Die neue Mitarbeiterin der Pressestelle, Julia Werner, ist sichtlich gut vorbereitet. Schon eine halbe Stunde lang löchert sie Marc Domherr mit allen möglichen Fragen rund um seine neue Studie, die gerade zur Publikation im namhaften International Journal of Life Cycle Assessment angenommen wurde. Sie trägt den Titel “Life‑LCA: the first case study of the life cycle impacts of a human being.” Es ist die erste Ökobilanz eines einzelnen Menschen. Gemeinsam mit mehreren Kollegen hat er für einen “Spinner”, wie er sich selbst manchmal nennt, das zuvor unmöglich geglaubte ermöglicht. Und das nur mit Hilfe von GaBi. „Davor gab es so etwas ja nicht“, erklärt Marc geduldig Werner, die flink alles auf ihrem iPad mitschreibt. „GaBi war ja zunächst für Produkte und Verfahren entwickelt. Später gab es dann SoFi, die Nachhaltigkeit auf Unternehmensebene errechnet. Aber den ökologischen Fußabdruck eines einzelnen Menschen? Das hat noch keiner vorher errechnet. Denn es ist schlichtweg unglaublich komplex.“
Werner will daraufhin wissen, wie genau das vor sich gegangen ist. Markus ist mittlerweile geübt darin, wissenschaftliche Zusammenhänge so einfach und klar wie möglich darzulegen, damit sie auch Zielgruppen verstehen, die nicht tief im Thema stecken. Auch das ist ein Resultat seiner eigenen GaBi-Geschichte. Im Jahr 1997 beendete er seine Promotion zum Thema „Zielabhängige Ökobilanzierung am Beispiel der industriellen Teilereinigung“, bei der Thomas Zweitgutachter war. Danach verbrachte er einige Zeit in leitender Position im Umweltmanagement bei Daimler. Besonders prägend aber waren für ihn die Jahre, die er für und mit GaBi in Japan verbringen durfte. „Wir haben ja bei GaBi immer über den Tellerrand geschaut, nicht nur thematisch, auch international. Japan ist für mich eine zweite Heimat geworden. Ich habe als Projektleiter für die PE damals das Joint Venture Asien in Tokyo vorangetrieben. Seitdem bin ich mindestens einmal im Jahr noch dort“, erzählt Marc seiner aufmerksamen Zuhörerin, als es um seine eigene Geschichte hinter der Faszination mit Lebenszyklusanalysen und Ökobilanzen geht. Die Praxis und die enge Zusammenarbeit mit der Industrie waren und sind immer Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit geblieben. 2007 wurde er dann als Universitätsprofessor und Leiter des Fachgebietes Sustainable Engineering am Institut für Technischen Umweltschutz berufen. In dieser Position nutzt er GaBi weiter und bringt vor allen Dingen Studierende und Nachwuchsforscher/innen mit der Methode in Verbindung oder zusammen. „Die Stärke von GaBi war von Anfang an die Weitsichtigkeit bezüglich des Themas Ökobilanzierung, aber eben nur in der Verbindung mit der wissenschaftlichen Basis und dem Umfang der Datenbank“ erklärt er Werner. Dann zeigt er ihr ein Schaubild, wie sich die Menge der Daten bei der GaBi-Software von einer Datenbank damals im Jahr 1990 auf mittlerweile mehr als 13.000 Datensätze vergrößert hat. „Die Datenerhebung war natürlich auch der Dreh- und Angelpunkt bei dem Projekt mit Gratzel“, erläutert Markus weiter.
Über die Hintergründe des Projektes hatte Werner schon vorher online recherchiert. Sie traf dabei auf einen Spiegel-Artikel, der 2018 über das waghalsige Unterfangen des Unternehmers Gratzel und seine Kooperation mit Marcs Institut berichtete. Darin wird auch deutlich, wie komplex das Thema Ökobilanzierung ist, besonders, wenn man den ökologischen Fußabdruck eines Menschen nicht allein in einem kurzen Zeitraum sondern letztlich im Verlauf seines ganzen Lebens errechnen will.
