„Simon, Du musst doch einsehen, dass Ihr endlich weiterkommen müsst an der Stelle.“ Louisa rührt ziemlich energisch in ihrem Cappuccino. Sie schaut auf den großen Platz vor dem Siegestor, wo Kinder den Tauben hinterher rennen. Es ist ein sehr warmer Tag im Frühling 2011, eigentlich zu warm für diese Jahreszeit. Wann gab es das früher, dass Cafés wie dieses schon im April die Stühle zum Draußensitzen für ihre Gäste bereitgestellt hatten? Simon scheint ihre Gedanken lesen zu können. „Schau es Dir doch an. Wir sitzen hier ohne Jacke wie in Italien im April. Der Planet heizt sich täglich auf. Und alle tun so, als gäbe es das nicht. Es hat doch noch immer kaum jemand kapiert, auf welcher tickenden Zeitbombe wir sitzen. Und mit GaBi haben wir von Beginn an dazu beigetragen, dass die Industrie als Umweltverschmutzer Nummer 1 ihr Verhalten ändert, ihre Haltung gegenüber der Nachhaltigkeit, nicht nur ein paar Stoffe gegen ein paar andere austauscht, weil es mehr Kohle bringt. Verstehst Du das denn nicht? Denkst Du so ein Manager-Hampelmann aus den USA kann das verstehen? Und der soll jetzt Thinkstep voranbringen? Da lach ich doch.
Simon lehnt sich betont selbstbewusst und sarkastisch lächelnd zurück und klimpert mit den Fingern an seiner Apfelschorle. Eigentlich ist das so gar nicht seine Art, sich gegen Neues und Innovatives zu sträuben. Das sieht auch Louisa, die mit ihrem Latein bald am Ende ist. „Herrgott, Simon. Ich verstehe ja, dass Du Angst hast, dass ein neues Management euren Laden nicht voran bringen könnte. Und ja, ich sehe auch, dass Ihr hochgradig intrinsisch motiviert seid und GaBi quasi als Philosophie verinnerlicht habt, nicht allein als Geschäft. Aber ganz ehrlich: Genau darin liegt doch auch das Problem. Ihr behandelt Euer Geschäft noch immer wie in den Anfangstagen, als Ihr in der Uni ein paar lustige Projektchen angefangen habt und um die Welt gedüst seid. Meine Güte, Simon, Ihr habt jetzt 200 Mitarbeiter und seid wie blöd am Wachsen. Denkst Du nicht auch, dass es an der Zeit ist, mal ein paar Basics zu professionalisieren und noch was dazu zu lernen beim Thema Management? Damit sagt doch keiner, dass Du oder irgendein anderer Geschäftsführer bei der PE und jetzt Thinkstep keinen guten Job gemacht hat.“ Louisa schaut Simon jetzt direkt und fordernd in die Augen. Die beiden kennen sich gut und eigentlich sollten sie hier gar nicht so mehr oder weniger informell über diese geschäftlichen Dinge sprechen. Aber Louisa ist eben keine typische Finanzfrau von einem Private Equity Konzern, genauso wie Simon, wie alle bei GaBi, kein klassischer Manager ist. Die beiden haben sich seit Beginn der Beteiligung des Investors gut verstanden, gerade weil sie immer offen zueinander waren. Aber beide vertreten eben auch und in erster Linie ihre Unternehmen.
