Anhang IV: Promotionen
1. Ganzheitliche Bilanzierung als Instrument zur Bauteilspezifischen Werkstoff- und Verfahrensauswahl (Thomas Dekorsy, Stuttgart, 1993)
2. Ganzheitliche Bilanzierung — vom Bauteil zum System am Beispiel von Verkehrsträgern (Manfred Schuckert Stuttgart 1996)
3. Methodik der Lebenszykluskostenanalyse und –planung (Life Cycle Costing) für die Entwicklung technischer Produktsysteme unter Berücksichtigung umweltlicher Effekte (Jens Franzeck Stuttgart 1997)
4. Zielabhängige Ökobilanzierung am Beispiel der industriellen Teilereinigung (Matthias Finkbeiner Jena 1997)
5. Beitrag zur Bewertung der Ganzheitlichen Bilanzierung als Grundlage der Bauteilentwicklung (Konrad Saur Stuttgart 1998)
6. Einfluss von Recyclingverfahren auf die umweltliche Produktbilanz (J. Arnulf Bohnacker, Aachen 1998)
7. Modellierung und Optimierung verfahrenstechnischer Prozesse in der Lackiertechnik (Matthias Harsch, Aachen 1998)
8. Modellbildung zur computergestützten Ganzheitlichen Bilanzierung und Bewertung von Produktlebenswegen (Christine Cornelia Pfleiderer, 1998)
9. Integration systematischer Analyse und Prognose in die Ganzheitliche Bilanzierung — Instrumentarium zur rechnergestützten Modellierung ( Thorsten Volz, Aachen 1999)
10. Parametrisierte Lebenszyklusanalyse zur umweltlichen Optimierung eines mit Polyurethan wärmegedämmten Kühlschranks (Holger Beddies 1999)
11. Methode der standort-spezifischen Wirkungsanalyse anhand von SO2-Emissionen — ein Beitrag zur Ganzheitlichen Bilanzierung (Johannes Gediga, Shaker 2001)
12. Die Bedeutung der funktionsbasierten Charakterisierung von Flächen-Inanspruchnahmen in industriellen Prozesskettenanalysen (Martin Baitz Shaker Verlag 2002)
13. Optimierung der Metallzerspanung am Beispiel unterschiedlicher Schmierkonzepte (Robert Gabriel, Stuttgart 2003)
14. Ökologische und ökonomische Bewertung des Materialrecyclings komplexer Abfallströme am Beispiel von Elektronikschrott — eine Erweiterung zur Ganzheitlichen Ökobilanz (Constantin Herrmann Shaker Verlag 2004)
15. Prognose von Umweltauswirkungen bei der Entwicklung chemischer Anlagen (Thilo Kupfer Stuttgart 2005)
16. Modell zur ökologisch-technischen Lebenszyklusanalyse von Nahverkehrsbussystemen (Michael Faltenbacher Stuttgart 2006)
17. Methode zur Prognose der Ökobilanz einer Großanlage auf Basis einer Pilotanlage in der Verfahrenstechnik (Maiya Shibasaki Stuttgart 2007)
18. Systematischer Ansatz zur Abschätzung von länderspezifischen Sachbilanzdaten im Rahmen der Ökobilanz (: Cecilia Tiemi Makishi Colodel Fraunhofer Verlag 2010)
19. Methode zur Bestimmung von Umweltprofilen der zukünftigen Erdölversorgung und erdölbasierten Kraftstoffbereitstellung (Oliver Schuller Fraunhofer Verlag 2011)
Anhang III: Sprüche und Anekdoten
FUN MEMORIES (Martin Baitz)
Um 1995 rum: „Neuste Technik rettet GaBi Experten“
Der Frischel Harald Florin wird nach Wolfsburg geschickt, um dort vor Ort die Abteilung GaBi-Ökobilanzen von VW aufzubauen. Da er noch nicht überall Erfahrung hat im Thema, aber viel gefragt wird von den VW’lern, rettet er sich mit einem der ersten Handies immer mal wieder auf die Toilette und ruft die erfahrene Ingrid an, um nachzufragen, was er antworten soll.
Um 1997 rum: „Ehrlichkeit unter Geschäftspartnern“
Thorsten Volz und Harald Florin fahren nach Florida auf die Ecoinforma Software Messe, um GaBi 3 vorzustellen. Alles Organisatorische wie die Gestaltung des Standes und der nötigen Randbedingungen vor Ort passiert natürlich im Vorfeld über das Telefon. Harald macht trotz seiner jungen Jahre eine sehr gute professionelle Telefonfigur gegenüber der Dame von der Messe in den USA. Beim ersten physischen Zusammentreffen vor Ort begrüßt sie Harald mit den Worten: „Oh, I thought you were older.“ Er erwidert: „And I thought were younger.“ Das Eis war sowas von gebrochen ….
Um 1999 rum: „Der Unterschied zwischen höchster Präzision und akzeptabler Abweichung“
Ein guter Hiwi mit Ambitionen mal als Wissenschaftler am Institut zu arbeiten kommt nach einer Kontrollrechnung in der GaBi zufrieden zu einem erfahrenen Kollegen und vermeldet: “ Alles im grünen Bereich, maximal 300% Abweichung.” Etwas schockiert blickt ihn sein erfahrener Kollege an und erwidert: Wir bohren zwar manchmal die dünnsten wissenschaftlichen Bretter mit höchster Präzision, doch dieser Wert sprengt selbst die größte Gelassenheit.
Um 1998: „Are you a truck?“
Die legendären Dissertations-Seminare haben sich derart rumgesprochen, dass sich mittlerweile Heerscharen von Studenten ans Hiwis, Köche, Mundschenke, Putzteufel oder Fahrer anbieten, um mit genommen zu werden. Auf der Rückfahrt laden wir derart viel Wein in meinen alten Benz 280TE Kombi mit 401.000 km (die wir sicherheitshalber beim EU Transit durch die Schweiz anmelden), dass ich die Frage am Zoll bekomme: „Are you a truck?“
Um 2000: „Anspruchslos ist nachhaltig“
Es begab sich neulich, dass man die Möglichkeit bekam (neuere) Büromöbel aus zweiter Hand zu bekommen und so unser etwas angestaubtes Interieur aufzubessern. Gesagt, getan. Die Möbel kommen, leichtes Gerangel um die besten Stücke beginnt, doch dann ist alles geregelt. Was tut der kollegial denkende GaBianer, dem ständig zu Ohren kommt, dass die Multi-Kulti-Truppe mit ihren Sprachstudenten aus dem 3. Stock scheinbar immer zu wenig Möbel hat? Er fragt freundlich nach, ob man etwas von unseren Möbeln habe möchte. Soweit klasse und die Damen kamen auch gerne zur Besichtigung. Reaktion nachdem sie die Sachen gesehen haben: “Das ist ja alles Schrott, ne, also und um Gottes willen, danke nein.” Reaktion eines etwas sauren GaBianers: “Entschuldigung, mit diesem Schrott haben wir Jahre lang fett Geld an die Uni gebuckelt. Und über Produktivität wollen wir mal lieber nicht miteinander diskutieren.”
