Es ist Dienstagmorgen, 7:00 Uhr. Reiter sitzt bereits seit einer halben Stunde in seinem kleinen Ford-Fiesta. Normalerweise telefoniert er im Auto viel, führt Personalgespräche. Aber so früh am Morgen ist dafür noch nicht die Zeit. Er ist wie jeden zweiten Tag auf dem Weg von Karlsruhe nach Stuttgart an sein Uni-Institut. Bald wird GaBi aus den aktuellen Räumlichkeiten in der Böblinger Straße ausziehen müssen, denkt er. Sie sind ja bereits zweimal in den vergangenen zwei Jahren umgezogen, aber wenn das Projekt so weiterwächst, muss der nächste Umzug erneut Luft schaffen. Wie es überhaupt weitergehen soll, das weiß Reiter auch nicht. Auf der Strecke ist schon wieder Stau, aber er hat das eingeplant. Überhaupt plant er jeden Schritt des Tages genau durch. Ohne diese enge Taktung würde er das ganze Pensum überhaupt nicht schaffen. Er leitet nun zwei Institute, das Fraunhofer ICT in Karlsruhe und das Uni-Institut in Stuttgart, dazu natürlich der normale Betrieb mit Vorlesungen und Seminaren, Personalverantwortung für 60 Mitarbeiter, sowie Hochschulgremien und Verwaltung. Am Anfang, 1993 war klar, dass er dazu nicht nein sagen würde. Der Fraunhofer-Vorstand gab ihm den Auftrag für die Neugestaltung eines Institutes. Als das Konzept gefiel, fragte man ihn, ob er das ICT in Nebentätigkeit zur Uni in Stuttgart zu einem Turnaround führen könnte. Doch was er sich da eingehandelt hat, das wird ihm jetzt erst Anfang 1994 richtig klar. Natürlich dürfen das die Jungen nicht mitkriegen, aber er kämpft. Und zwar nicht nur mit der Uni-Verwaltung und dem Wettbewerb um Ökobilanzen. Er kämpft auch mit sich, der eigenen Gesundheit.
Vor drei Monaten ging es los. Daran erinnert er sich noch gut. Es war vor einem Vortrag mit Industriepartnern. Er hatte an dem ganzen Tag noch so gut wie nichts gegessen oder getrunken. Eine Verpflichtung jagte die nächste — da ein Telefonat, da ein Treffen, da Korrespondenz, ein Diktat, eine Diplomarbeitsbesprechung… Ein ganz normaler Tag eben. Noch vor Kurzem hatte er über den Unterschied zwischen dem Tagesablauf bei Professoren und Managern in der Industrie in seinem Buch „Spurwechsel“ geschrieben, das bald fertig werden soll. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass auch der Professorentag kein Zuckerschlecken ist. Wobei man natürlich sagen muss, dass Reiter sich mindestens das dreifache Pensum eines „normalen“ Professors aufgehalst hat. Aber er kann nicht anders. Das weiß er. Es ist nicht so, dass er nicht manchmal auch gern anders wäre, mehr Freizeit hätte, mehr Zeit für die Familie. Aber er kann nicht aus seiner Haut. Und das wissen auch die Frau und die Kinder, auch wenn es nicht einfach ist. Überhaupt nichts ist gerade einfach. Aber Sorge macht ihm, was sich eben vor wenigen Monaten ereignet hat, und seitdem immer wieder. Er war also gerade auf dem Weg zu einem abendlichen Vortrag im Institut, bei dem auch wichtige Industriepartner von GaBi dabei waren, da gingen die Lichter aus. So beschreibt er es heute im Rückblick. Er ist nicht komplett umgefallen, aber fast. Er erinnert sich noch daran, dass ihm auf dem Weg zum Hörsaal plötzlich der Schweiß über die Stirn lief. Sein ganzes Hemd klebte an ihm. Gleichzeitig war ihm kalt. Sein Sichtfeld verengte sich. Plötzlich sah er alles verschwommen. Er hielt sich an der Wand fest und schaffte es irgendwie ein paar Meter zurück, um in die Toiletten zu torkeln. Dort schloss er sich erst mal ein und setzte sich auf den Klodeckel. Der Schwindel nahm zu und kurz war ihm, als würde er komplett bewusstlos. Alles war schwarz um ihn. Er spürte nur, wie der Schweiß weiter seinen Rücken und seine Hände hinunter lief. Er lehnte den Kopf seitlich an die Trennwand an, die die Toilette von den Pissoirs trennte. Er hörte, wie jemand zum Pinkeln hereinkam. Er hatte aber keine Kraft, die Aktentasche zu halten, die vor ihm auf dem Boden stand und von außen zu sehen sein musste. Er hatte überhaupt keine Kraft mehr in dem Moment.
