„Ja, Herr Spengler, genau, Dietrichs mein Name, Ganzheitliche Bilanzierung, Uni Stuttgart…. Richtig, genau, Herr Professor Reiter hatte meinen Anruf angekündigt. Es geht um die Pilotstudie… Bitte?…. Nein, es geht um den gesamten Lebenszyklus des Materials…. Ja, das ist richtig, es gibt einige wenige Anbieter auf dem Markt, aber unsere GaBi, die ganzheitliche Bilanzierung, kann mehr…. Ja, genau, das haben Sie richtig verstanden, es gibt auch bald eine Software…. Ja darüber wollten wir mit Ihnen sprechen, Herr Spengler, es geht um das große Kickoff aller Projektpartner. Der Herr… Bitte?… Ach, Sie hatten dem Kollegen schon mitgeteilt, dass Sie nicht dabei sein können. Wie Schade, Herr Spengler. Darf ich fragen… tuuuuuuut, tuuuuut, tuuuuuut.“
Oliver lässt den Hörer des grauen Drehscheibentelefons laut krachend auf die Gabel fallen. „Hey, sag mal, dass muss doch nicht sein, oder?“ ruft ihm Andreas mahnend vom gegenüberstehenden Schreibtisch zu. „Das Telefon kann auch nichts dafür.“ „Es ist aber auch echt manchmal nicht leicht mit diesen Konzerntypen,“ entgegnet Oliver. „Da hat uns der Professor schon so weit die Tür aufgemacht und dann kommt doch nichts bei rum. Ich verstehe das nicht. Ich hatte ja noch nicht mal die Chance, zu erklären, was genau die GaBi eigentlich kann.“ Oliver schaut teils ratlos, teils wütend aus dem kleinen Fenster des Büros im Dachstuhl. Hier in der Innenstadt im roten Backsteingebäude ist das Institut für Kybernetik ausgelagert. Oliver kann kaum glauben, was in den letzten paar Wochen geschehen ist. Soeben war er noch Student und das einzige Ziel war, die Diplomarbeit endlich zu Ende zu bringen. Nun ist er Doktorand und Mitarbeiter der GaBi-Abteilung. Jeden Tag wählt er sich die Finger wund, um etwas zu verkaufen, was es eigentlich noch gar nicht gibt. Und viel schlimmer noch: Er ist mitverantwortlich, dass es die GaBi überhaupt jemals geben wird. „Du hast es gut, ruft er Andreas rüber, der gerade auch schon wieder den Telefonhörer in der Hand hat und die Wählscheibe kreisen lässt.“
Noch nicht einmal zwei Wochen ist es her, da lernten sich beide auf dem Flur vor Reiters Büro kennen. Er hatte sie beide zur gleichen Zeit genau an diese Stelle geladen und sich einige Minuten verspätet. Er und Andreas waren sich schon einige Male während des Studiums begegnet, aber hatten nie so viel miteinander zu tun gehabt. Nun sitzen sie quasi nonstop mindestens acht Stunden hier gemeinsam in dem winzigen Büro und arbeiten an etwas, das zum jetzigen Zeitpunkt nicht mal mehr als eine fixe Idee ist. „Eine Dissertation und die Diplomarbeit, mehr wird daraus erst mal nicht werden, denke ich.“ Das genau hatte Reiter in dem Gespräch gesagt, nachdem er mit etwas Verspätung ins Büro kam und sie mit den Worten grüßte: „Na, haben Sie sich schon etwas miteinander bekannt gemacht?“ So recht wusste man bei Reiter nie so genau, ob das nun geplant war oder einfach nur Zufall, dass die beiden sich vor der Tür schon etwas beschnuppert hatten. Aber Spekulationen sind weder Reiters noch Olivers Sache. Oliver weiß nur, dass ihm das Herumtelefonieren trotz aller Frusterlebnisse Spaß macht. Und klar ist auch, dass Reiter Hoffnung und Vertrauen in sie setzt. Sonst hätte er ihnen wohl kaum für die kommenden Monate zunächst diese Stelle angeboten. Klopf. Klopf. „Hallo?“
Oliver wird aus seinen Gedanken gerissen. Offensichtlich steht Besuch vor der Tür. Da klingelt auch schon wieder das Telefon. Oliver nimmt ab und ruft zuvor mit einer winkenden Geste noch ein schnelles „herein“ gen Tür, während Andreas auf der anderen Seite ebenfalls wieder in ein Gespräch vertieft ist und wild Notizen aufs Papier kritzelt. Während Oliver spricht, tritt eine junge Frau, Anfang 20, mit einem langen T-Shirt, Jeans und Turnschuhen in den Raum. Es scheint, als ob die beiden jungen Männer sie gar nicht wahrnehmen. „Ja, GaBi, Uni Stuttgart, grüße Sie….“ Die junge Frau schaut sich im Zimmer um. Es gibt keinen weiteren Stuhl, auf dem sie Platz nehmen könnte. Auch scheint sich so recht niemand für ihre Anwesenheit zu interessieren. Sie lässt ihren Blick im Zimmer schweifen und entdeckt eine Pyramide aus Bierdosen auf dem Regal neben der Tür. Der Papierkorb schein seit Wochen nicht geleert worden zu sein. Die beiden Jungs scheinen sich weiter nicht für sie zu interessieren. An der Wand entdeckt sie eine großes Blatt Papier mit lauter Firmennamen und Ansprechpartnern dahinter. Daimler, Bosch, BASF… All diese Namen kennt sie aus dem Studium, wenn es auch nicht ganz ihre Branchen sind. Christine hat Ingenieurswesen mit Schwerpunkt Umwelttechnik studiert und sich früh für IT interessiert. Ihr Vater war bereits Techniker und hat sie ermutigt, ihren Weg in ein handfestes Fach zu gehen. Nun hat sie den Abschluss in der Tasche und wollte eigentlich in wenigen Wochen ihren ersten Job beginnen.