2001 Hawaii: „Wünsche werden selbst erfüllt“
Anfang 2001 wird bekannt, dass eine internationale Konferenz — die Ecobalance ausgerichtet von Japanern — in Waikiki Beach Honululu, Hawaii stattfinden soll. Um beim Dienstreise-Antrag keine dummen Fragen gestellt zu bekommen, wird ein Hotel im Nachbar Stadtteil reserviert. Die Konferenz in 96826 McCully, HI, USA war fachlich extrem erhellend und die zwei Wochen Urlaub, die drangehängt (und natürlich privat gezahlt) wurden erholend (-: 2006 rum) Kollege Schöch die PE verlässt Richtung WGV. Er sucht neue Herausforderungen, nachdem er das Konzept „Führen durch Tools“ an der PE erfolgreich eingeführt und umgesetzt hat. Ein herber Verlust innerhalb der Führungsebene der PE, doch er bleibt uns als Finanzfachmann und Gesellschafter im Hintergrund glücklicherweise erhalten.
Um 2008 rum: „Daten kosten nichts“
Der große Daimlerkonzern gibt sich die Ehre und möchte mit PE ein Projekt zum Thema „alternative Kraftstoffe wie CNG, LPG, Wasserstoff und Biokraftstoffe“ durchführen. Das schriftliche Angebot inkl. Kostenaufschlüsselung liegt vor und Daimler versucht die Kosten zu drücken doch Umfang und Qualität unangetastet zu lassen. Nach 2–3 vergeblichen Versuchen hat „Dr. Wichtig“ von Daimler die Eingebung schlechthin und sagt: Ha, jetzt habe ich sie. Sie listen hier Kosten für einen Datensatz „Wasserstoff“. Ich weiß aber, dass sie die Daten bereits entwickelt und zur Verfügung haben und wir ihn daher im Projekt direkt nutzen können. Also streichen sie bitte die Kosten für den Datensatz. Antwort von PE: Wenn alles, was bereits entwickelt ist, kostenfrei zur Verfügung steht, dann stellen sie uns bitte eine ihrer S-Klassen zur Verfügung, die bei Ihnen bereits fertig auf dem Firmenparkplatz steht. Betretenes Schweigen bei Dr. Wichtig.
GABI-SPRÜCHE
- Ein GaBianer auf Rückfragen zu einem Projektbericht gegenüber dem Auftraggeber: “Ich schreibe ja keinen Bericht für Dumme.”
- Auf die Anfrage, einen Projektumfang eine Woche vor Abgabe kostenfrei zu erweitern: “Es geht immer mehr als man denkt, doch irgendwann ist hotten.”
- Beim Datenbankaufbau aufgrund vermehrter Nachtschichten: “Wir haben in der Böblingerstrasse gerade einen 24-Stunden Telefondienst eingerichtet”.
- Kollege A zu B, der gerade um 17.30 Uhr das Institut verlassen will: “Na, hast du einen halben Tag Urlaub?”
- Nach einer Hiobsbotschaft bezüglich der Kooperation IKP und PE, die einen jungen Kollegen etwas verunsicherte: “Egal, wenn wir auch dann und wann mal absaufen, irgendwo tauchen wir immer wieder irgendwo auf !“
- Eine Mitarbeiterin beim Dissertationsseminar: “Ich sehe weder das Problem, noch habe ich die Lösung.”
- „Gute Leute muss man haben — gute.“
- „GaBi ist Lifestyle.“
- „Die Amerikaner forschen, die Deutschen beantragen.“
- „Einmal GaBi, immer GaBi.“
- „Form follows function.“
- „Die normative Kraft des Faktischen“
- „Latent sympatischer Größenwahn“
- „Dünnste wissenschaftliche Bretter mit höchster Präzision bohren“ (Software/Daten- Produktisierung von neusten Erkenntnissen)
Anhang II: Erfolgsfaktoren kompakt
TEAM
- Interdisziplinarität des Teams (z.B. IT, BWL, mach, verf, Öko-Geologie (M.-A. wolf, auch wenn er nicht mitgemacht hat)
- Starke intrinsische Motivation Thema Nachhaltigkeit („ich habe sehr bewusst etwas mit Umwelt/Nachhaltigkeit studiert und wollte auf jeden Fall in diesem Bereich arbeiten.“
- Abgrenzung der Interessen („keiner ist dem anderen auf die Füße getreten“, „jeder war zu seinem abgesteckten Feld Experte“ das kann man auch anders auslegen: kein Wettbewerb, einseitige Sichtweisen; es stimmt ja auch nicht ganz, denn es waren immer die Ingenieure in Überzahl weil wir eben im Maschinenbau verortet waren.)
- Offene Kommunikation, rauer Ton, Direktheit
- „Männerdominiert“ kompetetiv/sportlich („Promotion bitte nach 18:00“)
- Resilienz beim Umgang mit slow-mover Kunden
- Humor
- Fehlerkultur („besser Fehler früh machen und daraus lernen“)
- Selbstbewusstsein auf Basis Wissen („Wir hatten Daten, die sonst keiner hatte“ ein dominanter Aspekt!! Unsere Daten wurden von uns kleinzahlig gemittelt; wenn wichtig, kann ich dazu Erklärung liefern)
- Rande der Arroganz/Allmacht („In Konferenz aufgestanden und Redner ins Gesicht gesagt, dass unrecht“)
- Starkes fachliches Interesse an Technologie/Themen/Materialien
- Pragmatismus („nicht mit Demonstrieren und Baumwollsockenträgern“)
- Disziplin und Arbeitseinsatz
- Hohe Risikobereitschaft, insbesondere Gründerteam PE/ThinkStep
- Kommunikationskompetenz und Vertriebsstärke
- Unternehmerisches Denken und Handeln als selbstverständliche Haltung
- Eingeschworenes Team aufgrund von Sonderstatus in Uni („wir waren anders“)
- Kultur-/wertegetriebene Rekrutierung, Studenten rekrutieren Studenten („Ich kannte xy aus der Vorlesung und habe ihm von GaBi erzählt)
- Mischung aus Spezialisten und Generalisten ohne Bewertung als besser oder schlechter als das andere
- Selbstbewusstsein in Bezug auf persönliche Berufswünsche und Bedarfe („an dem Punkt war es für mich Zeit, woanders weiter zu machen“)
- Kreativität und Neugier
FÜHRUNG
- Thematische Weitsicht, Innovationsorientierung („weit vor der Zeit“)
- BEGEISTERUNG (Kommentar: Dieses Wort ist in jedem Interview x-mal gefallen)
- Erkennen individueller Anreize seitens PE (z.B. Promotion)
- Schnelle Übergabe von Verantwortung ans Team bei gleichzeitiger strategischer Rahmengebung/Leitung
- Senioritätsprinzip mit Ausnahmen -> leistungsorientiert
- Balance zwischen Vertrauen und Verantwortung („ins kalte Wasser geworfen“)
- Selbstverantwortung und Wertschätzung („wenn man Erfolge eingefahren hat, wurden sie einem auch anerkannt“)
- Schutz des Teams gegenüber Uni-Eigenheiten
- Belohnungen („Doktorandenkolloqium in der Toskana“)
- Internationale Möglichkeiten („In wenigen Monaten zum Senatorstatus geflogen“)
- Visionärsdenken bei Gründung und Skalierung ThinkStep
- Wissenschaft als Basis/Rückgrat für hochqualitative Lösungen
- Flache Hierarchien, auf Augenhöhe („alle machen alles und sollen/dürfen das auch“)
- VERTRAUEN, Vertrauen, Vertrauen („auch als Hilfskraft durfte ich schon Vorträge halten“)
- Persönliche Gespräche und Kontakte als Türöffner
- Führung als Schutzschild, Rücken freihalten (insbesondere bzgl. Uni/Politik)
- Abwechslung und Abenteuer als Anreiz („einfach spannende Projekte gemacht“)
- Persönliches Wachstum als Anreiz (z.B. Reisetätigkeit, Sprachen)
- Verzahnung zwischen Wissenschaft und Management als Einheit (Mitarbeiterpublikationen, wissenschaftliche Weiterqualifizierung)
- Hoher Anspruch an Output, Qualität und Quantität auf höchstem Level (z.B. unzählige Publikationen)
- Nicht reden, machen -> Unternehmerisches Denken in jeder Hinsicht, Intrapreneurship („Deine Stelle musst Du Dir selbst einwerben)
- Pragmatismus (positiv) , Probleme gibt es nicht, nur Herausforderungen und Lösungen (siehe John F. Kennedy vor der Mondmission — “We choose to go to the Moon in this decade and do other things, not because they are easy, but because they are hard, because the goal will serve to organize and measure the best of our energies and skills, because that challenge is one that we’re willing to accept.”
