Es ist früher Nachmittag. Mittlerweile ist es eine Woche her, dass Christine den ersten Anlauf gestartet hat, um sich den beiden GaBi-Mitarbeitern zu unterhalten. Vielleicht hat sie heute mehr Glück, wenn sie mit Reiter noch einmal direkt spricht. Sie glaubt sich zu erinnern, dass mittwochs hier immer ein Team-Treffen stattfindet. Sie öffnet die dicke Glastür am Institut für Ingenieurswesen. Hier sind die großen Hörsäle und Büros der Professoren. An der Wand fallen ihr direkt Zettel mit Pfeilen auf. Hier muss wohl heute noch irgendetwas los sein, denkt sie sich. Sie läuft in Richtung Reiters Büro, das ganz am Ende des Ganges auf der rechten Seite liegt. Die Wände hier sind karg und „typisch Uni“, wie ein Vortragsgast aus der Industrie mal gesagt hat, den sie zum Hörsaal begleiten sollte. Plötzlich springt die Tür neben Reiters Büro auf und Helga Sauer, die Sekretärin, hetzt heraus mit einem Stapel Overhead-Folien in der Hand. Fast prallen sie gegeneinander. „Ach, Frau Müller, na endlich,“ ruft sie voller Erleichterung mit tief schwäbischem Akzent aus. „Na kommen’s, aber ganz rasch, was ham Sie sich denn Zeit g’lassen? Alle Herrschaften sind schon drin und warten bestimmt.“
Christine kann so schnell gar nicht reagieren, da hat sie Frau Sauer schon energisch am Arm gepackt und führt beide Richtung Hörsaal 1. Sie öffnet leise die Tür, schiebt Christine rasch hinein und drückt ihr noch die Folien mit einem Wink gen Pult in die Hand. Schon ist die Tür auch wieder zu. Christine steht zunächst wie angewurzelt am Eingang. Ihr Blick fällt zunächst auf Reiter, der vorn am Pult steht. An die Wand ist in großen Buchstaben „GaBi-Multi-Client Kickoff“ projiziert. Reiters Blick fällt sofort auf sie. „Ach, da ist ist sie auch schon und sie hat auch die restlichen Folien mitgebracht. Meine Damen und Herren, wir können anfangen.“ Plötzlich ist Oliver neben ihr, schnappt sich die Folien, die sie noch immer fast unbewusst in der linken Hand hält. „Wo warst Du denn?“ zischt er sie leise von der Seite und rennt dann vor zum Professor, um ihm die Folien zu geben. Christine setzt sich in einen der unteren Plätze im abgestuften Auditorium, lässt aber zuvor den Blick noch einmal möglichst unauffällig über die Reihen schweifen. Sie erkennt keinen der Teilnehmer, es müssen so um die 30 sein, persönlich. Aber die meisten sind ungefähr zwischen 40 und 50 alt, würde sie schätzen, tragen akkurate Anzüge und schauen gebannt nach vorn, wo soeben der Vortrag beginnt. Christine sieht als erste Folie an der Wand eine Graphik, die später als das “Eierstockdiagramm” in die GaBi-Geschichte eingehen wird.
„Meine Damen und Herren, im Namen des gesamten GaBi-Teams begrüßen wir Sie heute. Wir, das sind die Mitarbeiter der neu gegründeten GaBi-Abteilung. Sie werden nachher auch noch mal direkt zu Ihnen sprechen. Da haben wir Oliver Dietrichs, der gerade seine Promotion zur Werkstoffbilanzierung begonnen hat. Daneben sitzt Andreas Künzel. Er befindet sich in der Endphase seiner Diplomarbeit und wird, sofern sich unsere Arbeit bewährt, ebenfalls bald seine Promotion angehen. Und schließlich Christine Müller, sie wird die GaBi-Software entwickeln. Aber zunächst der Reihe nach, meine Damen und Herren. Ich möchte Ihnen nun zunächst herzlich danken, dass Sie sich heute hier eingefunden haben, um nicht nur Zeugen, sondern aktive Förderer und Mitgestalter einer der wichtigsten Innovationen zu werden, die es im Bereich der Nachhaltigkeit in Deutschland, ja, man muss sagen, in der Welt, zu bestaunen gibt. Seien Sie gespannt, was wir Ihnen heute hier präsentieren können, bevor wir dann konkret in die Gespräche zum geplanten Projektablauf gehen.“ Reiter atmet kurz durch und zieht flugs die erste Folie aus dem Stapel. Hier ist eine Zeichnung von einem Kotflügel zu sehen, daneben einige Zahlen und eine lange Rechnung. „Schauen Sie, meine Herren. Ich bin kein Freund von langer Theorie, deshalb steigen wir gleich mit einem konkreten Beispiel ein — Verpackungen.“
Christine schaut zunächst genau auf die Folie. Sie kennt dieses Beispiel aus der Vorlesung. Dann lässt sie den Blick im Raum wandern. Nun weiß sie also, dass diese ganzen Gäste hier die Manager der Firmen sind, die sie noch vor einer Woche auf der Liste im Büro gesehen hat. Sie alle schauen gebannt vorn auf die Folien. Mittlerweile liegt dort schon die nächste auf, die zeigt, was GaBi leisten soll, um zu berechnen, welche Umweltbelastung das Material für den Kotflügel im gesamten Lebenszyklus bewirken wird. „Schauen Sie, liebe Gäste, in der alten Welt war man froh, wenn man errechnen konnte, wie man den Materialverbrauch senkt und optimiert, damit die Kasse stimmt. Unser Argument ist aber ganz einfach und genau deshalb revolutionär: Wir behaupten, dass es sich am Ende nicht rechnen wird, solange Sie nur das Geld im Blick haben. Sie brauchen drei Dimensionen: Die 1) Wirtschaftlichkeit, 2) die Technologie und 3) die Ökologie. Das sind die Faktoren, die das ausmachen, was wir ganzheitliche Bilanzierung nennen — GaBi.“
