Es ist Mittwochmorgen in der Fakultät. Oliver hastet mit langen schlacksigen Schritten zum Seminarraum. Er ist in den Endzügen seiner Diplomarbeit. Es geht um Kunststoffe. Eigentlich ein langweiliges Thema, denkt jedenfalls sein Vater. Oliver ärgert sich manches Mal darüber, wie despektierlich sein Vater über die Uni und seine Professoren redet. Er ist Unternehmer aus Leib und Seele, hat die eigene Maschinenbaufabrik für Fahrzeugteile mit eigenen Händen über 20 Jahre aufgebaut. Studiert hat er auch mal, aber das ist lange her. „Hauptsache, Du bekommst ein Stück Papier, wo drauf steht, dass Du nicht auf den Kopf gefallen bist,“ sagt er immer. Oliver sieht das ein bisschen so und auch ein bisschen anders. Er hat schon viel gelernt im Studium. Aber oft muss er seinem Vater auch recht geben. Viel von dem Rechnen und Planen hier wird nie irgendwo in der Industrie angewendet. Und natürlich fragt man sich da, warum man es dann überhaupt lernen soll.
Oliver hat die ausgeleierten Jeans an, die er gern trägt. Sie haben ihn durch das ganze Studium begleitet. Er ist eher ein kleiner Mann, hat eine seiner Freundinnen mal gesagt. Wuschelige blonde Haare machen ihn unverkennbar und ein verschmitztes Lächeln. Nun ist er endlich bald mit dem Studium fertig. Die Diplomarbeit hat er vor einigen Wochen abgegeben. Nun muss er noch die restlichen Bücher abgeben, die sich auf dem Schreibtisch seit Wochen gestapelt haben, um der Leihfristverletzung zu entgehen. Wenn er sich vorstellt, dass er das hier alles noch länger mitmachen müsste, um eine akademische Karriere anzustreben, wird ihm ganz schlecht. „Hey, Dietrichs, kommen Sie mal kurz her, bitte, ich habe was für Sie.“ Einen Moment lang fragt sich Oliver, woher überhaupt die Stimme kommt und ob er wirklich gemeint ist. Oliver dreht sich um und schaut in die offenen und energiegeladenen Augen des Mannes, dem die Stimme gehört. Es ist Professor Reiter, bei dem er die Diplomarbeit geschrieben hat. Oliver gefriert für einen Moment das Blut in den Adern. Oh, je, denkt er sich. Wahrscheinlich hat es doch nicht gereicht. Ich hätte mich einfach mehr ins Zeug legen sollen. „Ja, Herr Professor Reiter, was gibt es?“ versucht er möglichst lässig zu wirken. „Also, Dietrichs, gestern hat sich eine interessante Sache ergeben. Da hat einer von Bosch einen Vortrag zur Ökobilanzierung eines Kotflügels gehalten. Und ich muss Ihnen sagen, Dietrichs, ich glaube stark, da kann man was machen, das kann man besser machen. Sie wollen doch promovieren, erinnere ich mich da richtig?“ Oliver weiß für einen Moment gar nicht, wie ihm geschieht. Kein Wort also zur Diplomarbeit. Stattdessen scheint Reiter eine Promotion im Sinn zu haben. Meint er damit wirklich ihn?
Reiter dreht den Schlüssel zu seinem Büro blitzschnell im Schloss herum, vor dem beide nun stehen. „Na, was ist jetzt, Dietrichs? Was schauen Sie so verdattert? Wollen Sie nicht promovieren? Verwechsle ich das? Sagen Sie es mir nur, ich habe auch nur ein Gedächtnis.“ „Nein, nein, Herr Professor, Sie erinnern das richtig, ich hatte ihnen davon ja mal erzählt“, fasst sich Oliver. Natürlich hat er ihm davon schon erzählt. Aber es ist eher Wunsch als Hoffnung, das auch schnell zu erreichen. Eigentlich hat er auch gar keine rechte Lust darauf, wieder hunderte Seiten zu lesen und diesmal noch mehr selbst zu schreiben. Er möchte schnell in die Firma seines Vaters einsteigen, aber genau da sind auch die Erwartungen hoch. Von den Männern in der Familie, inklusiv des Vaters und aller Brüder, haben alle promoviert. Sein Vater hat es noch selten ausgesprochen, aber es ist auch unausgesprochen ziemlich klar, dass nur ein Doktor Dietrichs die Firma jemals übernehmen wird. Und wenn er das sein will, dann muss er sich ranhalten. „Gut, Dietrichs. Also ich entnehme Ihrem neugierigen Blick, dass Sie das Thema interessiert? Ich meine, ich habe an Sie gedacht, da Sie ja durchaus etwas Ähnliches in Ihrer Diplomarbeit gemacht haben, die ich übrigens schon halb durchgearbeitet habe.“ „Ja, Herr Professor, ganz richtig, das stimmt. Und ja, ich interessiere mich für das, was Sie zu Bosch gesagt haben.“ Reiter hat mittlerweile die Tasche neben den Tisch gestellt, den 486er Computer hochgefahren, der hier mittlerweile ein fester Bestandteil der Ausstattung ist und sucht parallel einen Stapel von Papieren nach einem Ordner ab. „Wo hab ich sie denn hingelegt, die Berechnungen. Ah, da sind sie…“ Oliver verfolgt die Handgriffe ganz genau, weiß aber auch nicht, was er beisteuern könnte. Dann erlöst ihn Reiter. „Entschuldigen Sie, Dietrichs, es ist alles ein bisschen hektisch heute, wie Sie sehen. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen um 14:00 Uhr hier wieder. Dann können wir alles Nötige besprechen. Ich wollte ja nur hören, ob Sie Interesse haben. Der Rest wird sich finden.“
Als Oliver einige Stunden später an der Produktionshalle des Familienunternehmens entlang fährt, fragt er sich, wie es wohl sein würde, wenn er hier der Chef ist. „Herr Dr. Dietrichs“ — warum nicht? Es scheint jedenfalls ein gutes Omen zu sein, dass Reiter ihn direkt angesprochen hat, wo es doch bestimmt viele andere Kandidaten gäbe. Und wie Reiter ihm auch gesagt hat, geht es um ein wirklich innovatives Thema. Das ist es, was Oliver interessiert. Er will nichts machen, was die Welt nicht braucht. Da stimmt er mit seinem Vater ganz überein. Und das macht auch Reiter als Professor aus. Wenn er doch nur schon wüsste, wie die Diplomarbeit ausgegangen ist. Das würde auch seinen Vater zunächst einmal beruhigen und davon überzeugen, dass er den Doktor nicht nur für den Titel macht, sondern weil er wirklich an etwas Innovativem arbeitet. Wenn er eines weiß, dann ist es, dass man als Unternehmer immer einen Schritt voraus sein muss. Man muss Unsicherheiten nicht nur ertragen, sondern auch bewusst welche eingehen. Im Prinzip kommt Andreas das entgegen. Er spricht gern mit Leuten und kann sie überzeugen. Es ist nichts Gespieltes sondern liegt in seinem Naturell. Nachdenklich schaut er sich noch einmal den den Ausdruck seiner Diplomarbeit an, die zu Hause noch auf dem Schreibtisch liegt. „Die ganzheitliche Bewertung von Kunststoffen in der Automobilausstattung“ hat Reiter als Arbeitstitel genannt. Das klingt doch wirklich nicht schlecht als Idee.