PRODUKT
- Innovationskraft von Ganzheitlichkeit
- Frühes Denken in Software
- Datenbanken und Umfang der Daten
- Fortlaufende Erweiterung
- Koppelung 50% Mensch/Berater, 50% Software
- Wissenschaft als Fundament, Seriosität
- Persönliche Beziehung zu Kunden, teils mit Rollenwechsel (interner Aufbau GaBi z.B. in Automotive)
STRUKTUR/ORGANISATION
- Synergienutzung aus Uni, Fraunhofer, Business
- Rekrutierung über die Vorlesung Werkstoffkunde als Kanal
- Agiles Arbeiten (bevor das Konzept erfunden war) -> immer Zielorientierung im Blick, der Weg wird kreativ gefunden
- Räumliche Nähe unter Mitarbeitern -> Uni/Fraunhofer in einem Büro
- Sichtbarkeit/Marketing über die Wissenschaft bewusst erkannt und genutzt (z.B. Konferenzen, Publikationen)
- Use Cases für Steigerung der Effizienz (z.B. Publikationen nach einem bestimmten Schema/Gerüst), schnelle Skalierung
- Nutzung von Schnittstellen als Chance
Anhang I: GaBi-Historie auf einen Blick
1989 Geburtsstunde der Abteilung „Ganzheitliche Bilanzierung“:
Gründung der Abteilung durch Prof. Dr. Peter Eyerer am Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) an der Universität Stuttgart
1989 Das Montreal-Protokoll tritt in Kraft
1991 Erste Veröffentlichung: Eyerer, P.; Dekorsy, Th.; Schuckert, M.: Ganzheitliche Bilanzierung von Produkten und Verfahren, Kunststoffe 81. 1991 4, S. 268–273
1991 Umzug vom Campus Vaihingen in die Forststraße
1992 GaBi Software Version 1.0!
1993 Umzug in die Böblinger Straße
1996 Meilenstein: Erste komplette Bilanz eines Autos (VW Golf)
1996 Das Buch „Ganzheitliche Bilanzierung. Werkzeuge zum Planen und Wirtschaften in Kreisläufen“ von Peter Eyerer erscheint (ISBN 3–540–59356-X)
1997 DIN EN ISO 14040 „Umweltmanagement — Ökobilanz — Grundsätze und Rahmenbedingungen“
1997 Das Kyoto-Protokoll wird angenommen
2000 Das Buch „Ökologische Bilanzierung von Baustoffen und Gebäuden. Wege zu einer neuen ganzheitlichen Bilanzierung“ von Prof. Reiter und Prof. Reinhardt erscheint (ISBN 978–3–7643–6207–2)
2000–2004 EU-Projekt BIOFOAM “Bio-source based recyclable poly(ester-co-amide)s and poly(ester-co-urethane)s for industrial foam applications”- Entwicklung der Life Cycle Working Environment Methode (LCWE 1.0)
2002 Professur für „Umweltgerechte Produkte und Prozesse“ im Fachbereich Maschinenbau an der Universität Kassel für den ehemaligen Kollegen Prof. Dr.-Ing. Jens Nesselberg (seit März 2002)
2002 Das Jahr des großen Zusammenzugs: Umzug nach Echterdingen — Einzug bei der PE
2002 Beginn der UNEP/SETAC Life Cycle Initiative
2003 Entstehung der SoFi Software bei PE als konsequente Erweiterung auf Corporate Sustainability (GaBi: Product Sustainability)
2005 Das Kyoto-Protokoll tritt in Kraft
2006 Reform der Normen: DIN EN ISO 14040 wird überarbeitet und DIN EN ISO 14044 „Umweltmanagement — Ökobilanz — Anforderungen und Anleitungen“ entsteht (löst 14041–43 ab)
2006 Veröffentlichung im Rahmenprogramm “Forschung für Nachhaltigkeit” (FONA) Abschlussbericht des Vorhabens „Analyse, Bewertung und Dokumentation von Forschungsschwerpunkten für den Themenbereich »Nachhaltig wirtschaften in rohstoffnahen Produktionssystemen«“ (Hirth et al.)
2006 Wechsel der Abteilung GaBi vom IKP an den Lehrstuhl für Bauphysik (LBP)
2006 Ausrichtung des 13th SETAC Europe LCA Case Study Symposium, Stuttgart, Germany, 7–8th December 2006
2007 Gründung der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB)
2007 Professur für Systemumwelttechnik an der TU Berlin für Prof. Dr. Markus Finkbeiner (Leiter des Fachgebietes Sustainable Engineering am Institut für Technischen Umweltschutz)
2008 Angliederung der Abteilung GaBi ans Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP;
Einführung der drei Gruppen der Abteilung: „Nachhaltiges Bauen“, „Werkstoffe und Produktsysteme“ und „Energie und Mobilität“
2009 Veröffentlichung des „Planetary Boundaries“-Konzepts
2010 Veröffentlichung „LANCA Land Use Indicator Value Calculation in Life Cycle Assessment — Method Report” (Beck et al.)
2010 Veröffentlichung des ILCD Handbook: “General Guide for Life Cycle Assessment — Detailed guidance”
2011 Veröffentlichung des FC HyGuide „Guidance Document for performing LCAs on Fuel Cells and H₂ Technologies” (Lozanovski et al.)
2011 Beginn der EU Product Environmental Footprint (PEF) Initiative
2012 Ausrichtung der 8. Ökobilanzwerkstatt für Nachwuchswissenschaftler*innen in Stuttgart
2012 Umzug der Abteilung GaBi in den Stuttgarter Engineering Park (STEP)
2014 Veröffentlichung der Broschüre „TUT WAS! Tipps zum Klimaschutz für Beruf und Alltag“ (Illner et al.)
2014–2018 Sonderforschungsbereich TRR 141 „Biological Design and Integrative Structures”
2015 Beschluss des Paris Agreement
2015 Veröffentlichung des EeB Guide “Guidance Document — Part A: Products” und “Guidance Document — Part B: Buildings” (“Operational guidance for life cycle assessment studies of the Energy Efficient Building Initiative”) (Gantner et al.)