Ein leichtes Raunen geht durch das Publikum. Einige fangen an, mit ihrem Nachbarn zu tuscheln. Manche scheinen begeistert, manche scheinen nicht ganz zu glauben, dass die besagte GaBi irgendeinen Wert schafft für sie. Reiter scheint das auch zu sehen von seinem Platz am Pult. „Ja, meine Damen und Herren, das klingt zunächst komplex und nicht machbar. Ich weiß genau, wovon Sie sprechen bzw. was Sie mit Ihren kritischen Blicken ausdrücken. Ich selbst habe wiederholt und zuletzt in den Jahren 1985 bis 1988 in der Industrie gearbeitet. Ich weiß genau, welchem Druck Sie ausgesetzt sind. Sie denken sich vielleicht: „Schön und gut, aber rechnet sich nicht, schon gar nicht für unsere Kunden“. Ein Lachen geht durch die Runde. Reiter lacht ebenfalls kurz. Dann wird er wieder ernst und konzentriert. „Genau aus diesem Grunde ist die GaBi so konzipiert, dass sie Einfachheit, Klarheit und neuste wissenschaftliche Erkenntnis verbindet, um konkret im Unternehmen bei Ihnen Wert zu schaffen. Es geht nicht darum, Luftschlösser zu bauen oder mit Demonstrationen ganz Deutschland davon zu überzeugen, dass wir weniger Auto fahren sollen. Nein, mir und meinem Team geht es darum, eine Methode zu entwickeln, die es Ihnen erlaubt, ökologischer zu denken und zu handeln und damit mehr anstatt weniger Geld in der Kasse zu haben, mehr anstatt weniger zufriedene Kunden zu haben. Das ist das Ziel. Dafür stehe ich heute hier und dahinter steht auch das Team, das gerade am Wachsen ist.“
Christine beobachtet, wie sich die Gesichter der Zuhörer verändern. Waren sie eben noch ungläubig, scheinen sie nun wirklich offen für die Idee zu sein. Reiters Worte klingen auch so überzeugend, dass man kaum anders kann. Mittlerweile hat der Professor das Wort an Andreas gegeben, der nun einige erste Ergebnisse aus einer Datenerhebung an einem weiteren Beispiel vorstellt. Christine schaut genau auf die Daten, die durchaus vielversprechend aussehen. Sie hat es im Studium immer geliebt, Erkenntnisse, die sie zwar intuitiv abgeleitet hatte, mit entsprechenden Daten belegen zu können. Das scheint sie mit Andreas und Oliver und auch mit Reiter gemeinsam zu haben. Offensichtlich brennen hier alle im Raum für das Thema, aber sie hantieren in jeder Minute auch mit Zahlen, Daten und Fakten, um ihren Worten Gewicht und Realitätssinn zu verleihen. Das kommt offensichtlich an beim Publikum. „Und das, meine verehrten Zuhörer, ist eine Skizze der Datenbank, die wir gerade aufbauen,“ hört Christine dann den nächsten Satz. „Unsere geschätzte Kollegin Frau Christine Müller, sie sitzt da hinten, wird diese erweitern und zur Grundlage einer Software machen, die Sie dann alle in ihren Unternehmen zum Einsatz bringen werden. In nur einem Jahr wird es den ersten Piloten geben, so unser Ziel,“ fährt Andreas fort.
Christine zuckt in diesem Moment etwas zusammen. „Aha,“ denkt sie sich. „Das ist ja interessant. Schön, dass ich das auch schon erfahre…“ Noch im gleichen Moment lächelt sie in sich hinein. Die Szene von vor einer Woche im Büro der beiden kommt ihr wieder in Erinnerung. Irgendwie entspricht das alles hier ganz dem Chaos, das sie dort schon erlebt hatte. Dieses steht in krassem Gegensatz zu der klaren Struktur und dem Anspruch des Projektes, das da vorne soeben skizziert wird. Und irgendwie fasziniert sie diese Mischung bereits jetzt. Wie hatte Reiter ihr noch bei ihrem ersten Gespräch vor wenigen Wochen gesagt: „Wünsche werden selbst erfüllt, Frau Müller.“ Dabei ging es um ihre zukünftigen beruflichen Pläne und ihren Wunsch, sich tiefer in die IT hinein zu arbeiten, auch wenn sie kein Informatik studiert hatte. „Können Sie haben, Frau Müller, ich habe da die Gelegenheit,“ hatte Reiter das Projekt eingeleitet und sie dann ziemlich schnell überzeugt, dass es eine tolle Chance sein würde. Nur war ihr nicht klar, dass es so schnell zur Realität werden würde. Und vor allem war ihr nicht klar, dass sie als Einzige verantwortlich für die Software sein würde. Aber warum nicht, denkt sie sich, als sie weiter dem Vortrag vorn lauscht.
