Der große Besprechungsraum am IKP ist festlich hergerichtet an diesem Donnerstagnachmittag im Mai 2006. Es ist ein großer Tag für Thomas, denn das Institut, das er nun seit 27 Jahren geleitet hat, wird nun nicht mehr „seines“ sein. Auch für den aktivsten Professor muss irgendwann Schluss sein. Der Ruhestand, zumindest offiziell vom Lehrstuhl, ist nicht mehr aufschiebbar. Viele der Weggefährten sind heute gekommen. Natürlich sind die meisten Mitarbeiter von der GaBi-Uni-Abteilung da, vom Fraunhofer und von PE International, wie die Firma mittlerweile heißt. Markus steht drüben neben dem Eingang und unterhält sich mit Prof. Berninger, einem Kollegen vom benachbarten Institut für Bauphysik. Die Tische sind an den Wänden arrangiert und tragen das Buffet für den anschließenden Empfang. In der Mitte sind die Stühle als Auditorium aufgestellt, um den kurzen Ansprachen zu lauschen. Jeder möchte heute mit ihm sprechen und Hände schütteln, aber Thomas hat gemischte Gefühle. Er hatte sich immer vorgestellt, dass das, was er anfing 1989 mit GaBi, nun auch hier an diesem Ort und an diesem Institut weitergeführt würde. Aber dem ist nicht so. „Herr Professor Reiter“, grüßt ihn jemand von hinten. Thomas dreht sich um. „Ach, Herr Tauberts, das ist ja eine Überraschung.“ Thomas ist sichtlich überrascht. „Was machen Sie denn hier? Wir haben uns doch seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesprochen.“ Tauberts lächelt kurz. „Ja, das stimmt, es sind ziemlich genau zehn Jahre. Ich weiß das gut, denn ich habe ein fotografisches Gedächtnis und erinnere die vielen Briefe, die ich damals zu ihrem Fall gelesen und geschrieben habe.“ Thomas schaut etwas verdutzt. Dann schiebt ihn schon jemand Richtung Pult. „Thomas“, sagt Markus, „Du musst jetzt was sagen. Es sind jetzt alle da und es kann losgehen. Auch der Rektor hat vorne Platz genommen.“ Thomas schaut kurz vor in die erste Reihe. „Pah, ist doch mal wieder klar, kommt hier heimlich reingeschlichen ohne mich vorher zu grüßen, Pflichttermin für ihn, typisch“, denkt Thomas bei sich und ist froh, dass ihm die Gedanken nicht laut über die Lippen kommen“.
Während er zum Pult geht, denkt er an Tauberts. Er hat ihn, wenn überhaupt, nur einmal persönlich gesehen. Das war damals 1995/6 während der schwärzesten Tage von GaBi. Damals hätte alles aus sein können. Wieso ist er heute ausgerechnet hier? Ja, er hat dem Ministerium eine Einladung geschickt zu seinem Ausstand. Aber das war mehr aus Anstand als mit der Hoffnung verbunden, dass wirklich jemand aufkreuzen würde. Und dann schon gar nicht Tauberts. Thomas spult seine Dankes- und Abschiedsworte mehr oder weniger gefühllos herunter. Er gibt einige Anekdoten aus den Anfangstagen der GaBi zum Besten, aber eben auch einige wichtige Meilensteine anderer Projekte, denn schließlich war GaBi zwar eines der wichtigsten Projekte, aber eben nicht das Einzige. Auch Faserverbundwerkstoffe, Gelenkendoprothetik, Mikrohärteprüfungen und Polyurethan-Forschung nahmen hier an diesem Ort ihren Anfang. Und schließlich hat das IKP ihn begleitet, auch als er 12 Jahre das Fraunhofer ICT zeitgleich leitete. Aber auch heute kann er nicht nur Jubelworte verstreuen. Das wäre nicht sein Ding. Er hat hier zwar die produktivsten Jahre seiner Tätigkeit verbracht, aber auch die schlimmsten, die ihn damals krank gemacht haben. Daran waren nicht die Studenten oder Themen schuld. Es waren die Steine, die ihm hier von anderen Wissenschaftlern und der Uni-Leitung in den Weg gelegt wurden. Er hatte schon immer Professor werden wollen. Dieser Wunsch blieb auch während seiner Zeit in der Industrie nach der Promotion erhalten. Doch darauf war er damals nicht vorbereitet und kann es auch heute nicht verstehen. Und er wäre nicht er selbst, wenn er das alles hier heute an seinem Abschiedstag einfach verschweigen würde. Aber er hat sich vorgenommen, diese Dinge kurz zu halten und sich nicht hinein zu steigern. Während er sich bei den Stichpunkten aus seinem kurzen Manuskript weiter hangelt, schaut er kurz zu Bettina herüber, die heute auch gekommen ist. Was hätte er ohne sie gemacht in all den Jahren des Kämpfens und Haderns? Damals war zeitweise gar nicht klar, ob er jemals hierher zurückkehren würde.