2016 Die 17 UN Sustainable Development Goals (SDGs) treten in Kraft
2016 Veröffentlichung „LANCA. Characterization Factors for Life Cycle Impact Assessment, Version 2.0“ (Bos et al.)
2017 Professur für „Ökobilanzierung und Kreislaufwirtschaft“ an der TH Bingen für den ehemaligen Kollegen Prof. Dr. Thilo Kupfer
2017 Professur für „Nachhaltige Unternehmensführung“ an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) für den ehemaligen Kollegen Prof. Dr.-Ing. Sebastian Gabriel (seit März 2017)
2017–2019 EU-Projekt „NECOMADA — Nano-Enabled Conducting Materials Accelerating Device Applicability“ Themenfeld: gedruckte Elektronik auf Basis von Tinten mit leitfähigen Nanopartikeln (Nachfolgeprojekt: LEE-BED)
2017 Beginn des Sonderforschungsbereichs 1244 „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen ” (SFB 1244) (Laufzeit bis 2020)
2017 Namenswechsel von LBP zu IABP (Institut für Akustik und Bauphysik)
2017 Beginn des Leistungszentrum „Mass Personalization“ Stuttgart (Pilotphase bis 2020)
2018 GaBi Zusatzdatenbank „Kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe (CFK)“ wird in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IGCV entwickelt und von thinkstep vertrieben
2018 Die 1000. Veröffentlichung der Abteilung: Hohmann, A.; Albrecht, S.; Lindner, J.P.; Wehner, D.; Kugler, M.; Prenzel, T.; Pitschke, T.; Seitz, M.; Schüppel, D.; Kreibe, S.; von Reden, T.: Recommendations for resource efficient and environmentally responsible manufacturing of CFRP products — Results of the Research Study MAI Enviro 2.0. 2018
2018 Professur für „Nachhaltigkeit im Ingenieurwesen“ an der Hochschule Bochum für den Kollegen Prof. Dr.-Ing. Jan Paul Lindner (seit März 2018)
2019 Start des Exzellenzcluster IntCDC „Integrative Computational Design and Construction for Architecture“ (Laufzeit bis 2026)
2019 Start des EU-Projekts LEE-BED “ Innovation Test Bed for Development and Production of Nanomaterials for leightweight embedded electronics“ (Nachfolgeprojekt von NECOMADA) Themenfeld: gedruckte Elektronik auf Basis von Tinten mit leitfähigen Nanopartikeln (Laufzeit bis 2022)
2019 Online-Software GENERIS® zur lebenszyklusorientierten Planung von Gebäuden wird zum Produkt
2019 Erneute Ausrichtung der 15. Ökobilanzwerkstatt für Nachwuchswissenschaftler*innen in Stuttgart
2021 Ausblick: Ausrichtung der LCM (International Conference on Life Cycle Management) in Stuttgart gemeinsam (IBP/IABP) mit Festo und DGNB
Entwicklung Software GaBi
GaBi Software Versionen (sicher schön als Punkte zum Zeitstrahl)
1.0: 1992 (Version 1.2 1993)
2.0: 1995 (oder 1996?)
3.0: 1998 (April)
4.0: 2003 (Version 4.4 in 2006)
5.0: 2011
6.0: 2012
7.0: 2015 (GaBi ts)
8.0: 2017 (20.07.2017)
Epilog: Krieg, Verantwortung und unternehmerische Vorbilder in der Universität
Dieses Buch entstand maßgeblich in einer Zeit, in der in der Ukraine die Bomben krachten und Panzer rollten. All das scheint auf den ersten Blick nichts mit GaBi und nachhaltigem Unternehmertum zu tun zu haben. Wie so häufig, macht also erst der zweite Blick unter die Oberfläche der Schlagzeilen klar, wie viel beides miteinander zu tun hat. Zuallererst steht hier das Thema Nachhaltigkeit im Vordergrund. Kriege zerstören nicht allein Menschen — sie zerstören auch den menschlichen Lebensraum. Wasser wird verschmutzt, der Boden verseucht, die Nahrungsmittel verknappen sich und gesamte weltweite Märkte brechen zusammen. Das alles und noch viel mehr gilt es zu betrachten, wenn man einen Krieg mit der Brille der Ganzheitlichkeit sieht. Doch da gibt es noch eine Komponente, die in Bezug auf die hier erzählten Geschichten im Rahmen der GaBi-Ausgründung mindestens genauso wichtig ist: Die Rolle von Führungspersönlichkeiten, die nicht allein Visionen haben, sondern diese auch mit einem unternehmerischen Mindset umsetzen können.
Es ist ein Mittwochnachmittag. Thomas Reiter ist zu „Gast“ am ICT — dem Fraunhofer Institut für Chemische Technologie. Zwölf Jahre lang war er hier von 1994 bis 2006 Institutsleiter neben der Tätigkeit als Lehrstuhlinhaber in Stuttgart und der Leitung des dortigen Instituts für Kunststoffkunde und -kunde. Noch heute hat er am Fraunhofer ICT ein Büro . Zwar kennt ihn die Dame an der Pforte nicht mehr und längst weiß er nicht mehr, wer genau heute hinter welcher Bürotür auf welchem Gang sitzt. Doch jeder hier hat einmal von ihm gehört. Und einige haben ihn auch noch erlebt. „Der Thomas war einer der letzten Visionäre“ hier, meinen einige. Das heißt nicht, dass Visionäre per se bessere oder schlechtere Chefs sind als andere. Thomas aber hat gezeigt, dass aus Visionen Taten folgen, die ohne Vision nicht möglich gewesen wären. „Schau mal“, zeigt er aus dem Panoramafenster am Ende eines Flurs auf die weitläufige Fläche um das Hauptgebäude. „Da hinten gibt es einen großen Schießstand. Da habe ich damals die hüllenlose Patrone miterfunden. Na ja, nicht erfunden, aber die Idee kam mir. Weißt Du, wieviel Schmutz entsteht, wenn die ganzen Patronenhülsen immer in der Umwelt liegen bleiben? Das musste doch auch anders gehen. Und so kam ich drauf, dass man auch eine entwickeln kann, die noch im Flug mitverbrennt und somit auch noch deutlich mehr Schub für das Geschoss bietet.“
Wenn Thomas das so erzählt und danach gleich selbst über das gerade Erzählte lacht, könnte man meinen, das hier sei Science Fiction oder ein Trickfilm über Daniel Düsentrieb. Doch auch wenn Thomas selbst diese Geschichten mit dem kurzen Kommentar „verrückt“ mehr oder weniger abtut, so sind es genau diese Ideen und deren Ursprung, welche das Unternehmertum eines Thomas Reiter als Beispiel und Vorbild für Ausgründungen aus der Uni ausmachen. Fast jede seiner täglich sicherlich hundert Ideen beginnt immer mit einem: Einer Frage, die sich aus einer ganz einfachen Beobachtung ableitet. Wie verhindert man Müll in der Umwelt? Wie kann man aus Abfall etwas Brauchbares machen? Wie kriegt man es hin, dass im Meer weniger Müll schwimmt. Im Gegensatz zu den heute viel zitierten und gewünschten Maßnahmen zur Wissenschaftskommunikation handelt es sich hierbei gerade nicht um erfundene Geschichten, die technisch komplexe Zusammenhänge verdeutlichen sollen. Es ist gerade umgekehrt. Die einfache Beobachtung gepaart mit dem „gesunden Menschenverstand“ ist der Ursprung des Forschens, des Entwickelns und schließlich des Verkaufens, sofern sich am Ende tatsächlich produzierbare und marktfähige Lösungen ergeben. Nichts anderes bedeutet Wissenschafts- und Technologietransfer. Bei einigen beginnt er mit dem Studium wissenschaftlicher Papiere und der Rezeption von Expertenvorträgen. Bei Thomas Reiter beginnt der Prozess im Leben, im Wald, auf dem Fahrrad oder in der Jugendwerkstatt und endet mit unzähligen wissenschaftlichen Publikationen. Es geht hier nicht darum, den ein oder anderen Weg zu bewerten. Es geht in diesem Buch darum, diesen Weg zu beschreiben, seinen Ursprüngen nachzuspüren und Erkenntnisse für das eigene Handeln am Beispiel einer gelungenen Ausgründung abzuleiten.
