Sandra ist früh dran in diesen Tagen. Sie drückt auf den Knopf mit dem Unlock-Symbol am Autoschlüssel und das Licht am Peugot flackert kurz auf und erleuchtet das Parkhaus unter dem Bürogebäude in Echterdingen. Manchmal, wenn sie hier morgens hinfährt, dann denkt sie noch an das große Umzugsjahr 2002, in dem sie hier endlich ihr „headquarter“ aufgeschlagen haben, wie die Amerikaner sagen würden. Damals gab es endlich Platz auf zwei Etagen für die PE, die dann Thinkstep wurde, sowie für die Mitarbeiter der GaBi Uniabteilung und Fraunhofer. Wer hätte damals gedacht, wie viele Höhen und Tiefen sie noch in diesem Gebäude durchmachen würden? Sandra nimmt die Treppen hoch in den zweiten Stock und dreht den Schlüssel im Schloss. Es ist kurz vor 7:00 Uhr. Früher in den Anfangsjahren der GaBi hat man meist noch Kollegen angetroffen, die sich die Nacht mit einer Berechnung oder einem Drittmittelantrag für ein neues Projekt um die Ohren geschlagen hatten. Diese Zeiten sind glücklicherweise heute vorbei. Aber die Geldsorgen erledigen sich im Unternehmertum nie, zumindest bis vor kurzem nicht. Ist Sandra heute noch Unternehmerin, nach all dem, was jetzt neu ist? Sandra überlegt für einen kurzen Moment. Sie hat sich noch nie viel aus Labeln gemacht. Aber ihr ist auch klar, dass die Entscheidungen der letzten Wochen Auswirkungen haben werden auf alle hier. Sie haben das bewusst entschieden und aus voller Überzeugung. Aber trotzdem bleibt ein Quäntchen Unsicherheit, ein großes sogar. Denkt man an die vorangegangen erfolglosen, geradezu desaströsen Erfahrungen mit Investoren, ist dieser Verkauf jetzt eigentlich eine Guerilla-Aktion. Immer, wenn sie vorher die Zügel aus der Hand gegeben haben, ging es schief. „Ach, nun denk nicht so schwarz“, ermahnt sich Sandra, als sie die Jacke über den Ständer neben der Tür hängt und den Computer hochfährt. Ihr gegenüber an der Wand steht noch ein altes Rollup der PE. Auf dem Schrank liegt ein gelber Bauhelm. Sandra muss grinsen, als sie diese Relikte der GaBi-Geschichte voller Melancholie anschaut. „Der Mensch hängt immer irgendwie an der Vergangenheit“, denkt sie bei sich, „sogar Ingenieure“.
Sie schaut, ob der Rechner auch wirklich hochfährt und steuert auf den Flur zu, um in der offenen Küche einen Kaffee zu machen. Sie hat sich heute schicker angezogen als an anderen Tagen. Der Rock ist schick, aber trotzdem „casual“, wie es heute neudeutsch heißt. Das Top und der Schal passen exakt zueinander. Die Zeiten von Schlabberpulli und Jeans sind schon lange vorbei bei GaBi. Trotzdem fühlt sie sich heute irgendwie verkleidet. Der ganze Tag wird vollgepackt sein mit Meetings mit der neuen Geschäftsführung. Und irgendwie hat sie das Gefühl, dass sie die professionelle Distanz heute besser wahren kann, wenn zwischen ihr und diesen neuen Firmenlenkern etwas Stoff ist, der ihr zusätzliches Selbstbwusstsein gibt, auch wenn sie weiß, dass das eigentlich völliger Blödsinn ist. Gerade letzte Woche noch hat sie bei einem Frühstück mit weiblichen Führungskräften darüber geredet, was „frau“ im Business so alles über sich und die Welt weiß und dann trotzdem in typische Frauenfallen tappt. Die Frage der Klamotten gehört mit Sicherheit dazu. Männer machen sich einfach null Gedanken darüber, wie genau welche Klamotten auf ihre Geschäftspartner wirken, zumindest die GaBi-Männer hat das nie gejuckt. Na ja, gleichsam weiß Sandra, dass GaBi-Männer auch irgendwie anders sind als alle anderen. Das liegt eben an GaBi selbst. Diese Firma ist eben nicht wie alle anderen „global player“. Und doch ist sie das geworden, nicht nur auf dem Papier. Das Team ist nach den harten Jahren, die im Zuge der Investoren und Managementkrisen ins Land gegangen sind, wieder auf ??? Leute gewachsen. Es gibt Büros auf der ganzen Welt und Wachstumsraten im zweistelligen Bereich. Mehr kann man eigentlich nicht erreichen, gerade wenn man bedenkt, dass sie mehrere Male knapp vor dem Ende standen. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, hatte Simon vor 2 Jahren gesagt. Jetzt müssen wir den Exit angehen“. Frank hatte damals sofort genickt. Und sie auch. Sie alle waren fertig von den harten Jahren, als kaum einen Tag klar war, ob sie das Ruder noch rumreißen könnten, ob sie ihre eigenen Managementfehler wieder ausbügeln könnten. Dabei hatten sie selbst beim Managen kaum Fehler gemacht. Nur hatten sie eben den falschen Managern getraut. Ob das diesmal wieder so sein wird?
