Bettina setzt Filterkaffee auf in der kleinen Küche der Wohnung am Stuttgarter Stadtrand. Hinter ihr am Tisch sitzt Felix im Hochstuhl und schleudert wild mit einer Plastikrassel. Er möchte auch sein Frühstück haben. Ein Jahr ist er jetzt alt, fast so alt wie die GaBi-Idee, die Thomas täglich mit neuem Elan vorantreibt. Im Frühjahr hatten sie mit dem Kinderwagen einen langen Spaziergang gemacht. Da kam die Idee zum ersten Mal auf. „Bettina“, sagte Thomas, „wir müssen eine Firma gründen, damit wir mehr Projekte mit Industrieunternehmen annehmen können und meine Leute anständig bezahlt werden. Es geht nicht anders. Die Uni-Bürokratie erlaubt keine Grenzgänge. Wir müssen das alles ganz sauber und ordentlich angehen, aber meine Studenten und Doktoranden müssen für die viele Arbeit, die sie darüber hinaus in die spannenden Projekte stecken, auch anständig honoriert werden. Das geht über normale Uni-Verträge nicht. Sie brauchen einen Platz für Nebentätigkeiten, wo sie eng mit der Praxis arbeiten und Geld nebenbei verdienen können.“
Seit dieser ersten Idee ist viel passiert. Bettina geht rüber zum Küchenschrank und holt die kleinen Teller und Untertassen heraus, um den Tisch zu decken. Felix neben ihr wird immer ungeduldiger. Der Große ist schon vor einer halben Stunde in die Schule aufgebrochen. Verena ist mal wieder spät dran. Sie hat in der ersten Stunde Deutsch, was sie gar nicht mag. Sie ist mittlerweile schon in der zweiten Klasse. „Mona, bist Du fertig?“ ruft Bettina rüber Richtung Bad. Die kleine 3-Zimmerwohnung hat wenigstens den Vorteil, dass man hier keinen aus den Augen verliert. „Ja, Mama, ich bin schon weg.“ „Magst Du nicht noch frühstücken? Nimm wenigstens Deine Brote mit.“ Mona stürmt zu ihrer Mutter in die Küche, hält ihren Ranzen auf und Bettina packt ihr die Tupperware mit einem frischen Salami-Brot und einem Apfel ein. Dann gibt sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und Mona drückt kurz den kleinen Bruder, der das offensichtlich heute Morgen gar nicht mag. Er quiekt und haut mit dem kleinen Plastiklöffel um sich. „Mach’s gut, Du hast dann um 12:15 Uhr Schluss heute nach der 5. Stunde ja? Ich hole Dich ab.“ „Ja, Mama, tschüs.“ Und schon knallt die Tür und Bettina hört sie die Treppen herunterspringen. „Was Verena wohl später mal machen wird“, geht es Bettina kurz durch den Kopf. Sie ist so anders vom Naturell her als die beiden Jungs.