All das führt uns schließlich auch zurück zum Krieg und politischen Entscheidungen. Nicht nur haben die Innovationen von Thomas und all denen, die mit GaBi in seine Fußstapfen getreten sind, wahrscheinlich dazu beigetragen, auch Kriege ein bisschen „umweltfreundlicher“ zu machen, auch wenn das natürlich in einer solchen humanitären Katastrophe nicht im Vordergrund steht. Sie haben auch bewirkt, dass mittlerweile hunderter junger Nachwuchswissenschaftler unternehmerisches Denken gelernt haben. Einige davon wurden und blieben später Teil von GaBi in Universität und Unternehmen. Viele von ihnen wurden Unternehmer mit eigenen Visionen, blieben jedoch GaBi meist inhaltlich verbunden. Damit ist auch klar, dass der plumpe Spruch: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“, in sich vielleicht lustig, manchmal zustimmenswert, doch letztlich auch irreführend ist. Wer große Probleme lösen möchte, startet immer mit einer Vision von einer anderen und im Idealfall besseren Welt. Dieser Anspruch verbindet alle Interviewpartner in diesem Buch und hat durch die Jahrzehnte ein Band zwischen allen GaBi-Mitarbeitern geformt. Sie alle wollten und wollen, dass zwischen Wirtschaftlichkeit, Technik, Umwelt und Sozialem kein Gegensatz, sondern ein Gleichklang herrscht, der den Menschen zu einem besseren Leben verhilft. Andere ketten sich dafür an die Gleise und tragen so dazu bei, dass Themen in die Öffentlichkeit gelangen. Unternehmer lösen Probleme gemeinhin anders. Sie entwickeln pragmatische Lösungen, welche einen Markt finden, um dann ebenfalls breite Wirkung in der Gesellschaft zu entfalten. Beides ist nötig. Beides ist hilfreich. Und letztlich kommt es auf die Haltung und Interessen des Einzelnen an, über welche Wege er versucht, die großen Probleme der Menschheit anzugehen. Wichtig ist nur, dass er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt und sich auch als einzelnes Glied der Gesellschaft zutraut, sie anzupacken.
Mit dem Wort Zutrauen ist auch eine weitere, wenn nicht die wichtigste Eigenschaft, berührt, welche das wissenschaftliche Unternehmertum eines Thomas Reiter und seiner „Mannschaft“ über all die Jahre auszeichnet: Führung braucht Vertrauen. Diese Voraussetzung steht vielleicht heute auf Seite 1 eines jeden schlauen Führungsratgebers. Wer aber wissen möchte, wie diese schwierigste aller Führungsaufgaben bewältigt werden kann, kann vom GaBi-Beispiel ungleich mehr lernen. Es ist nicht selbstverständlich, dass junge Hilfswissenschaftler allein auf Konferenzen sprechen, zu Kunden fahren und ihre eigenen Stellen einwerben. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Institutsleiter ständig und auf eigene Kosten alles tut, um seiner Mannschaft „den Rücken frei zu halten“. Und es ist noch außergewöhnlicher, dass er hierfür nicht ständig eigene Lorbeeren einsammelt, sondern jeden Einzelnen auch die Früchte seiner Leistung ernten lässt. Dies alles ist ohne Vertrauen nicht möglich. Denn nur wer vertraut, kann auch loslassen. Und ohne Loslassen ist es nicht möglich, an der Spitze von drei Instituten zu stehen, die am Ende den Mutterboden für eine mittlerweile internationale Firma bieten.
Vertrauen in andere braucht auch Vertrauen in sich selbst. Und hier sind wir am letzten und wahrscheinlich schwierigsten Punkt angelangt, wenn es darum geht, die Erfolgsfaktoren der GaBi-Ausgründung auf die heutigen Umstände in der Universität anzuwenden. Man mag vermuten, dass erfolgreiche Wissenschaftler angesichts zahlreicher wissenschaftlicher Erfolge aus ihrer Vergangenheit und der Überwindung zahlreicher Hürden die letzten sind, die unter mangelndem Selbstvertrauen leiden. Diese Vermutung kann man jedoch zurecht bezweifeln. Die Kämpfe, die Thomas Reiter über die gesamte Zeit zäh und in den meisten Fällen erfolgreich gekämpft hat, zeugen auch davon, dass Unternehmertum aus der Wissenschaft heraus, ob nun mit viel oder wenig Visionärstum verbunden, noch immer schwierig, manchmal sogar unmöglich ist. Die Attacken und Anfeindungen, die dabei überstanden werden müssen, sind nicht immer sachlich und schon gar nicht unpersönlich. Das alles hinterlässt Spuren und kann durchaus früher oder später dazu führen, dass sich auch der entschlossenste und kreativste Macher aus der Universität ergibt und sein Vorhaben auf Eis legt. Dies kann auch dadurch geschehen, dass viele schlichtweg nie Selbstvertrauen in Gefilden außerhalb der Wissenschaft sammeln konnten. Wie soll ein Nachwuchsprofessor sich so sicher sein, dass er ein Unternehmen gründen oder zumindest erfolgreich begleiten kann, wenn er selbst nie in der Industrie oder zumindest in einer Unternehmung außerhalb gearbeitet hat?
Dieser Mangel an Praxisnähe führt eher öfter als seltener dazu, dass sich Wissenschaftler eben gerade nichts zutrauen, auch wenn sie dies unter einem Mantel der Professionalität verstecken. Ob es dazu Studien gibt, ist an dieser Stelle nicht der Punkt. Was zählt ist die breite Kenntnis der Tatsache, dass Unternehmertum aus der Uni heraus noch immer eine Ausnahme bleibt — dies gilt für Studierende wie für Professoren. Möchte Deutschland hier erfolgreicher werden, so kann es von Beispielen wie GaBi lernen. Das geht jedoch nur, wenn man bereit ist, die alten Pfade zu verlassen und sich auf die Unsicherheit einzulassen, die Unternehmertum unweigerlich erfordert. Auch geht es nicht darum, ein Beispiel wie das hier behandelte als „einzigen Weg zur Weisheit“ anzusehen. Vielmehr muss lediglich eine Grundvoraussetzung vorherrschen, die alles damit verbundene erst ermöglicht: Es muss die unbedingte Überzeugung vorherrschen, dass man gegen Probleme jeglicher Art etwas tun kann; es muss klar sein, dass Aufgaben schlichtweg keine Option ist, dass man etwas, und sei es ein noch so kleiner Teil, immer tun kann, um eine Verbesserung zu erreichen. Für all das braucht es Selbstbewusstsein, das ebenfalls nur im Tun erweitert werden kann. Und um dies anzuregen, braucht es nicht allein neue/andere Curricula in den Schulen und Universitäten, die das Handeln in den Vordergrund stellen. Es braucht vor allen Dingen Vorbilder in den Klassen- und Hörsälen, welche nicht allein durch Worte, sondern durch Taten begeistern und andere mitreißen.