Screenshot Spiegel-Artikel „Herr Gratzel tut Buße“ (17.08.2018)
„Gratzel suchte weiter nach Unterstützern, recherchierte im Netz, fragte Freunde, Bekannte, Geschäftspartner und schrieb schließlich eine weitere E-Mail: an Matthias Finkbeiner, Professor und Leiter des Instituts für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. Finkbeiner erforscht mit seinen Mitarbeitern Wege, um nachhaltiger zu produzieren, in der Industrie, im Mittelstand, er verschafft der manchmal schwärmerischen Idee der Nachhaltigkeit eine robuste Basis. Er arbeitet mit BMW zusammen, mit Thyssenkrupp, dem Land Baden-Württemberg, auch mit den Vereinten Nationen. Finkbeiner ist der Mann fürs Machbare, er schien der richtige Partner zu sein für Gratzel. Der schilderte ihm seinen Plan, Finkbeiner antwortete noch am selben Tag, nannte die Idee »mutig«, »wissenschaftlich herausfordernd« und bot seine Hilfe an. Einige Wochen später bekam Gratzel von Finkbeiner drei Aufgaben: Gratzel sollte seinen Konsum dokumentieren, zwei Monate lang. Er sollte notieren, was er isst, wie viel er trinkt, woher das Produkt stammt, wie es verpackt wurde, Mehrweg oder Einweg, ob er es zu Hause oder im Restaurant gegessen, getrunken hat. Zudem sollte Gratzel seinen Müll trennen, in Papier, Pappe, Karton, Kunststoff, Bioabfall, Glas, Metall, elektronischen Abfall und den Rest. Er sollte die Müllsorten auch einzeln wiegen. Und notieren, was er sonst noch so kauft, für den Haushalt. Außerdem hatte er festzuhalten, wie viel Gas, Strom, Wasser er verbraucht. Gratzel sollte rekonstruieren, wie viele Kilometer er im Laufe seines Erwachsenenlebens mit dem Auto, der Bahn, dem Flugzeug zurück — gelegt hat. Daneben sollte Gratzel seinen Besitz dokumentieren — und zwar alles, jede Kleinigkeit, die sich in seinem Haus in Stolberg, in der Nähe von Aachen, findet.“ (Buse 2018: 46)
„Und wie kam das dann genau mit dem Hund?“ will Werner nun von Marc wissen. Er lächelt kurz. Er erinnert sich daran, dass schon zu den Anfangszeiten der GaBi-Methode, als noch niemand wirklich an den Erfolg oder überhaupt an den Sinn ihrer Arbeit glaubte, Pressearbeit immer wichtig gewesen war, um das Thema auch außerhalb der wissenschaftlichen Community ins Bewusstsein zu bringen. Dabei hatten sie auch gelernt, dass bestimmte Metaphern und Bilder im Kopf immer besonders gut funktionierten. Scheinbar ist es auch bei dieser Studie so. Nur ist dies keine reine Metapher. „Es ist tatsächlich so, dass der Hund in diesem Fall einen erheblichen Einfluss auf den ökologischen Fußabdrucks seines Herrchens hat“, leitet Marc die Erklärung ein. Das war eine der überraschendsten Erkenntnisse, auch für uns als Forscher. Wie man in unserem wissenschaftlichen Paper schön nachlesen kann, waren die beiden Produktkategorien „Hobbies, Freizeit, Haustiere“ (Hobbies, leisure, and pet) und „Nahrungsmittel“ (Food) die maßgeblichen „Sünder“ für die Ökobilanz von Gratzel. Wir haben heraus gefunden, dass die Produktion von einem Kilogramm industriell produziertem Hundefutter umgerechnet einem Äquivalent von 1800 Gramm CO2 entspricht. Das ist deshalb so ausschlaggebend, da man beim Thema „Go Zero“ und Klimaneutralität, auch in der öffentlichen Diskussion, häufig nur über Energieverbrauch wie Wasser und Strom diskutiert, außerdem natürlich über menschliche Lebensmittelproduktion. Wenn man aber die Werte für das Hundefutterbeispielsweise mit dem CO2 Äquivalent für drei Minuten duschen vergleicht (ca. 310 Gramm), macht das Hundefutter sechsmal so viel aus. Das war schon sehr beeindruckend, diese Erkenntnisse so schwarz auf weiß vor sich zu haben“, erklärt Marc.