Bettina deckt den Tisch fertig und setzt sich neben Felix, um ihn zu füttern. Da kommt Thomas in die Küche. Er ist schon fertig in Anzug und Krawatte. Man könnte meinen, er würde gleich zu einem Vortrag aufbrechen, dabei finden die wichtigen Treffen für die PE GmbH seit einigen Monaten immer hier statt. PE steht für Polymer Engineering. Das ist der Name, auf den sie sich damals noch beim Spaziergang nach einem kleinen Brainstorming geeinigt hatten. Thomas wollte gern seine Initialen im Firmennamen haben, aber trotzdem sollte das Geschäft sich hauptsächlich um die Sache drehen. „Wie wäre es mit Polymer Engineering, das passt doch? Ist doch mein Forschungsgebiet“, fiel es Thomas dann ein. „Das passt, klingt gut“, gab Bettina zurück. Dann war es wie immer, wenn Thomas eine Idee hat. Sie wird umgesetzt. Er reichte beim Finanzamt die Gründungsunterlagen ein und natürlich musste er sich bei der Uni alles genehmigen lassen, um dieser Nebentätigkeit ordnungsgemäß nachgehen zu können. Nur hatten sie natürlich kein Kapital, um irgendwo teure Büroräume anzumieten. GaBi gab es ja schließlich erst seit etwas über einem Jahr. Aber seitdem kamen immer neue Ideen dazu und neue Firmen wurden darauf aufmerksam. „Ich sage Dir, Bettina, das mit der ganzheitlichen Herangehensweise an die Bilanzierung wird sich irgendwann durchsetzen“, sagte Thomas immer. „Es muss so sein. Wir brauchen neue Methoden, um zu zeigen, dass sich der Schutz der Umwelt nicht nur für die Menschheit auszahlt, sondern auch für die Unternehmen ganz konkret.“
Bettina glaubt daran, wenn Thomas das sagt. Sie weiß auch nicht, woher genau ihm immer diese tausend Ideen kommen. Aber bereits in der Vergangenheit hat sie gelernt, dass sie meistens in Erfolgen münden. Thomas hat diese Weitsicht, Dinge zu erkennen, lange bevor sie von anderen gesehen werden. Das ist nicht immer einfach, da es für viele Entwicklungen zu früh ist, also noch kaum direkte Nachfrage herrscht. Aber Thomas hat diese unnachahmliche Art die Menschen zu begeistern. Er weiß, dass er allein gar nichts bewirken kann. Es braucht immer die Kooperation mit anderen, seien es nun seine Studenten oder eben die Firmenbosse, die hier nun regelmäßig ihre Treffen mit Thomas beim Frühstück und Besprechungen im Wohnzimmer haben. „Holst Du noch geschwind die Brötchen und Brezeln ab, die ich beim Bäcker vorbestellt habe, Thomas?“ „Ja, mache ich sofort, dann ist alles rechtzeitig fertig, wenn die Herren um 9:00 Uhr kommen“, gibt Thomas zurück und nimmt den Hausschlüssel von der Kommode im Flur, um dann in Richtung Bäcker aufzubrechen. Bettina versorgt derweil weiter Felix, der freudig mit den Händen in seinem Brei herumpatscht. Ob er wohl auch mal die Begeisterung für das Bauen und Konstruieren von seinem Vater übernehmen wird?
Eine halbe Stunde später sitzen Dr. Hoffmann, Thomas und Bettina beim Frühstück. Felix sitzt im Laufstall daneben und beschäftigt sich. Die Diskussion war von Minute 1 an voll im Gange. Es geht um die neue Bilanz von Windeln. Die Firma Hoffmann ist einer der größten Windelproduzenten in Deutschland. Ziel des Projektes ist eine ganzheitliche Bilanzierung für die Standard-Windel zu erstellen, um damit Empfehlungen zu geben, wie Hoffmann die Windelproduktion mit neuen Materialien noch nachhaltiger weiterentwickeln kann. Bettina führt Protokoll und hört gespannt zu, ob Hoffmann sich auf das Projekt einlassen wird. „Herr Reiter, ich habe Sie ja verstanden und ich denke auch, dass wir das brauchen. Für mich ist nur das Problem, dass ich damit ein hohes Risiko eingehe, verstehen Sie? Ich vertraue Ihrer neuen Methode und mich stört es auch nicht, dass sie erst in der Entwicklung ist und natürlich noch optimiert werden muss. Ich kenne ja einige Ihrer Mitarbeiter schon und sehe, dass Sie eine tolle Mannschaft haben. Auch da mache ich mir keine Sorgen, dass die vor Ort bei uns um Betrieb sensibel vorgehen und mit den Mitarbeitern gut zurecht kommen. Das Problem ist nur, dass ich Schiss habe“, um es mal salopp zu formulieren.“ Thomas hat jedem einzelnen Wort von Hoffmann genau zugehört. Er findet es beeindruckend, wie ehrlich und offen Hoffmann hier gleich zur Sache kommt. „Wovor genau haben Sie Schiss, Herr Hoffmann? Hier gibt es doch nur zu gewinnen für alle Seiten — für Ihren Betrieb und für die Umwelt“, fragt Thomas nach. „Was ist, wenn Sie herauskriegen, dass in unseren Windeln irgendetwas ist, dass schädlich ist? Nicht, dass ich davon ausgehe oder jemals auch nur einen Schritt getan hätte, um so etwas zu riskieren. Aber mit neuen wissenschaftlichen Methoden wachsen doch auch manchmal Erkenntnisse, die eben zuvor nicht möglich waren. Und wenn das bei den Windeln passiert, dann sind wir doch geliefert. Oder würden Sie für Ihren Kleinen hier im Laufstall noch eine einzige Windel kaufen, bei der ein Stoff gefunden wird, der womöglich nicht nur schädlich für die Umwelt sondern direkt für das Kind ist?“ Hoffmann zeigt auf Felix während er das sagt. Der hat gespürt, dass hier eine hitzige Diskussion in Gang ist und verzieht das Gesicht. Bettina legt das Protokoll zur Seite und nimmt ihn auf den Arm.