Thomas Reiter lebt diese unternehmerische Philosophie in einer Weise, welche seinesgleichen sucht. Neumodische Worte wie Rollentrennung, beidhändige Führung und Agilität klingen in seiner Gegenwart fast lächerlich. Das ist nicht so, weil er diese nicht praktizieren würde. Doch wo das Handeln, die Haltung und die Werte im Einklang sind und täglich beobachtet werden können, braucht es keine Fachtermini. Es braucht nur das, was Thomas Intuition oder Bauchgefühl nennt. Es braucht auch eine gehörige Portion Emotion. All dies sind Dinge, die im modernen Wissenschaftsbetrieb scheinbar keinen Platz mehr haben. Ob das zielführend ist, muss angesichts der schlechten Ergebnisse im internationalen Vergleich jeder selbst entscheiden. Thomas jedenfalls wird weiterhin an diesen Ort und weitere GaBi-Wirkungsstätten kommen. Er wird weiterhin neue Ideen haben und diese auch umsetzen. Er wird selbst das Parkticket holen und die Schranke betätigen. Es braucht für einen visionären Unternehmer wie ihn keine Extrawürste oder Sonderrechte, keine Luxusgüter oder Sternemenüs. Wenn überhaupt braucht es für Thomas nur eines, was GaBi von Anfang an zu dem gemacht hat, was heute noch ist: Menschen, welche die Leidenschaft, den Willen und die Fähigkeiten besitzen, sich ihre Wünsche selbst zu erfüllen.
24. Offene Jugendwerkstatt
Nur wenige Tage nach dem Besuch der Journalistin steigt Thomas in seinen blauen Ford Fiesta, um einen Gast abzuholen. Ein junger Professor aus Berlin hat sich angekündigt. Er arbeitet dort an einer Hochschule für Innovationsmanagement. Thomas hat ihn bei einer Online-Konferenz zu praxisorientierter Didaktik vor einem halben Jahr in Kiew kennen gelernt. Heute kommen nur schreckliche Nachrichten über den Krieg in der Ukraine aus dem Autoradio. Vor einem halben Jahr waren noch viele Wissenschaftler aus der ganzen Welt einträchtig online zugeschaltet. Simon Schmal, wie der junge Kollege heißt, hat sich in einer Outbreak Session sehr für Thomas Jugendarbeit interessiert. So entstand die Idee einer Einladung, um dem jungen Kollegen zu zeigen, wie die Jugend Nachhaltigkeit und Unternehmertum erlernen kann. Thomas steht wartend am Parkplatz und sieht, wie die zahlreichen Passagiere ihre Rollköfferchen hinter sich und neben sich her ziehen und schieben. Da kommt ihm gleich eine neue Idee: Er könnte den Schüler/innen in der Jugendwerktstatt die Aufgabe schmackhaft machen, einen Rollkoffer aus Aluminium und einen von den billigen aus Plastik bilanzieren lassen. Es würde ihn wundern, wenn dabei nicht erstaunliche Ergebnisse heraus kämen. Andererseits sagt ihm seine innere Stimme, dass nicht jede Idee auch umgesetzt werden muss. Die vielen Jahre der Berufstätigkeit haben ihn gelehrt, dass zu viel auch einfach zu viel sein kann. Er ist mittlerweile 80, sieht aus wie 60 und arbeitet ein Pensum weg, das mit dem von einem 40-jährigen vergleichbar ist. „Trotzdem“, denkt er bei sich, „die Idee mit den Rollkoffern ist gut. Die Urlaubszeit ist nicht weit weg und die Jugendlichen werden sicher motiviert sein, ihre Ergebnisse an die Erwachsenen zu kommunizieren und ihnen bewusst zu machen, dass Nachhaltigkeit nicht erst beim Nachdenken über Flugzeugemissionen anfängt und endet.
Mittlerweile ist der Zug aus Berlin angekommen und Thomas sieht von Weitem den jungen Kollegen auf sich zukommen. Er winkt. Manchmal sieht er sich selbst in diesen Momenten, wie er vor vielen Jahrzehnten oft mehr Zeit im Zug, im Auto und oft auch im Flugzeug verbracht hat als mit Schlafen oder mit seiner Familie. Corona hat dabei sicher einen Unterschied gemacht, aber das Reisen bleibt wichtig. Natürlich kann man sich von überall her sehen und sprechen. Aber richtige stabile persönliche Beziehungen aufzubauen ist auf diese Weise ein Ding der Unmöglichkeit, da ist Thomas sich einigermaßen sicher. Natürlich ist er offen, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Und heute ist er froh, dass die Tatsache, dass seine Jugendwerkstatt eben kein virtuelles Museum sondern eine lebendige Stätte des Experimentierens und Ausprobierens ist, einen Interessierten anlockt, der mit seiner Arbeit dazu beitragen kann, den Spirit der GaBi und seiner Arbeit in die Zukunft zu bringen. Als Schmal vor ihm steht, begrüßen sich beide mit Kopfnicken. „Ich nehme an, Herr Kollege, Sie haben sich im Zug gestärkt, richtig? Dann können wir gleich zur Jugendwerkstatt fahren. Die Schüler/innen freuen sich auf Sie.“ Schmal wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da ist sein Handgepäck auch schon im Kofferraum verschwunden und Thomas lässt den Motor an. „Sie werden staunen, was die Jugendlichen vorbereitet haben, Herr Kollege.“ Schmal entgegnet, „da bin ich überzeugt“, und grinst aus dem Fenster. Ganz der Mann, den ich am Bildschirm kennen gelernt habe. Er sprüht vor Energie. Ich wünsche mir, dass ich auch mal so voller Tatendrang bin, wenn ich dieses Alter erreiche.
