Frank läuft den langen Flur im Turm des IKP entlang. Er soll hier heute seinen neuen HiWi-Job antreten. Na ja, zumindest hofft er, dass es ein Job wird. Er braucht Arbeit und hat keine Lust bei Aldi Regale zu putzen. „Komm rein,“ winkt ihn Andreas herein. Er kennt ihn aus dem Studium. Das Studium, das er nur durch Zufall gewählt hat. Eigentlich hatte er Geologie studieren wollen. Aber was man damit wohl später machen könnte, war selbst ihm schleierhaft. Irgendetwas mit Umwelt und Technik wäre super gewesen. Dann ging er den Katalog mit dem Studienangebot der Uni Stuttgart wie ein Daumenkino durch. Darin fand er die Abteilung „Kunststoffe und Umwelt“. Das war es. Dass das eigentlich ein Fehler der Univerwaltung war, die das Kurslehrverzeichnis nicht aktualisiert hatte, wusste er damals nicht. Aber gut war die Entscheidung trotzdem, findet er jetzt. Nur muss er eben endlich fertig werden und dafür braucht es noch ein bisschen Geld.
„Siehst Du die Ordner da drüben,“ grüßt ihn der andere Mann im Boot des GaBi-Teams an diesem Nachmittag. Frank schaut hinüber auf eine ganze Wand voller Aktenordner. Aus einigen hängen Papierfetzen heraus. Die meisten haben gar keine Beschriftung. Andere haben eine Beschriftung, aber Frank wird sehr genau hinschauen müssen, um zu verstehen, welcher Inhalt sich darin verbirgt. „Maler, jetzt bist Du gefragt. Die müssen alle katalogisiert werden. Na, was schaust Du denn so?“ Frank versucht schnell einen anderen Blick aufzulegen. „Nein, nein, alles gut, ist kein Problem, kann ich machen“, rettet er sich. „Mach Dir keinen Kopf, das sieht meist bei uns schlimmer aus als es dann ist. Du musst wissen, wir arbeiten hier nach dem Motto ‚form follows function bei der GaBi. Da ist Ordnung in den Ordnern erst wichtig, wenn man eben Ordnung in den Daten braucht. Verstehst Du?“ „Ja, ja, klar, kein Problem, kriege ich hin.“
Frank zieht sich schnell die blaue Sportjacke aus und hängt sie über einen Stuhl der in der Ecke des Büros steht. Andreas und Paul sind derweil schon wieder in ein Gespräch vertieft. Sie scheinen eine Werkstoffbilanz errechnet zu haben, doch irgendetwas stimmt nicht. Bzw. zweifelt Künzel an, dass das Ergebnis der Software den Tatsachen entspricht. Frank zwingt sich, den beiden nicht zu viel Aufmerksam zu schenken und sich auf die vor ihm liegenden Aktenmeter zu konzentrieren. Michael hatte recht: So schlimm ist es gar nicht. Nach den ersten fünf Ordnern meint er, ein System erkannt zu haben, nachdem sie hier nach und nach im Laufe der bearbeiteten Projekte abgelegt wurden. Zwar gibt es zwischendrin auch immer mal wieder Irrläufer, aber innerhalb der Ordnung sind die vielen Materialdaten sauber geordnet. Er hat gar nicht mehr auf die Zeit geachtet, da ruft plötzlich Andreas mit einem Bleistift hinters Ohr geklemmt rüber: „Na, Maler, wie läuft es denn? Alles gut?“ „Ja, geht. Habe schon die Hälfte durch, würde ich sagen.“ „Super, das hört man gern“, kommt von Frank zurück. „Sag mal, wie lange kannst Du heute eigentlich?“ Maler überlegt nicht lange. Er überlegt eigentlich gar nicht. „Unendlich“, ist seine Antwort. Da dreht sich Paul schnell im Drehstuhl um und sagt nur: „Prima, bist eingestellt.“
Diese Episode des Ordner Inventarisierens bleibt auch die einzige klassische Praktikantentätigkeit, die Frank in den kommenden Wochen und Monaten erlebt. Er fühlt sich sofort wohl im Team, das täglich wächst. Noch ist er mit einem befristeten HiWi-Vertrag angestellt, aber das sollte sich bald ändern. Er arbeitet gemeinsam mit Andreas an einer ganzheitlichen Finanzierung Bilanzierung für ein Auto. Dies soll die erste Studie überhaupt werden, die in der Lage ist, ein ganzes komplexes Auto zu bilanzieren. Frank mag die Arbeit, er mag das Team. Er hat vom ersten Tag an selten auf die Arbeitszeit geschaut. Alle arbeiten hier irgendwie immer und dauernd. Das gilt auch für die Computer. Wenn Rechnungen laufen, dann braucht die Software meist die ganze Nacht, um die Ergebnisse zu produzieren. Dann herrscht hier Schichtbetrieb. Aber andererseits weiß Frank auch nicht, ob das mit GaBi auf Dauer sein soll. Schließlich wäre es sicher mal gut, auch etwas anderes zu sehen. Er hat schon mal einige Zeit als Studi bei IBM gearbeitet. Und letzte Woche hat jemand von Daimler angerufen. Es ging um die Weiterarbeit an einem vorherigen GaBi-Projekt. Franks Gedanken schweifen ab. Dagegen steht ein neues Projekt bei GaBi hier am Institut, bei dem es um die Bilanzierung von Pizza-Kartons geht. Das ist auch sauspannend, denkt er sich. Aber Pizza ist ein gutes Stichwort. Er entscheidet, erst mal kurz Pause zu machen und sich am Automaten unten ein Sandwich zu ziehen.