Thomas hat dieses Argument schon oft gehört. Er versteht die Sorgen von Hoffmann. Er weiß aber auch, dass es ihm und den GaBis nicht darum geht, Skandale aufzudecken oder Sündenböcke zu finden. Sie sind ja keine Investigativjournalisten oder die Umweltpolizei. Vielmehr geht es ihnen nur um eines: Wissen generieren, und zwar auf umfassender Datenbasis. Diese Daten hat bisher keiner auf der Welt. Ja, es gibt zwei „Konkurrenten“ wenn es um Ökobilanzen geht. Eine Gesellschaft sitzt in Frankreich, die andere in Holland. Welche Daten genau die haben, weiß Thomas gar nicht genau. Aber sicher ist er sich, dass es riesiges Potenzial gibt. Alles steht und fällt aber eben mit der Bereitschaft der Firmen, ihre Daten auch offen zu legen bzw. dem GaBi-Team im Projekt zur Verfügung zu stellen. Ohne Daten keine Studie und damit auch kein Vorankommen für die ganzheitliche Bilanzierung. „Ich verstehe Sie, Herr Hoffmann. Ich kann Ihnen ja auch nur immer wieder versichern, dass es uns darum nicht geht. Wir wollen Ihnen nichts Böses. Wir wollen nur helfen das, was es gibt, im Sinne der Umwelt noch besser zu machen. Aber ich verstehe, welche Risiken das trotzdem für Sie birgt, keine Frage. Ich war ja selbst vor meiner Unitätigkeit lange in der Industrie und später auch wieder vor wenigen Jahren. Ich weiß, unter welchem Druck Sie stehen. Also ist mein Vorschlag, dass wir eine andere Lösung finden müssen. Eine, die es erlaubt, dass Sie Ihre Daten zur Verfügung stellen in einer Weise, dass wir damit etwas anfangen können. Andererseits muss sichergestellt sein, dass Ihnen daraus kein Strick gedreht werden kann.“ „Genau, Herr Reiter, genau das ist es. Es ist ein Dilemma, aber dahinter steht, dass wir beide die gleichen Ziele verfolgen. Ich gehör ja zu den Innovativen, schon immer, seitdem mein Vater die Firma gegründet hat, waren wir vorne dabei. Ich sehe das riesige Potenzial an GaBi. Ich weiß nur auch keine Lösung im Moment.