Nach einigen Augenblicken, die Reiter vorkamen wie Stunden, war der Spuk vorbei. Er konnte wieder besser sehen. Der Schweiß ließ nach. Reiter schaute zuerst auf die Uhr: 18:20. Vor fünf Minuten hätte sein Vortrag anfangen sollen. Aber Aufstehen ging einfach noch nicht. Er wartete noch einige Minuten, bis er sicher wieder auf den Beinen stand. Offensichtlich war draußen keiner. Er öffnete die Tür und warf sich am Waschbecken Wasser ins Gesicht. Er war noch kreidebleich. Dann richtete er sich die Krawatte, setzte die Brille wieder auf, nahm die Aktentasche und steuerte auf den Hörsaal zu. „Entschuldigen Sie meine verehrten Damen und Herren, ich wurde kurz aufgehalten“, begrüßte er die Anwesenden im Vorbeigehen. Dann nahm er die Overheadfolien aus der Tasche und seine Notizen und begann zu reden als wäre nichts gewesen. Er versprühte Begeisterung und Entschlossenheit, so wie man ihn kannte. Die Zuhörer waren fasziniert vom Fortschritt des Gabi-Projektes und vom kontinuierlichen Wachstum der Datenbank. Wie es in ihm drin aussah, das konnte hier keiner ahnen — das sollte niemals jemand ahnen. Dann wäre er erledigt. Dann wäre auch die GaBi in Gefahr. Natürlich hatte er gute Leute, auf die 100% Verlass war. Aber sie brauchten ihn noch. Sie standen noch immer am Anfang. Keiner wusste so recht, wie es genau weitergehen würde, ob GaBi wirklich dauerhaft mehr sein würde als nur eine Forschungsmethode, also ein richtiges tragfähiges Produkt.
Das alles geht ihm nun im Kopf herum, als er vor sich auf die roten Bremslichter im Stau vor Stuttgart schaut. Damals hatte er gehofft, dass dies ein Einzelfall war, eine kleine gesundheitliche Eskapade. Er hatte sich am Tag danach auch gleich zum Hausarzt begeben. Der überwies ihn an einen Kardiologen. Der machte alle möglichen Tests, aber er fand nichts. „Sie sollten weniger arbeiten“, hatte er nur gesagt. Dafür erntete er bei Reiter nur ein müdes Lächeln. Er war überzeugt, dass da mehr dahinter steckte. Vielleicht war es ein unentdeckter Herzinfarkt oder ein Schlaganfall. Er hatte schon alle möglichen Fälle von Fehldiagnosen und nicht erkannten Erkrankungen gehört. Aber auch die anderen Ärzte fanden nichts. Doch das änderte nichts an den plötzlich auftretenden Attacken. Sie wurden immer schlimmer, kamen immer öfter. Und selbst in diesem Moment hier im Auto, wenn er nur daran denkt, merkt er, wie sich sein Hals zuschnürt. „Jetzt reiß Dich mal zusammen“, sagt er laut zu sich selbst. Im Auto kann ihn schließlich niemand hören und auch nicht für verrückt erklären. Aber bedenklich ist es schon. Er will sich jetzt aber konzentrieren. Nachher steht ein Treffen mit einem Automobilkunden und Andreas an. Offensichtlich gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen zu einer Studie. Da muss er alle sieben Sinne beisammen haben, um hier zu einer Lösung zu kommen, damit das Projekt weitergehen kann.