Unten in der Halle läuft er am Büro von Mark vorbei, einem Kollegen, der nichts mit GaBi zu tun hat, aber auch Industrieprojekte bearbeitet. Er hat die Tür angelehnt und winkt wild, als Frank sich nähert. Kurz deckt der die Sprechmuschel des Hörers ab und ruft, „Frank, komm mal schnell rüber, Christian von Daimler will Dich sprechen.“ Frank ändert seinen Kurs und hechtet zu Mark an den Schreibtisch. „Christian, Frank ist gerade hier bei mir, ich geb ihn Dir mal.“ Frank ergreift den Hörer und Christian meldet sich mit einem kurzen Winken und der Geste, dass er Kaffee holen wird, ab. Als er sich herumdreht und gerade losgehen möchte, stößt er fast mit Andreas zusammen. Der wirft einen kurzen Blick in das Büro hinter Mark, wo Frank nun offensichtlich angeregt mit jemand über ein Energiebilanzthema spricht. Andreas schaut Mark mit einem fragenden Blick an. „Sag mal, mit wem spricht er denn da?“ Mark zieht die Tür etwas zu, damit Frank drin nicht vom Gespräch draußen gestört wird. „Da ist Christian am anderen Ende, Du weißt schon, der von Daimler. Die wollen eine Studie machen und suchen gute Leute. Ich glaube, er macht Frank gerade ein Angebot und….“
Mark hat den Satz noch nicht beendet, da macht Andreas einen energischen Schritt auf ihn zu und schiebt ihn beiseite, um im nächsten Moment die Tür weit aufzureißen. Er macht drei große Schritte auf den Schreibtisch zu. Noch ehe Frank begreift, was eigentlich los ist, reißt Andreas ihm den Hörer aus der Hand. „Müller, hier Künzel. Nur, dass das klar ist: Vergessen Sie es. Der Maler bleibt bei uns. Wiederhören.“ Krach. Der Hörer knallt auf die Gabel. Frank starrt zunächst verdattert das Telefon an. Dann schaut er zu Andreas, der noch immer halb über den Schreibtisch gebeugt ist und sich mit einer Hand vor Franks Gesicht aufstützt. „Was schaust Du so, Frank?“ fragt Künzel mit aufgesetzt lockerem Ton. „Glaubst ja wohl nicht, dass wir Dich hier gehen lassen. Kennst Du nicht den Film „Das Boot“? Da gibt es eine Szene, da liegt das Boot auf Grund und Prochnow liegt am Boden, ist fast am Ende. Dann sagt er den Satz zu einem seiner Männer: „Gute Leute muss man haben… gute Leute.“ So machen wir das bei GaBi auch. Verstanden?“ Franks Gesichtszüge entspannen sich. Vor ein paar Minuten war er noch drauf und dran, seinem Chef eine rein zu hauen. „Was fällt dem ein?“, hatte er sich gedacht. Aber nun, nachdem auch Andreas breit und wohlwollend grinst, sieht er, dass dieser jedes Wort ernst meint. „Aber mein HiWi-Vertrag läuft doch bald aus, Andreas,“ wendet Frank ein. Daraufhin beendet Andreas seine gestützte Haltung auf dem Tisch und stellt sich zum Gehen hin. „Frank, Du weißt doch, was Reiter immer sagt: „Wünsche werden selbst erfüllt. Das kriegen wir schon hin.“