Nach 15 Minuten ist seine Rede vorbei. Auch die anderen Grußworte und Lobhudeleien sind schneller herum gegangen als so oft. Der Rektor hat die plattesten Plattitüden zum Besten gegeben, die man an einem solchen Tag loslassen kann. Nichts von dem, was er gesagt hat, hat wahre Wertschätzung vermittelt. Viel schlimmer noch, die Wahrheit hat er verschwiegen: Das ganze Institut hier wird zugemacht und die GaBi-Abteilung gleich mit. Im Grunde hat er jetzt erreicht, was er seit einem Jahrzehnt versucht, die erfolgreiche Arbeit hier zunichte zu machen. Aber das ist ihm nur auf dem Papier gelungen. Denn vorne in der zweiten Reihe sitzt Professor Berninger neben Michael Kunze und Simon Leder. Vor ein paar Monaten hat Thomas ihn angerufen und ihm den Vorschlag unterbreitet, die GaBi-Abteilung an sein Institut zu holen und damit auch gleich ein höchst attraktives Drittmittelprojekt zu übernehmen. „Thomas“, hat Günther sofort gesagt. „Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen. Was die Uni-Leitung will, ist eine Sache. Was ich an meinem Institut mache, ist eine andere. Und Dein GaBi-Projekt weiterführen zu dürfen und diese wunderbaren Leute in dem Team weiter zu entwickeln mit diesen Projekten, die heute mehr denn je gebraucht werden, um das Thema Nachhaltigkeit in die Breite zu bringen, das ist nicht nur ein Glück, sondern eine Ehre.“ Die beiden gaben sich die Hand und in den kommenden Wochen waren die Details schnell geklärt. Nach außen hat Thomas also der Order der Uni-Leitung gehorcht, nach innen ist er seinem Gewissen gefolgt und hat den Fortbestand dessen gesichert, was ein Teil seines Lebenswerkes geworden ist.
Als alle schließlich aufstehen und zum Buffet gehen, kann Thomas an kaum etwas anderes denken als daran, auf gar keinen Fall Tauberts entwischen zu lassen. Er sucht kurz unter dem Gewusel von Gesichtern und wird immer wieder von den Glückwünschen einiger Kollegen und Wegbegleiter abgelenkt, über deren Anwesenheit er sich natürlich freut. Aber die Neugier, man kann schon fast sagen, das Rätsel, um Tauberts Worte treibt ihn doch. Schließlich erkennt er Tauberts, wie er mit dem Rektor im Gespräch ist. Es sieht aber eher nach Small Talk denn nach einem ernsten Gespräch aus. Der Rektor steht mit dem Rücken zu Thomas und Tauberts bemerkt ihn. „Ach, Herr Professor Milbert, erlauben Sie, ich möchte doch noch gern ein paar Worte mit Herrn Professor Reiter wechseln“, unterbricht Tauberts. Milbert schaut sich kurz um und nickt dann. „Ja, natürlich. Herr Reiter, alles Gute, ich muss eh weiter zum nächsten Termin. Wünsche Ihnen nur das Beste für Ihren Unruhestand“. Milbert schüttelt flüchtig Thomas Hand und zieht dann samt persönlicher Referentin von dannen. „Herr Tauberts, ich muss Sie das jetzt einfach direkt fragen: Was genau haben Sie vorhin gemeint? Wir haben uns damals doch wenn überhaupt nur einmal gesehen? Ich war damals nicht in der besten Verfassung, aber so gut erinnere ich mich dann doch. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie in den Schriftwechsel mit dem Ministerium und der Hochschulleitung eingebunden waren.“ Tauberts grinst kurz und nimmt einen Schluck Sekt. „Ja, Herr Professor, das stimmt. Aber zu einem gewissen Zeitpunkt hat mir mein damaliger Chef, Minister Günther von Throta , die Sache zur Bearbeitung gegeben. Er wollte sich Ihrer Sache annehmen. Er hatte die, na, nennen wir es mal, schwierigen Sachverhalte und damit einhergehende Bedenken bezüglich Ihrer Nebentätigkeiten und der GaBi-Projekte, aufmerksam verfolgt. Als die Universität dann darum bat, Ihr Institut schleunigst zu schließen, da wurde ihm sehr bewusst, dass etwas geschehen müsse. Er hat dann alle Unterlagen zu Ihren Projekten, insbesondere die mit den namhaften Industriepartnern aus der Automobilindustrie, aufmerksam studiert und mich dann angewiesen, die Wogen bei der Hochschulleitung entsprechend zu glätten.“