„Morgen!” Sandra zuckt kurz zusammen. Sie hatte Frank überhaupt nicht bemerkt. „Auch schon so früh hier?“ Sandra bemerkt, wie gezwungen gelassen Frank klingt. Sie kennen sich nun schon seit annähernd 15 Jahren. Damals kam Sandra aus Potsdam von der Uni und hatte gerade ihr Diplom in Geologie in der Tasche. Was man damit machen konnte, war ihr damals selbst schleierhaft. Aber, dass sie etwas mit Umwelt hatte machen wollen, das war ihr schon klar. Da war die GaBi-Abteilung der Uni natürlich genau der richtige Ort. Frank war damals ihr Chef gewesen. „Heute bist Du meine Chefin“, neckt sie Frank oft. Zumindest auf dem Papier stimmt das, aber im täglichen Leben spielt das keine Rolle. Sie sind nie danach gegangen, was irgendwo auf dem Papier steht. Sie wussten immer, dass sie durch das Band verbunden sind, dass sie an GaBi und der Vision verbindet, wirklich einen Beitrag dazu zu leisten, dass die künftigen Generationen auf einem Planeten groß werden, der sich nicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Ob das gelungen ist, daran zweifelt jeder mal. Das ist aber kein Grund, damit aufzuhören. Frank steuert den Hängeschrank über der Spüle an und sucht sich seinen Lieblingstee raus. Himbeertraum mit Vanille. Sandra schaut ihm mehr oder weniger gedankenverloren zu, während er den Wasserkocher anstellt. „Frank, ich habe kein gutes Gefühl vor dem Meeting mit den Big Bossen heute. Irgendwie stehe ich manchmal auf und denke, wir haben einen riesen Fehler gemacht. Die wollen unsere Software, sonst nichts. Ja, das wussten wir und wir wollten es so. Weil es besser ist für uns alle, damit wir endlich mal wieder atmen können. Aber ich habe Schiss, dass alles damit irgendwie umsonst war. GaBi hat immer von der Beratung gelebt. Die Software lief nur mit Beratung. Die Daten kommen aus den Projekten. Sie gehen da jetzt einfach mit dem Skalpell ran und wollen auf Teufel heraus skalieren. Ich weiß nicht, ob ich da was ausrichten kann, Senior Management hin oder her. Wir gehören jetzt ihnen, Frank, so ist es jetzt nun mal.“
Frank nimmt den Teebeutel und schüttet das dampfende Wasser in die Tasse. Beide starren in die dampfende Tasse. Für einen Moment scheint es, als wolle niemand etwas sagen. Doch Sandra weiß genau, was Frank sagen wird. Er sagt nämlich genau nicht das, was man gern hören würde. Es wäre schön, wenn Frank jetzt sagen würde, dass alles, was Sandra gerade durch den Kopf geht, völliger Quatsch ist. Und, dass die Amerikaner doch ganz anders sind als andere amerikanische Firmen und dass ihnen wirklich etwas am Thema Nachhaltigkeit liegt. Und auch wäre es schön, wenn Frank ihr versichern würde, dass das neue Management wirklich ein Auge hier auf die Menschen in der Firma wirft und die ganze jahrzehntelang Expertise schätzt. Und noch so vieles mehr könnte man nun sagen, damit Sandra das hört, was ihre Nerven beruhigen könnte. Doch sie weiß, dass das nicht Frank ist. Er sagt nichts, nur um das zu sagen, was andere gern hören würden. Überhaupt war das nie etwas, das GaBis jemals praktiziert haben. Vor einer Weile hat Simon ihr mal von einer Simon Jackson Doku erzählt. Darin sagt der spätere King of Pop noch als Kinderstar „if I don’t mean it, I don’t sing it“. Das war auch immer ihr Credo. Wenn sie nicht hinter einem Projekt gestanden haben, zumindest ansatzweise, dann haben sie es nicht gemacht, egal, wie hart die Zeiten wirtschaftlich waren. Sie haben gelernt, dass einem das immer irgendwann um die Ohren fliegt, wenn man einen Deal eingeht, nur aus Mangel an Alternativen oder halbherzig. Und genauso unerbittlich und unbestechlich ist Frank weiter. Er schaut Sandra über die Schulter an, die eine Hand noch auf die Ablage neben der Spüle gestützt. Mit der anderen Hand zuckelt er am Teebeutel. „Du hast mit alledem Recht, Sandra. Du wirst das trotzdem gut meistern. Es war richtig, dass Du diese Position annimmst und ich mich mit Content Development beschäftige. Du kannst in diesen Laberrunden mehr erreichen als ich. Du hast gesehen, wie sie mit Simon umgegangen sind. Meins ist das nicht. Wenn hier jemand was für uns reißen kann, dann bist Du das.“
Als Sandra wenige Minuten später vor ihrem Rechner sitzt und noch einmal die Charts für die Gespräche heute durchgehen will, sieht sie in der Inbox die Pressemitteilung der neuen Muttergesellschaft. Es ist noch immer ungewohnt, den neuen Firmennamen in der Adresse zu sehen. Auch ist es ungewohnt, eine solche Meldung über das zu lesen, was bis vor kurzem „ihre“ Firma war, die Firma der ursprünglichen Gesellschafter, die aus der ehemaligen PE Anfang der 2000er Jahre und fünf Mitarbeitern einen globalen Marktführer gemacht haben.