„Was können wir für Dich tun?“ Aus heiterem Himmel spricht sie einer der beiden direkt an. Er scheint sein Gespräch mit der Maschinenbaufirma beendet zu haben. Christine hat nur Bruchstücke aufnehmen können. Aber an dem zufriedenen und energiegeladenen Gesicht ihres Gegenübers ist abzulesen, dass es ein erfolgreiches Gespräch war. Noch bevor Christine den Mund aufmachen kann, steht Oliver auf, nimmt einen dicken Filzstift und macht einen Haken hinter eine der Zeilen auf dem großen Blatt auf der Wand. Dann dreht er sich blitzschnell um und wiederholt. „Na, was schaust Du so? Ich hatte doch was gefragt?“ Er sagt das in so einem freundlichen und aufmunternden Ton, dass sich Christine ein wenig darüber aufregt, dass sie soeben ja schon antworten wollte. Im Gegenteil, irgendwie findet sie das quirlige Treiben hier sehr amüsant und gleichzeitig entspannt. „Ich bin Christine, Professor Reiter sagte mir, dass ich mich hier bei Euch melden sollte.“ Oliver wirft einen fragenden Blick hinüber zu Andreas, der bereits wieder den Hörer für den nächsten Anruf in der Hand hält. Er zeigt mit einer Geste hinüber auf Christine. Andreas antwortet mit einem kurzen Achselzucken und vertieft sich dann direkt in das Gespräch mit dem Zuhörer am anderen Ende der Leitung.
Oliver kennt Christine ebenfalls vom Sehen. Aber gesprochen haben sie noch nie miteinander. Und er kann sich auch nicht vorstellen, was sie hier gerade soll. Christine macht einen neuen Anlauf. „Also Professor Reiter müsste euch eigentlich erzählt haben, dass er mich gefragt hat, ob ich mich um die GaBi-Software kümmere.“ Software, da ist es, das Wort, das Oliver durchaus an ein Gespräch mit Reiter erinnert. Ja, der Professor hatte angeregt, dass es für GaBi ein Programm geben sollte. Davon war durchaus die Rede gewesen. Aber keiner wusste, wer das machen sollte. Sie sind ja alle Ingenieure. Und außerdem muss es ja erst einmal überhaupt eine GaBi geben, bevor man sich an Software macht. Aber das scheint Reiter irgendwie nicht so zu sehen. Oliver hat schon wieder das scheppernde Telefon vor sich. „Moment, Christine. Tut mir leid, dass es gerade so chaotisch ist. Wir bereiten gerade eine große Veranstaltung vor. Gib mir ein paar Minuten, ja, dann sprechen wir. Nur noch dieses Telefonat. Ich warte schon die ganze Zeit auf einen Rückruf von DuPont. … „Ja, ah, das sind Sie, herzlichen Dank für den Rückruf… Genau…“
Christine ist nun doch etwas ratlos. Aber das Zuhören bei den Telefonaten ist durchaus informativ. Es scheint den beiden um die Gewinnung von Partnern zu gehen, damit GaBi bei einer Reihe von Unternehmen zum Einsatz kommt bzw. mit ihnen entwickelt wird. Davon erzählte Reiter ihr ja. Und diese Kunden würden dafür bezahlen, dass sie alle hier das Projekt machen dürften. Soweit sie es verstanden hat, gibt es noch gar keine richtige Finanzierung für GaBi. Aber genau das scheint wohl gerade das Ziel der Telefonaktion zu sein. Christine schaut auf die Uhr. Sie ist nun schon fast 20 Minuten hier und es ist noch kein Gespräch aufgekommen. In genau 15 Minuten muss sie im Wartezimmer des Zahnarztes sitzen, zu dem sie mit dem Fahrrad noch mindestens fünf Minuten fahren muss. Es vergehen weitere Minuten. Christine hört aufmerksam zu, wie Oliver und Andreas GaBi beschreiben. Es macht wirklich nicht den Eindruck als täten sie das hier nur, weil es ihnen eben angeboten wurde. Beide erklären die GaBi-Methode mit so viel Selbstbewusstsein als gäbe es sie schon seit Jahren. Fast hat es den Anschein als könne man damit die Welt retten, zumindest ein bisschen. Schließlich entscheidet Christine, dass sie genug gehört hat und es wohl einfach nicht der richtige Zeitpunkt war. Sie nimmt sich entschlossen einen der kleinen Klebezettel auf der Schreibtischseite von Andreas und einen angekauten Bleichstift, der direkt daneben liegt, und notiert eine kurze Nachricht. „Hat mich gefreut, Euch angetroffen zu haben. Komme die Tage wieder. Gruß, Christine“. Den legt sie neben das Telefon von Oliver, zeigt kurz auf ihre Armbanduhr und verabschiedet sich dann mit einem Kopfnicken. Oliver und Andreas schauen kurz auf und winken etwas pikiert, während sie mit den Gedanken weiter in ihre Telefonate vertieft sind. Es dauert noch mehr als eine halbe Stunde bis beide wieder den Hörer zeitgleich mal nicht in der Hand haben. „Weißt Du, was die wollte?“ wirft schließlich Andreas Oliver zu. „Nö, keine Ahnung. Irgendwas mit Software. Aber ich weiß, dass sie gar kein IT studiert. Vielleicht hat sie sich auch einfach geirrt.“ Andreas nickt. „Hm, wird schon wiederkommen wenn es wichtig war. Lass uns weiter machen. Wer fehlt noch für das große Treffen? Soweit ich sehe, haben wir 18, richtig?“