Simon starrt in die Milchhaube von Louisas Capuccino, die mittlerweile fast völlig verschwunden ist. Er atmet tief durch. „Ok, hast ja recht, ich bzw. wir sehen das ja auch. Ist ja nicht das Thema. Schließlich waren wir es ja, die Investoren wollten, um schneller zu wachsen. Und wir sind bestimmt keine Geschäftsleute, die sich nicht an Vereinbarungen halten. Aber so wie es jetzt ist, geht es einfach nicht. Es geht nicht, verstehst Du, wir haben es ja probiert. Der Typ ist eine Katastrophe, einfach nicht tragbar, es klappt nicht. Und das hat nichts mit meiner Person zu tun. Das muss ganz klar sein. Ich bin gern bereit, all mein Wissen und meine Erfahrung über Bord zu werfen und drei Schritte zurück zu machen, wenn ich sehe, dass da einer die Firma in einer Weise voran bringt, wie wir es nicht können. Das Problem ist nur: Er kann es nicht! Er versucht es nicht mal. Der ist wie ein Tiger losgesprungen und binnen weniger Monate als Bettvorleger gelandet. So sieht es doch aus. Solche Sprüche wie „ich bin hier doch nicht angetreten, um zu sparen“ und dafür mal locker in Kauf zu nehmen, dass wir Gründer unser Privatvermögen riskieren für die Firma, kannst Du doch nicht einfach wegwischen. Ihr Finanzheinis habt doch die ganzen Zahlen. Überhaupt geht es doch nur um Zahlen. ‚Reporting‘ ist doch quasi das Mantra, auch bei uns schon. Und was sagen die Zahlen? Der Typ hat noch keinen einzigen großen Deal eingefahren, keinen einzigen großen Neukunden. Dafür haben wir jetzt einen gigantischen personellen Overhead von irgendwelchen Personalern und Finanzlern, die 0 Ahnung von GaBi haben, wirklich 0. Und die haben in ihrem Leben noch kein Projekt mit einem Kunden gemacht. Genauso wie unser Freund Mister Miller. Soll er doch mit seinem Bentley mal sonstwohin fahren, am liebsten auf direktem Weg zum Mond…“
Louisa kann sich ein Lachen trotz aller Verärgerung nicht Verkneifen. Wenn die GaBianer sich mal in Rage reden, dann gibt es kein Halten mehr. Das Problem ist nur: sie weiß, dass Simon recht hat. Die Personalauswahl mit Miller als Geschäftsführer hat nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Obwohl Miller durch sämtliche Headhunter Mühlen und Assessments gegangen ist, passt es einfach nicht. Er hat keinen Draht zu der Gründermannschaft. Er ist kein per se schlechter Manager, seine Referenzen stehen für sich. Aber alle hatten unterschätzt, dass die ursprüngliche GaBi-Kultur auch nach dem schnellen Wachstum und der aktuellen Unternehmensgröße nach wie vor der größte Treiber ist. Und diese Kultur macht Miller zu schaffen bzw. macht den GaBi-Leuten zu schaffen, dass Miller auf Kultur einfach keinen Wert legt. „Ok, Simon, ich sehe es ja. Und ja, wir haben seitens der Investoren wahrscheinlich auch einfach nicht so gut aufgepasst bei der Auswahl, obwohl wir die neusten Methoden und Assessment-Verfahren verwendet haben, um den Besten für Euch zu finden. Nur hilft uns das jetzt alles nicht weiter. Was Du mir hier erzählen willst, ist so was wie „back to the roots“. Gib dem alten Kapitän und der alten Mannschaft komplett wieder das Ruder in die Hand und dann nimmt der Dampfer wieder Fahrt auf. Tut mir leid, Simon, aber so geht es nicht. Es gibt Vereinbarungen und in dem Investorenvertrag steht ganz klar, dass es einen neuen CEO von extern gibt bzw. neue Manager auf C-Level, die dazu beitragen, dass die Wachstumsziele erreicht werden. Genau deshalb nur habt Ihr Investorengelder bekommen. Da führt jetzt nun mal kein Weg drumherum. Und mir fehlt ehrlich gesagt auch die Einsicht, dass Ihr, bei aller Liebe und Erfahrung, die Ihr seit über 20 Jahren in GaBi steckt, auch bereit seid, Eure blinden Flecken zu sehen. Ich sage nur mal als Stichwort Finanzen. Du kannst ja wohl nicht verhehlen, dass Eure Buchhaltung und auch Eurer Personalmanagement weiter auf einem Level ist, wo es vor 10 Jahren mit Sicherheit auch schon war — und damit meine ich Garagen-Startup-Level, nicht investorenwürdiger Mittelstand.“