Nemesis Completes Acquisition of thinkstep, a Leading Sustainability & Product Stewardship Software Company
By Nemesis’ Editorial Team | September 16, 2019
Detroit, MI (Sept. 20, 2019) — Nemesis, a global provider of Risk Management software has acquired thinkstep, a Stuttgart, Germany-based software and information services company that specializes in Corporate Sustainability. The deal, announced in July, was completed after German regulatory authorities approved the acquisition.
thinkstep offers three types of software solutions: GaBi for product sustainability, which is the sector’s most comprehensive lifecycle analysis tool and content offering worldwide; SoFi for corporate sustainability; and IMM/CPM, BOMcheck and EC4P, which is a suite of product compliance software that offers end-to-end capabilities for the supply chain, product design, manufacturing and end-of-life periods.
“We are very excited to be joining the Nemesis family,” said Paul Johnson, thinkstep’s CEO. “Adding our solutions and extensive regulatory database and expertise to Nemesis was a natural fit, and we can’t wait to get started collaborating together.”
Terms of the deal were not disclosed.
Sandras Blick verharrt auf dem Bildschirm. Wenn sie das so liest, klingt das alles sehr gut. Vielleicht ist sie einfach wirklich zum Hypochonder geworden, wenn es darum geht die künftige Gesundheit der Firma zu sichern. Es gab keine Alternative, zumindest nicht innerlich. Sie mussten dafür sorgen, sich abzusichern, auch und gerade finanziell. Damals in den Anfangstagen hatten sie alles auf eine Karte gesetzt. Sie hatten Privatkredite aufgenommen, nur um die Firma damals aus der Insolvenz zu retten und Thomas mit einer Spende für TheoPrax zu kompensieren. Danach hatten sie nie primär ans Geld gedacht, mussten aber jede Sekunde als Unternehmer daran denken, wo der nächste Euro herkam, um die Mitarbeiter zu bezahlen und schließlich auch ihre eigenen Familien abzusichern. Das ist etwas, das stellen sich junge Startup-Gründer vielleicht so einfach und frei vor. Tatsächlich aber ist es eine große Last. Ja, mit der lernt man umzugehen. Aber am Ende sollte dann auch irgendetwas herauskommen, damit man nicht sein Leben lang bis zum Umfallen damit leben muss, dass man den Moment verpasst hat, auch los zu lassen. Und genau das hatten sie 2018 entschieden, als sie sich auf die Suche nach Käufern machten. Simon hatte damals recht, dass es der richtige Moment für einen Exit war. Sie hatten alles wieder im Griff und waren attraktiv. Und vor allen Dingen waren sie auch irgendwie alle an einem neuen Punkt. Schon längst waren nur noch eine Handvoll vom ursprünglichen GaBi-Team aktiv im Geschäft. Neben ihr, Frank und Simon waren es Paul und Stefan. Sie alle brennen noch heute für die GaBi-Projekte. Aber an manchen Tagen muss sie sich auch eingestehen, dass da vielleicht noch neue Aufgaben auf sie warten, an die sie sich vielleicht nie getraut hat zu denken, weil GaBi immer irgendwie an erster Stelle kam. Vielleicht ist es jetzt einfach an der Zeit, die Dinge laufen zu lassen, wo auch immer sie hinführen. Jeff Bezos soll in einem Interview gesagt haben, dass Firmen seiner Meinung nach heutzutage nur 30 Jahre leben, dann sind sie durch. Wenn das so ist, dann sollte man wohl nichts nachtrauern. Natürlich sind das schwarze Gedanken, aber vielleicht muss man sie einfach zulassen. Sie haben jetzt nicht mehr die Verantwortung. Sie sind im Management, aber sie sind nicht mehr die Inhaber. Und Sandra weiß, dass sie alle seit dem Verkauf und der Unterzeichnung der Verträge besser schlafen, ob sie es nun sagen oder nicht. Da muss man das, was sie in den zahlengetriebenen Meetings mit den Amerikanern nun erlebt und der unglaublichen Härte, mit der sie manchmal über Dinge reden, von denen sie kaum Ahnung haben, wohl einfach geschehen lassen.