Die ganze Präsentation dauert nicht länger als eine Dreiviertelstunde. Dann kommen auch schon viele Fragen aus dem Publikum. „Wie soll das denn genau ablaufen mit der Datengewinnung? Was Sie da eben gezeigt haben, das haben wir ja noch nie gemessen“ fragt einer. Ein anderer will wissen, ob das alles nicht viel teurer werden wird als ursprünglich im schriftlichen Konzept angekündigt. Ein weiterer scheint richtig schlechte Laune zu haben. Anscheinend hat ihn sein Chef hierhin geschickt und ihm aufgetragen, dass er eine Spitze gegen die Konkurrenz loslassen solle. „Woher sollen wir denn wissen, dass die ganzen Partner hier in der Runde auch am selben Strang ziehen? Wir sind doch hier nicht bei ‚Wünsch Dir was‘. Wir sind doch Konkurrenten. Warum sollten wir denn bei was mitmachen, das die Konkurrenz dann gleich auch verkauft? Sie erzählen was von Industriekompetenz, dabei denken Sie offensichtlich kein bisschen wirtschaftlich.“ Reiter nimmt diese und andere Fragen zunächst einmal ganz nüchtern auf und arbeitet dann jede nacheinander ab. Christine ist ein bisschen überrascht, wie gelassen aber trotzdem energisch er die Antworten formuliert. Sie hat ihn durchaus auch schon mal aufbrausend erlebt in den Vorlesungen. Aber hier scheint es, als könnte er auch die Kritiker mit seiner entschlossenen Art und den dazugehörigen wissenschaftlichen Fakten davon überzeugen, dass GaBi die Zukunft ist. „Es ist doch ganz einfach, meine Damen und Herren. Natürlich können Sie sich beispielsweise fragen, wieviel Metall Sie in das Auto bauen, damit es leichter ist und Sprit spart. Wir gehen da anders ran. Wir fragen direkt, ob Metall überhaupt noch in das Autoteil soll. Und wir gehen noch einen Schritt weiter: Wir fragen uns sogar, ob Sie in 20 Jahren überhaupt noch ein solches Auto verkaufen werden, da dann keiner mehr damit fährt, weil die Umweltkatastrophe längst voran geschritten ist und die Politik diese Autos verbieten wird. So viel zum Thema Zukunftsfähigkeit, wenn Sie mir diese Zwischenbemerkung mal erlauben. Die Japaner und die Amerikaner sind da schon ein bisschen weiter, das kann ich Ihnen definitiv sagen.“
Das hat offensichtlich gesessen. Plötzlich ist es ganz still im Raum. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. „Zukunftsfähigkeit“ ist etwas, das alle hier offensichtlich beschäftigt. Und die Konkurrenz aus dem Ausland schläft nicht. Christine hat sich nie so für BWL interessiert. Aber natürlich hat sie einige Vorlesungen besucht und informiert sich in der Zeitung. Auch Reiter bringt entsprechende Themen oft in der Vorlesung. Gerade hat er ein neues Buch geschrieben, in dem er ebenfalls Zahlen zur Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland präsentiert hat und der Rolle der Uni. Sie hat es nicht ganz gelesen, nur kurz durchgeblättert, als sie letztens in seinem Büro war. Rosig sah das wirklich nicht aus.
Was ist eine Ökobilanz (Life Cycle Assessment)?
Ökobilanzen (Life Cycle Assessments) ermöglichen die Analyse der Lebenszyklen von Produkten im Hinblick auf deren Umweltauswirkungen sowie eine transparente Darstellung der daraus resultierenden Ergebnisse. Dies geschieht mittels Beratung vor Ort und Software. Im Gegensatz zu konventionellen Ökobilanzen, die lediglich den Materialverbrauch bei der Produktion über den Lebenszyklus hinweg berücksichtigen, verfolgt die Ganzheitliche Bilanzierung (GaBi) eine Berechnung der Faktoren 1) Ökologie, 2) Ökonomie, 3) Technik, und 4) Soziales.
Schließlich wird Christine vom lauten Klatschen aller Anwesenden aus den Gedanken gerissen. Der Vortrag und die Diskussion scheinen zum Abschluss gekommen zu sein. „Haben Sie vielen herzlichen Dank, meine Damen und Herren,“ beendet Reiter die Runde. Wir freuen uns darauf, dieses Projekt gemeinsam mit Ihnen in den kommenden drei Jahren voran zu treiben. Sie werden es nicht bereuen.“