBi-Thema stößt überall auf hohe Resonanz. Viele Stimmen sagen immer, wie weitsichtig, innovativ, aber eben auch pragmatisch der Ansatz sei. Es gibt Stefan wirklich das Gefühl, an etwas zu arbeiten, das nicht nur Zukunft hat, sondern auch Sinn. „Weißt Du, Stefan“, sinniert Andi nach dem dritten Bier. „Wir können schon ganz schön arrogant sein, wir GaBis. Wie Du denen da heute im Vortrag als Grünschnabel die Zahlen um die Ohren gehauen und ihnen gesagt hast, dass sie keine Ahnung haben, wie sehr sie mit ihrem Halbwissen und ihrer begrenzten Berechnung der klassischen Ökobilanzen unseren Planeten aufs Spiel setzen — das muss man sich erst mal trauen. Jetzt bist Du wirklich ganz und gar bei GaBi angekommen.“ Bei Stefan gehen die Worte herunter wie Öl. Er weiß, dass Andreas das ernst meint. Lob wie Tadel sind bei den GaBis immer ernst gemeint, und immer wohlwollend. Es geht darum, voran zu kommen — mit den Projekten, aber auch als Mensch. „Ach, weißt Du“, gibt er Andi zurück. „Arroganz ist doch ein sehr weitreichender Begriff. Nennen wir es einfach Selbstbewusstsein, das auch Fakten basiert.“ Die neuen Biere kommen und beide prosten sich zu.