4 Phasen der technischen Produktentwicklung
– Produkt entwickeln, das noch keiner hat
– Produkt testen an Bedürfnissen von Pionier-Kunden
– generelle Kundenwünsche für Alle” produktisieren und verallgemeinern, spezielle Kundenwünsche für Einzelne “on Demand” umsetzen
– Produkt verfeinern, do dass alle haben “wollen/müssen”
„Sandra, komm, los, die sind schon da“, Frank steht plötzlich vor ihrem Schreibtisch. „Ich habe schon den Beamer im Besprechungsraum angemacht. Hast Du die Charts zu den Quartalszahlen und den Lizenzen? Die hab ich irgendwie nicht, zumindest nicht die, die wir gestern noch mal mündlich durchgegangen sind.“ Sandra schaut schnell den Stapel Papier durch, den sie gestern Abend noch ausgedruckt hat. „Ja, ist drin“, sagt sie kühl. „Kriegen sie als Handout. Dann können sie ihre schönen Kurven und Excel-Sheets schwarz auch weiß bewundern“. Sandra nimmt ihre Tasse, klemmt sich Papier und Laptop unter den Arm und macht sich auf in den Besprechungsraum. Frank läuft vor ihr. Aus einem der anderen Büros im hinteren Bereich kommt Stefan herausgestürmt und gibt ihr ein „toi, toi, toi“ auf den Weg. Was auch immer das heißen möge. Sie fühlt sich etwas, als sei sie auf dem Weg zum Schafott. Dabei geht es hier eigentlich nur um ein ganz normales Strategiemeeting. Aber was ist schon normal, seitdem dies nicht mehr ihre Firma ist? Im Grunde ist es auch egal. Sie ist gut vorbereitet und wird auch dieses Mal in einigen Sachfragen nicht mit sich reden lassen. Ja, die Firma gehört nicht mehr ihnen. Aber sie gehören deshalb noch lange nicht zu den Leuten, die sich und die eigene Expertise einfach so schlucken lassen. Sandra weiß noch, wie Markus beim letzten Telefonat so besorgt und teils sogar beschuldigend geklungen hat. „Ihr müsst ja wissen, was Ihr wollt“, hat er gesagt. In dem Gespräch hat sie ihm mal wieder erklären müssen, warum ein lange beschlossenes Projekt weiter nicht beginnen kann, da die Amerikaner die Rechte für die Daten nicht freigeben bzw. sie schlichtweg die Daten nicht austauschen können zwischen Nemesis und der Uni. Früher war so etwas noch nicht einmal der Rede wert. Immer wurde alles geteilt, weil alle davon mehr hatten — vor allen Dingen mehr Wissen, was immer der Kern an der GaBi-Innovation war. Heute ist das anders. Heute braucht es für jede Kleinigkeit eine Unterschrift und ein ganzes Legal Department, was sich mit irgendwelchen Paragraphen rumschlägt. So ganz nach dem Motto „es könnte ja jemand auf die Idee kommen, die Katze in die Mikrowelle zu setzen und auf on zu drücken.“ Das soll dann bitteschön nicht bei Nemesis passieren. Sie weiß, dass Markus sieht, wie schwer sie sich mit der neuen Firmenkultur und der Policy tun. Aber sie weiß auch, dass die Fraunhofer und Uni-Leute ihnen das irgendwie auch vorwerfen. Es hilft aber nichts. Alles hatte seinen Sinn und es hat eben auch seinen Grund, warum Markus in der Uni geblieben ist und sie die Firma aufgezogen haben. Also hat es auch einen Sinn, warum sie jetzt hier gleich den ganzen Tag in Meetings sitzen wird und den Amerikanern erklärt, warum Datenteilen und Beratung Sinn machen — nicht nur für die Umwelt, sondern auch und gerade fürs Geschäft. Das jedenfalls wünscht sie sich für den heutigen Tag. Und wenn das Motto von Thomas weiterhin Gültigkeit hat, wonach man sich Wünsche selbst erfüllt, dann wird sie auch wieder einen Weg finden, die GaBi-Fahne und den alten Spirit hoch zu halten.