Schmal kommt aus einer ganz anderen Ecke Deutschlands mit einer ganz anderen Geschichte. Er wuchs in einem kleinen Ort in Sachsen auf, etwa eine Stunde von Berlin entfernt. Als er 1980 geboren wurde, stand die Mauer noch. Doch daran kann er sich nicht mehr gut erinnern. Dafür ist die Geschichte trotzdem immer präsent. Seine Eltern leben nach wie vor noch in dem Dorf, das zwischenzeitlich nur noch 130 Einwohner zählte. Mittlerweile hat sich die Zahl sprunghaft jedes Jahr verdoppelt. Corona und die Sehnsucht der Städter nach Landluft und Freiheit hat dazu beigetragen. Auch gibt es eine neue Öko-Bewegung, die scheinbar jedes Jahr mit neuen Ideen kommt, wie man die Landwirtschaft nachhaltiger und das Leben bezahlbar und lebenswerter machen könnte. Nur funktionieren die meisten grandiosen Ideen nicht, weiß Schmal. Auch das ist ein Grund, warum er hier heute im Auto sitzt und die Jugendwerkstatt besichtigen möchte. Er hat genug von den innovativen Konzepten, die auch er selbst noch vor einigen Jahren in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Studien vorangetrieben hat. Er hat genug „Säue durchs Dorf“ getrieben. Seiner wissenschaftlichen Karriere war das förderlich. Doch mittlerweile denkt er anders. Mittlerweile hinterfragt er viel mehr. Ja, mittlerweile hinterfragt er auch sich und seine Rolle als Professor in der Universität. Innovationsmanagement klingt schön und gut. Aber die Studenten, die er vor sich hat, sind alles andere als motiviert, eigene Ideen umzusetzen. Und das Schlimme daran ist, dass Schmal sie verstehen kann. „Sagen Sie, Herr Reiter, wie haben Sie das eigentlich immer geschafft, Ihre Leute so zu motivieren?“ fragt Schmal rüber zu Thomas, als sie die letzten Kilometer über die Landstraße fahren. „Thomas schaut kurz hinüber zu seinem Beifahrer. Dann lächelt er. „Abwarten, Herr Kollege. Wir sind gleich da. Dann werden Sie die Antwort mit eigenen Augen sehen. Ich bin übrigens der Thomas.“ „Simon, freut mich“, entgegnet Schmal. Damit hatte er nun so schnell überhaupt nicht gerechnet. Aber bei diesem Mann ist scheinbar nichts so, wie es ihm mal in der langen universitären Ausbildung beigebracht wurde.
Als sich Schmal entschied, nach dem Abitur zur Uni zu gehen, waren seine Eltern zunächst skeptisch. Sie hatten in der DDR studieren können, aber viel gebracht hat es ihnen nicht. Nach der Wende wurden alle wichtigen Posten in den Firmen mit Leuten aus dem Westen besetzt. „Das will immer niemand von Euch akademischen Hippies hören“, sagt sein Vater heute immer. „Aber wahr ist es trotzdem.“ Schmal weiß, dass seine Eltern unter dem System gelitten haben. Er versteht sie auch. Zumindest will er es. Doch so ganz gelingt es ihm nicht. Das geht auch seinen Geschwistern so. Anneli ist jünger als er und ist Künstlerin geworden. Sie lebt noch immer nahe des Heimatdorfes, will aber weder mit den Dorfbewohnern noch mit den Städtern etwas anfangen. Ihr Freund ist Musiker und verdient ein reguläres Einkommen als Musiklehrer. Beide haben sie irgendwie von allem ein wenig abhängen lassen. Schmals älterer Bruder hat Volkswirtschaft studiert. Schmal sieht ihn nur zu Familienfeiern. Er hat der Familie mehr oder weniger ganz den Rücken gekehrt und ist ein Hauptgrund dafür, warum seine Eltern so auf den „Westen“ schimpfen. „Schau Dir Deinen Bruder an“, sagt sein Vater mittlerweile nur, wenn es um das Thema geht. „An dem siehst Du alles, was in Deutschland falsch gelaufen ist. Der hat nur noch Dollarnoten in den Augen und vergessen, wo er mal herkam.“
Schmal vergleicht die Bilder im Kopf. Die hügelige Landschaft hier könnte genauso gut in Sachsen sein. Aber Landschaften machen nur einen kleinen Teil des Lebens aus. Die Köpfe und deren Werte bestimmen, ob man sich an einem Ort wohl fühlt. Ihm wurde irgendwann alles zu eng auf dem Dorf. Er wollte so schnell wie möglich in die Stadt und zwar möglichst weit weg. Zum Studium ging er daher nach München und wählte BWL. Später studierte er dann noch Informatik dazu. Erst war es nur ein Hobby doch schnell merkte er, dass er dadurch einen ganz anderen Blick auf Probleme gewann. Eigentlich hatte er auch eine tolle Stelle in einem Unternehmen angestrebt. Auch wenn sein Bruder menschlich nicht mehr unbedingt ein Vorbild war, so war die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die er ihm vorlebte, eine Motivation. Er wollte nie wieder den Satz hören: „Das können wir uns nicht leisten. Und schon gar nicht wollte er diesen Satz jemals selbst seinen Kindern sagen müssen. Damit, also mit einer eigenen Familie, hatte es zwar noch nicht geklappt. Dafür brachte ihn sein Weg in die Wissenschaft. Seine Promotion schrieb er dann noch in München in der Wirtschaftsinformatik. Danach verbrachte er ein Forschungsjahr in den USA. Dort spezialisierte er sich vor allen Dingen auf innovative Geschäftsmodelle von Startups. Und wie es der Zufall wollte, lockte ihn dann eine Juniorprofessur nach Berlin — die Stadt, in die er eigentlich nie hatte ziehen wollen, weil sie so nah an der deutsch-deutschen Geschichte ist, die er eigentlich hinter sich lassen wollte. „Ist alles in Ordnung, Simon? War ich zu schnell? Hättest Du doch noch mal ins Hotel vorher gewollt?“ reißt ihn Thomas aus seinen Gedanken. „Nein, nein, ganz im Gegenteil. Ich habe nur drüber nachgedacht, wie die Landschaft hier aussieht und der in meiner Heimat in Sachsen ähnelt“, entgegnet Schmal. „Ach, aus Sachsen bist Du? Das habe ich nicht gewusst“, gibt Thomas zu. „Das hört man aber nicht. Bei uns Schwaben hört man es ja schon meist“. Beide lachen und Thomas biegt auf einen Schotterparkplatz ab, bevor er den Motor ausmacht. „So, da sind wir. Offene Jugendwerkstatt. Hereinspaziert. Da sind auch schon die ersten Schüler zu sehen.