Thomas steht für einen Moment völlig verdutzt vor diesem Mann, den er bis eben kaum kannte. Jetzt wird ihm langsam klar, dass er vielleicht ohne ihn heute gar nicht hier stehen würde. Denn damals ging es wirklich um alles. Und er war noch krank. Aber das interessierte hier keinen. Man wollte ihm und der gesamten GaBi-Abteilung an den Kragen. An manchen Tagen dachte er wirklich kurz daran, aufzugeben, was er aber einfach nicht konnte. Er wollte kämpfen bis aufs Äußerste, um die Erfolge der vielen Jahre nicht zunichte zu machen. Aber alles wäre beinahe an der Nebentätigkeitsregelung und aller verbundener bürokratischer Finanzregelungen gescheitert. Dabei brachten die Industrieprojekte der Uni Drittmittel in Millionenhöhe. Das wollte aber keiner sehen. Nur die Einhaltung der Paragraphen samt Fußnoten zählte. „Herr Tauberts, heißt das, dass Sie dann ermöglicht haben, dass die Uni endlich die Verträge anerkennt und einsieht, dass die Nebentätigkeiten meiner Mitarbeiter einwandfrei angemeldet waren und es keinerlei Interessenvermischungen zwischen Institut und PE gab. Das haben Sie ermöglicht? Denn ich weiß bis heute nicht, wie das alles geendet hat. Das Letzte, worum ich in meinem Schreiben gebeten hatte, war ein klärendes Gespräch mit der Uni-Leitung, meinem damaligen Geschäftsführer und mir, um diese Vorwürfe aus dem Weg zu räumen. Dazu kam es nie. Aber Ruhe war dann trotzdem. Wir durften schließlich weitermachen mit einigen kleinen vertraglichen Änderungen. Sie waren das?“ Tauberts schaut verstohlen auf seine Schuhe herunter und stellt das leere Sektglas auf ein Tablett, mit dem eine Studentin, die heute zum Kellnern eingeteilt ist, gerade herumläuft. „Nun, es wäre absolut falsch zu behaupten, dass ich die Initiative ergriffen habe. Das stand mir ja gar nicht zu. Wie gesagt, der Minister persönlich hat das ja angeordnet. Ich habe dann lediglich auf der Arbeitsebene die Dinge so umgesetzt, wie er es befürwortet hat. Das ging mit etwas Korrespondenz und ein paar klaren Worten Richtung Uni-Rektorat einher. Mehr war da nicht. Es freut mich aber, dass Sie das wertschätzen, auch nach so vielen Jahren.“ Thomas schaut Tauberts noch immer leicht sprachlos in die Augen. Dann nimmt er seine Hand und drückt sie, so gut man das eben unter Männern auf einem Empfang wie diesem machen kann. „Danke“. Tauberts nickt und setzt dann zur Verabschiedung an. „Herr Professor, es war mir eine Freude, Sie hier am letzten Tag als Institutsleiter zu besuchen. Ich bin sicher, Ihnen wird auch in Zukunft nicht langweilig werden. Wir ich gehört habe, entwickelt sich TheoPrax prächtig. Wie hat damals einer Ihrer Mitarbeiter mal gesagt? ‚Wünsche werden selbst erfüllt?‘ Ja, ich glaube, so war der Satz. In jedem Fall bin ich sicher, dass Sie sich und anderen mit Ihrer unternehmerischen Haltung noch viele Wünsche erfüllen werden. Machen Sie es gut.“
Der weitere Empfang ist mehr oder weniger Pflichtprogramm. Es dauert nur wenige Stunden bis in den frühen Abend. Die GaBi-Abteilung muss heute noch einen wichtigen Antrag fertigmachen und die meisten müssen daher früher weg. Auch Simon und Frank müssen schnell wieder ins Büro zu den anderen, da die Firma durch unruhige Fahrwasser fährt und jeden Tag ein neues Feuer zu löschen ist. Eigentlich wollten Thomas und Bettina noch mit den Kindern zum Italiener essen gehen im kleinen Kreis. Aber da Felix auf Klassenfahrt ist und die anderen morgen wieder früh raus müssen, muss auch das nicht unbedingt sein. Auch wenn die Freude heute über Tauberts Besuch überwiegt, so bleibt ein bleierner Beigeschmack. Aber man muss nach vorne schauen und das Wichtigste ist, dass die Zukunft von GaBi bei Berninger gesichert ist. Das ist die Hauptsache. Nach dem Abendessen geht Thomas noch mal ins Arbeitszimmer. Er kann es nicht lassen. Er muss irgendwo noch die Unterlagen von damals haben in Kopie. Was hat Tauberts gesagt? Genau zehn Jahre — also muss es in dem Stapel von 1996 sein. Er stöbert kurz durch die Ordner dieses Jahres. Es muss noch ein Teil von 1995 dabei sein, als das große Projekte mit Mercedes war. Und dann wahrscheinlich müsste der Briefwechsel mit dem Rektorat Anfang 1996 gewesen sein. Thomas blättert flink durch die dicken Ordner. Was ist er froh, dass Bettina hier immer geholfen hat, den Überblick zu behalten. Da, mit einem Mal kommen ihm die Briefköpfe bekannt vor. Das ist es. Anschrift ist „Oberregierungsrat am Landesrechnungshof“. Thomas öffnet die Klammer und holt den ganzen Stapel von mindestens 100 Seiten, die dann folgen, heraus. Er kann es nicht lassen und fängt an zu lesen, unterstreicht sogar einige Passagen. Besonders die folgende Passage in der Mitte des Stapels lässt ihn alles noch einmal wiedererleben.