Thomas steht auf und geht kurz in die Küche, um noch heißen Kaffee nachzuholen. Bettina hat währenddessen Felix im Kinderzimmer zum Vormittagsschlaf gebracht. Mittlerweile ist es schon kurz vor 11:00 Uhr geworden. Die Zeit vergeht. Aber Bettina findet gerade dieses Projekt außerordentlich spannend. Sie ist ja selbst keine Ingenieurin und kennt sich mit Technik auch kaum aus. Sie hat vorher bei einer amerikanischen Computerfirma in der Assistenz gearbeitet. Bislang haben sich die meisten GaBi-Projekte um Kunststoffe in Verpackungen oder Autoteilen gedreht. Das waren nie Produkte, zu denen Bettina einen Bezug hatte. Aber bei den Windeln jetzt wird ihr zum ersten Mal die richtige Tragweite der Methode klar. Es ist so leicht, sich vorzustellen, welchen Lebenszyklus eine Windel von der Produktion bis in den Müll und dann zur Entsorgung durchläuft. Man muss sich nur vorstellen, wie viele Windeln sie allein jeden Tag zur Tonne trägt. Bettina gesellt sich wieder zu den beiden Männern im Wohnzimmer und notiert noch kurz die Gesprächsfetzen, die sie eben aufgeschnappt hat, um das Protokoll zu vervollständigen. Dann kommt ihr eine Idee: „Sagt mal, also ich bin ja nicht in den ganzen Datenprozessen drin, aber was ist, wenn man die Daten z.B. nicht nur von einer Firma wie von Herrn Hoffmann sammelt, sondern von fünf Windelfirmen oder mehr. Dann hat man sogar mehr und man kann sie mitteln. Dann weiß man nicht mehr genau, von welchem Einzelnen was kommt, aber trotzdem ist alles auf einer soliden Basis.“
Dr. Hoffmann schaut erst Bettina an, als sie den Satz beendet hat. Dann schaut er zu Thomas. Der braucht kaum etwas zu sagen. Seine Augen verraten, wie begeistert er ist. „Bettina, das ist es, so machen wir es. Das ist einfach und einfach ist meist nicht die schlechteste Lösung. Was meinen Sie, Herr Dr. Hoffmann?“ „Ich stimme zu, Herr Reiter. Ihre Frau hat da einen Punkt. Das könnte gehen. Natürlich setzt es aber voraus, dass wir mit Firmen kooperieren, zumindest in gewisser Weise, die eigentlich unsere Konkurrenten sind. Aber am Ende haben alle mehr davon, das sehe ich auch. Wir können so alle zeigen, dass wir uns für das Thema einsetzen und alles dafür tun, dass unsere Kunden und vor allen deren Kinder auch in Zukunft noch gesund leben. Ich denke, das ist es. Das kann ich in der Unternehmensleitung bei meinen Führungskräften durchkriegen. Mir ist daran gelegen, das hier nicht als Agenda vom Chef durchzuführen, sondern so, dass Ihr Team auch die wirkliche Unterstützung meiner Mitarbeiter hat. Das ist so gegeben. Die Frage ist dann nur: Wer sind die anderen Partner?
Thomas rückt etwas auf dem Stuhl nach vorne und schiebt die Kaffeetasse ein Stück beiseite, so dass die beiden nichts voneinander trennt. „Herr Dr. Hoffmann, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Mein Gefühl ist, dass wir heute den ersten Schritt zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gemacht haben. Das ist das Wichtigste. Wie ich zu meinen Mitarbeitern immer sage: „Wünsche werden selbst erfüllt.“ Ich schlage vor, Sie machen gleich mit Bettina einen Termin aus zu einem Treffen, bei dem wir unsere Mitarbeiter zusammen bringen, damit alle an der Idee weiterarbeiten, wie wir weitere Partner gewinnen und dann auch die Berechnungen so durchführen, dass alle davon etwas haben. Die Umwelt und unsere nachfolgenden Generationen werden es uns danken. Dann schütteln sich die beiden Männer die Hände. Bettina beobachtet den Abschluss des Gesprächs von der Seite. Sie notiert die Vereinbarung und greift danach zum Kalender, um schon einmal ein paar Terminoptionen heraus zu suchen. Hoffmann wendet sich ihr zu. „Danke für Ihre Mitarbeit. Ohne Sie wären wir heute nicht so schnell voran gekommen. Ich muss jetzt leider ganz schnell los, aber meine Sekretärin wird Sie anrufen wegen des Termins. Das Frühstück war übrigens hervorragend, danke.“