Simon winkt der Bedienung und bestellt sich noch eine Apfelschorle. „Du auch noch was?“ Louisa winkt ab. „Ok, im Grunde haben wir doch gar keine Differenz in der Sichtweise. Ja, wir haben bei ein paar Gebieten Nachhol- bzw. Entwicklungsbedarf. Und ja, wir haben beide mal gedacht, dass Miller das richtigen kann. Nun haben wir beide festgestellt, dass der feine Herr aus der Londoner Finanzmetropole, der ohne Chauffeur wahrscheinlich noch nicht mal den Müll wegbringt, ein faules Ei ist und das nicht schafft, egal, welche tollen Zeugnisse von Business Schools und Referenzen er mitbringt. Möge er vielleicht die Deutsche Bank sanieren können oder IBM den größten Coup erwirtschaften, bei Thinkstep in Stuttgart hat er eine 6 im Zeugnis — basta. Ist egal, wieso, weshalb, warum. Wenn ich dem Typen nur auf dem Flur begegne, kriege ich Reflexe, ihm seine fein gebügelte Krawatte einmal mehr um den Hals zu drehen. Und ich bin mit Sicherheit kein aggressiver Typ, Louisa, das weißt Du. Ich habe echt alles probiert. Die Kumpeltour, die seriöse Tour, ich war mit ihm einen trinken, alles fein. Er ist so eloquent und kann sich so gut verkaufen, da kommt keiner von uns mit. Aber es geht halt trotzdem nicht so weiter, egal, wie schön man sich den Mann reden mag. Jedes Meeting in der Leitung ist eine absolute Katastrophe. Er labert nur von irgendwelchen Charts und kann einfach keinen Vertrieb. Wohlgemerkt hatten wir ihn deshalb mal geholt, als Vice President of Sales, wenn Du Dich erinnerst. Dass er nun sogar CEO geworden ist, war schon der erste große Fehler, der bei uns die Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen.“ Louisa schaut zu, wie die Bedienung die bitzelnde Apfelschorle vom kleinen Silbertablett nimmt und gegen das leere Glas vor Simon austauscht. Mittlerweile ist die Sonne noch strahlender geworden und Passanten laufen sogar in kurzen Hosen auf dem belebten Platz umher. „Ok, Simon. Ich trage das zurück an unser Board. Wir werden noch diese Woche eine Entscheidung treffen. Wenn mein Chef die Lage ähnlich einschätzt, dann denke ich, könnt Ihr Miller den Laufpass geben, müsst dann aber mit Sicherheit eine klare Alternative und neue Marschrichtung vorgeben. Es wird weiterhin nicht ohne Externe auf oberster Managementebene gehen. Das steht in den Verträgen und dabei bleibt es auch. Ich selbst bin auch überzeugt davon, dass Ihr das braucht. Ihr solltet uns dann nur, neben all der Emotionalität, die Ihr immer in die Sache steckt, auch ganz klare Faktoren benennen können, die für die Suche nach einem Nachfolger relevant sind, damit sich der Fehler nicht wiederholt. Fehler machen ist das Eine, aus Fehlern zu lernen das Andere. Das werden auch wir uns hinter die Ohren schreiben.“
Simon scheint dies für einen vernünftigen Vorschlag zu halten. Er sieht nur eine Gefahr: die Zeit. „Louisa, aber diese Woche muss dann auch diese Woche heißen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir jede Woche Hunderttausende an Geld verbrennen durch diese ganzen Turbulenzen gerade. Wir stecken seit Monaten nur Geld in diese ganze Umstrukturierung und Reorganisation und was auch immer. Das ist ja alles ganz schön und gut, aber unser Geschäft leidet. Verstehst Du? Thinkstep und vorher PE ist nur das geworden, was es heute ist, weil wir immer den absoluten Fokus auf unsere Projekte und unsere Kunden hatten. Nur so kam Geld und damit auch Erfolg und Wachstum in die Kasse. Wer da am Ende die Rechnung tippt oder einen Bericht schreibt, ist erst mal Nebensache. Jeder konnte immer alles — aber das wichtigste waren und sind die Projekte. Es geht um die Software, die Daten, die Beratung — all das, was eben GaBi ausmacht. Und seitdem dieses ganze Investorenkarussell sich dreht, haben wir alle das Gefühl, dass wir gar nicht mehr das machen, wofür wir eigentlich brennen. Wenn Du Frank oder Sandra fragst, wann sie das letzte Mal einen Aufsatz zu den neuen Entwicklungen beim Carbon Footprint gelesen haben, kannst Du