Werner denkt in diesem Moment kurz daran, wie viel CO2 sie wohl schon in ihrem Leben zu verantworten hat. Gerade jetzt, wo sie für die Universität auch viele internationale Messebesuche journalistisch begleitet, fliegt sie wieder mehr. Darüber hinaus hat sie eine Katze zu Hause, Pina. Wie viel die Produktion ihres Futters wohl den Planeten kostet? Sie will es sich gerade gar nicht ausmalen. Viel wichtiger ist wohl die Frage, wie man dem Irrsinn und der Zerstörung des Planeten entgegen treten kann. Und die Lösung, die der Unternehmer und selbst-ernannte Umwelt-Idealist Gratzel für sich gefunden hat, ist bei allem Respekt ihrerseits nicht für die Masse der Menschen realisierbar. Er ist, so hat es auch Markus gerade eben noch einmal beschrieben, nach den Erkenntnissen der Studie einen radikalen Weg gegangen. Zum Beispiel fährt er nur noch mit dem Auto in den Urlaub und der Hund ist selbst geschossenes Wild. „Bei allem Respekt für den Erfolg der Methode, die Sie für die Messung genutzt haben und für das Engagement von Gratzel — meinen Sie wirklich, dass solche Ergebnisse etwas bewegen können? Wie sollte ich bitteschön meine Katze füttern, wenn ich das Fertigfutter nicht mehr im Supermarkt nutzen will?“, fragt sie teils mit einem Schmunzeln auf den Lippen, teils etwas herausfordernd. Marc nickt kurz und antwortet dann sehr klar und ruhig. „Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es zunächst, die Grundlage für diese Erkenntnisse mit unserer Arbeit zu schaffen. Dafür habe ich hier ein hochmotiviertes Team und ich brenne dafür, GaBi in diesem Kontext weiter zu verwenden und weiter zu entwickeln. Eine solche Methode ist der Grundstock dafür, dass wir derartige Erkenntnisse, die so umfassend und komplex sind wie der ökologische Fußabdruck eines Menschen, überhaupt gewinnen können. Dafür brauchen wir aber natürlich auch experimentierfreudige Pioniere wie Gratzel. Natürlich ist sein Beispiel extrem und nicht verallgemeinerbar. Aber das ist immer so. Davon sollte man sich nicht abbringen lassen. Wenn man etwas bewegen will, muss man das Ungewöhnliche wagen. So war es mit der GaBi-Methode selbst und so ist es auch mit heutigen Pionieren der Go Zero Bewegung. Das heißt auch nicht, dass wir alle solche radikalen Einschnitte in unserem Lebenswandel vollziehen sollen und können, wie sie Gratzel gemeistert hat. Das ist auch nicht die Botschaft. Die Botschaft ist vielmehr, dass wir verstehen, dass jeder einen Beitrag leisten kann, auch mit ganz kleinen Schritten. Einmal weniger Fleisch essen in der Woche. Eine Minute kürzer duschen. Es geht nicht darum, dass ein Mensch allein den Klimawandel stoppen kann. Es geht aber sehr wohl darum, dass wir alle Anhaltspunkte haben, wie jeder Einzelne mit kleinen Schritten den Wandel voran bringen kann.“
Werner setzt einen Punkt hinter den letzten Satz, den sie soeben auf dm iPad notiert hat. Marc ordnet derweil noch ein paar Unterlagen auf dem Rechner und bereitet schon eine Email an sie vor. „Das sind noch ein paar zusätzliche Unterlagen für Sie und die besagte Studie“, erklärt er Werner. Das hilft Ihnen vielleicht noch im Nachgang für Ihren Beitrag.“ „Ja, danke, da bin ich sicher“, entgegnet Werner. „Noch eine Frage habe ich, Herr Finkbeiner. Gibt es noch mehrere aus dem GaBi-Team, die heute in der Wissenschaft arbeiten? Oder sind die meisten in diese PE bzw. in das Unternehmertum gegangen?“ Marc wendet sich vom Bildschirm ab und schaut wieder zu Werner. „Nun, was damals die PE mit einer Handvoll von Mitarbeitern war ist heute Nemesis, einer der internationalen Marktführer im Bereich Ökobilanzierungssoftware und –beratung mit insgesamt 250 Mitarbeitern allein am Standort Stuttgart. Nun zu Ihrer Frage: Es gibt durchaus einige von uns, die ihren Weg in der Wissenschaft weitergehen. Ich bin meines Wissens nach einer von fünf ehemaligen GaBis, die mehr oder weniger direkt im Anschluss an die GaBi-Tätigkeit auf eine Professur berufen wurden. Soweit ich weiß, arbeiten wir alle in dieser Rolle auch noch mit der GaBi-Software in Forschung und Lehre. Es war nie so, dass wir während unserer Zeit in der GaBi-Abteilung in die ein oder andere Richtung gedrängt worden wären, was unsere berufliche Laufbahn anging. Eigenverantwortung und ein hoher Freiheitsgrad waren immer Leitgedanken. Und wer sich dann mehr für Wissenschaft als für eine aktive Rolle in der Wirtschaft begeistert hat, der hat schließlich diesen Weg eingeschlagen. Wir haben durch unsere Ausbildung und die Projektarbeit bei GaBi alle das Rüstzeug erhalten, um nicht nur Pläne zu haben, sondern sie auch umzusetzen. Wissen Sie, wie das immer hieß bei GaBi?“ Werner schüttelt kurz mit dem Kopf. „‘Wünsche werden selbst erfüllt‘. Mein Wunsch war es, diese Arbeit in der Wissenschaft fort zu setzen und damit bin ich, trotz aller Herausforderungen, sehr glücklich.“ „Danke für das Interview“, verabschiedet sich Werner. Den Entwurf für die Pressemitteilung schicke ich Ihnen kommende Woche zu.“