ihnen beim Überlegen zuschauen. Sie haben kaum noch Zeit für das Wesentliche. Stattdessen stecken wir hier in Meeting nach Meeting fest und dann ist der Tag auch schon vorbei. Wenn wir nicht aufpassen, dann frisst das die Qualität unserer Leistung und damit auch die Innovationsfähigkeit. Wenn das passiert, dann können wir gleich zumachen. Was ich sagen will: Es muss jetzt schnell etwas passieren. Wir hatten ein Jahresziel und nach sechs Monaten haben wir nur darauf geschaut und mal so eben zwei Millionen verbrannt. Früher hatten wir solche engmaschigen Ziele nicht und haben dagegen Millionen verdient. Da passt was nicht.“
Louisa schaut auf die Uhr. „Simon, ich muss gleich zur U-Bahn und wieder ins Büro. Ich denke, Dein Punkt ist rüber gekommen und ich danke Dir, dass Du den Weg hier direkt nach München gefunden hast, um die Sache mal in Ruhe zu besprechen. Ich sehe, was für Euch alle auf dem Spiel steht. Du musst eben nur auch sehen, dass wir ein Fond sind und auch wissen, was wir tun. Jedes der Unternehmen, in das unsere Investoren Geld stecken, hat individuelle Sorgen und Nöte und natürlich auch viel Leidenschaft für die Produkte. Wir können und müssen das mit etwas Abstand betrachten und eben auch die Finanzdaten als das sehen, was sie sind: Indikatoren, um Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Und das meint eben in allererster Linie schnelleres Wachstum, sonst hättet Ihr Euch Fremdkapital auch sparen können. Darin lag ja schließlich Deine ganze visionäre Kraft, die Euch so viel Fortschritt beschert hat. Ich werde das also zu meinem Chef und dem Board bringen und Du kannst darauf vertrauen, dass es eine schnelle Entscheidung gibt und Ihr dann tätig werden könnt. Wenn es aus irgendeinem Grund so ausgehen wird, dass Ihr Miller noch eine Weile behalten sollt, dann musst Du auch das schlucken. Das ist nun einmal so. Das hättet Ihr Euch vorher überlegen sollen. Man kann nicht alles haben. Wenn Ihr weiter in Eurem eigenen Saft hättet brüten wollen, dann hättet Ihr das gern tun können. Dann könnt Ihr Euch eben auch das Thema große Firma bauen abschminken. Ich fände das schade, denn das wäre, soweit ich Dich und all die anderen GaBianer kennen gelernt habe, überhaupt nicht Eure Philosophie. Wenn Ihr es wirklich ernst meint mit dem Thema Nachhaltigkeit, und davon brauchst Du mich nicht zu überzeugen, dann liegt es in Eurem Interesse, dass Eure Software von vielen Firmen auf der Welt genutzt wird und noch mehr Beratung in dieser Hinsicht auf Basis Eurer Daten von Firmen genutzt wird. Das sollten wir wohl nicht aus dem Blick verlieren.“
Als Louisa den letzten Satz beendet hat, sind beide schon im Aufstehen begriffen. Louisa nimmt sich ihren Trenchcoat über den Arm und schnappt sich ihre Tasche. Simon rollt den kleinen Trolley neben sich her. Beide laufen gemeinsam Richtung U-Bahn-Station — schweigend. „Musst Du auch zur Bahn?“ fragt Louisa. „Nein, ich muss Richtung Innenstadt, da ist mein nächster Termin. Hat mich sehr gefreut, dass Du Dir Zeit genommen hast, um die Lage noch mal von mir persönlich zu hören. Wir wollen alle nur das Beste für das Unternehmen, das weißt Du. Und ich bin der Erste, der sein Ego hinten anstellt, um die Firma voran zu bringen, das weißt Du auch.“ „Ja,“ gibt Louisa nickend zurück, „das weiß ich. Ihr seid nur einfach schon eine ganz besondere Nummer Ihr GaBianer. Damit hat man es im Investment-Alltag auch nicht jeden Tag zu tun. Manchmal wünschte ich mir schon, dass Ihr etwas mehr mainstream und etwas weniger weltverbesserlich unterwegs wärt. Das würde einiges einfacher machen, besonders für die Investoren.“ In dem Moment lächelt Simon nur. „Weißt Du, bei GaBi gab es immer einen Spruch, der kommt noch von unserem Gründervater: ‚Wünsche werden selbst erfüllt‘. Bei Deinem geäußerten Wunsch kann ich Dir bestimmt nicht helfen.“ Daraufhin schmunzelt Louisa ein letztes Mal, drückt Simon die Hand und dreht sich um, um die Treppe Richtung U-Bahn hinunter zu gehen.