Was Simon in den kommenden zwei Stunden erwartet, hätte er im Traum nicht erwartet. Das hier ist nicht eine Garage, in der man in vier Ecken mal kleine Experimente wie in einem Schülerlabor machen kann. Hier gibt es nichts, was es in einer professionellen Werkstatt nicht gäbe. Nur mit dem Unterschied, dass hier im Prinzip 10 Werkstätten und fünf Garagen, dazu noch diverse Außenanlagen an einem Platz sind. Von Drehbänken, einer Schmiede, einer Hebebühne zur Autoreparatur, 4 Drechselbänke, einer Gold- und Silberschmiede, einer Recyclinganlage, mehrere Drei-D-Druckmaschinen, einer Dauerlauftestmaschine für CFK-Fahrradteile, einer Produktion für Faserstoffe zum Wickeln von Kettenrädern — ja, sogar einem Bienenstock gespickt voll mit Messtechnik und Digitalisierung.. Es gibt hier nichts, was das moderne Handwerk nicht zu bieten hätte. Die Schüler/innen sind mit leuchtenden Augen am Werkeln. Jeder hat hier ein eigenes kleines Territorium. Keiner kommt sich in die Quere, alle wissen, was der andere kann und weiß und alle fragen sich, wenn sie etwas nicht wissen. „Jede Maschine hier hat ihre eigene Geschichte“, erklärt Thomas. „Die da hinten zum Beispiel. Das war die erste. Die haben wir von der Firma geschenkt bekommen. Aber dann durften wir sie erst nicht annehmen, weil es die Bürokratie mal wieder verboten hat. Aber aufgeben kommt natürlich nicht in Frage. Also haben wir uns eine Lösung einfallen lassen, wie es doch ging. Das war damals nicht zu fassen — ist es heute noch immer nicht. Aber es hat sich nicht viel geändert — leider“, fügt Thomas hinzu. Schmal bewundert, wie entschlossen aber wenig frustriert sein Gastgeber, der Urheber dieser Wunderstätte hier, von diesen Kämpfen spricht. Schließlich kennt Schmal nur sehr gut, wovon Thomas redet. Auch er kämpft täglich mit der Uni-Verwaltung Kleinkriege. Allein die Einstellung einer neuen Mitarbeiterin kostet manchmal mehrere Monate und Stunden an Papierkrieg, für den Schmal kein Personal hat. „Ich kann mir vorstellen, was Du meinst, Thomas“, entgegnet er nur kurz. „Wenn es die Zeit erlaubt, würde ich gern hören, wie Du das damals in der Universität gemacht hast, diese ganzen Mammutprojekte voran zu treiben ohne dabei den Mut zu verlieren. Ich wünschte mir oft, das Bildungssystem wäre anders und würde Unternehmertum fördern statt es zu bestrafen.“ In dem Moment legt Thomas den Notizblock schnell hin, auf den er eben die neuesten Daten eines Dauerlaufexperiments notiert hat und schaut Schmal direkt in die Augen. „Wünschen kannst Du Dir viel, Michael. Du musst lernen, sie Dir selbst zu erfüllen. Das war mein Ansatz. Und dazu kann ich noch sagen, dass ich das heute als „Klugscheißer“ so sagen kann. Immer einfach war das nicht. Davon kann ich Dir heute Abend bei einem Glas Bier mal mehr erzählen. Jetzt komm, es gibt noch viel zu sehen.“
Der Besuch in der Jugendwerkstatt dauert insgesamt fünf Stunden. Für Schmal gehen sie rum wie im Fluge. Er spricht mit den Schüler/innen, die mit einer Ernsthaftigkeit und Begeisterung an ihren Projekten arbeiten, wie er sie bei seinen Studierenden, die gut und gern 10 Jahre älter als diese Jugendlichen sind, oft vermisst. Sie erzählen ihm nicht nur von den Dingen, die sie schon gebaut und gelöst haben. Sie erzählen ihm auch von den vielen Ideen, die sie für neue Projekte haben. „Schauen Sie“, sagt Manuela, die gerade Beton anrührt. „Hier verankern wir gerad große Stützen, da wir einen Pavillon brauen für den Sommer. Das muss man hier aber genau ausmessen, damit es von der Statik her passt. Eigentlich hätten wir es anders machen sollen mit den Pfosten, damit das Regenwasser besser abfließen kann. Aber es ist gerad noch in Ordnung so, sagt auch Thomas. Beim nächsten Mal würden wir es anders machen. Trotzdem reicht es für das, was wir hier machen wollen aus.“ Als Manuela diesen Satz sagt, schaut Schmal rüber zu Thomas, wie er einem Jungen dabei hilft, aus Pappkartons und Milchpackungen Recyclingplatten zu pressen. „Beim nächsten Mal würden wir es anders machen.“ Ja, genau das ist es, was Schmal seinen Studierenden immer als eine der bekannten Silicon Valley Weisheiten predigt. Fehlerkultur und “fail to succeed” heißt das neudeutsch. Hier erkennt er zum ersten Mal, wie man das ganz einfach ohne viele Worte und hochtrabende Theorien vermittelt. Und im gleichen Moment schämt er sich auch, dass er selbst seine Studierenden oft genug mit hochtrabenden Theorien und Fachwörtern gelangweilt hat, um zu zeigen, dass er der schlaue Professor ist. Hier sieht er, wie man Unternehmertum nicht nur spielerisch, sondern mit dem nötigen Ernst erlernt und wahrscheinlich nie wieder aus dem Kopf bekommt.
Am Abend sitzen Thomas und Schmal noch lange zusammen in einer typisch schwäbischen Gaststube. Hier gibt es Maultaschen, die Herrgottsbscheißerle heißen und Wein aus der Region. Schmal hat das Gefühl, dass sein neuer Mentor Thomas, mit keiner Stunde müder wird. Er sprüht vor Elan. Mit jeder neuen Idee entstehen auch neue Fragen. Anstatt sie zu beantworten, macht Thomas Pläne, was genau zu tun wäre, um darauf neue Antworten zu finden, die nicht allein wissenschaftliche Publikationen füllen, sondern das Leben der Menschheit verbessern. Schmal merkt, wie er selbst mit jeder weiteren Stunde in der Gegenwart von Thomas, wieder so strahlt, wie die Jugendlichen in der Werkstatt heute Nachmittag. Lange hatte er selbst dieses Gefühl nicht mehr. Mit jedem Jahr in der Uni, ging sein eigenes Visionärsdenken verloren. Während seiner Zeit in den USA hatte er auch mal davon geträumt, ein Startup zu gründen und damit die Welt zu verbessern. Heute lächelt er nur innerlich, wenn Studierende damit zu ihm kommen. Denn er glaubt ehrlich gesagt nicht, dass das klappt, trotz all der Theorien, die er ihnen vermittelt. Seit heute weiß er, dass es doch geht. Und er weiß auch, was er zu tun hat, damit seine Studierenden genauso innovativ und verantwortungsvoll ans Werk gehen. Die Antwort hat sich demnach tatsächlich von selbst ergeben, wie es Thomas vorhergesagt hatte. „Danke“, bleibt ihm am Ende eines langen Tages nur zu sagen. „Sag nur noch eines: Die Geschichte von diesem erfolgreichen Unternehmen, das mal von Deinen Studierenden gegründet wurde, die GaBi. Gibt es dazu ein Buch, das ich meinen Studierenden geben könnte? Es wäre doch ein tolles Beispiel, um zu zeigen, wie Nachhaltigkeit und Unternehmertum Hand in Hand gehen.“ Thomas, der schon fast zum Auto aufbrechen wollte, um seinen Gast im Hotel dem Schlaf zu überlassen, dreht sich noch mal um. „Das ist eine tolle Idee, Simon. Ist bereits in Arbeit.“
23. Mein altes Handy kriegt die Mama — Ganzheitliche…
Marco und Lisa sitzen über ihre iPads gebeugt und recherchieren Transportwege von Handylieferungen in Schweden. „Konzentriert Euch nur grob auf die Angaben, die wir von Apple herausgefunden haben bezüglich des iPhones“, sagt Nadja vom Pult aus. „Sonst wird es zu kompliziert. Dann schafft Ihr es in der Zeit nicht.“ „Aber Frau Süßkind, man muss es doch genau ausrechnen, sonst hat es doch keinen Sinn. Wir müssen doch die Fakten kennen, um wirklich zu zeigen, wie umweltschädlich es ist, sein Handy alle zwei Jahre weg zu werfen“, gibt Lisa zurück. Nadja nickt verständnisvoll und grinst in sich hinein. Sie sieht etwas von sich in den Schüler/innen. Sie hätte wahrscheinlich auch so gehandelt, wäre sie hier Schülerin. Sie wollte auch immer alles ganz genau wissen. „Ist schon recht. Ich will Euch auch nicht bremsen. Mir ist nur wichtig, dass Ihr Euch nicht verzettelt und das Große Ganze aus dem Blickfeld gerät. „Nein, Frau Süßkind, machen wir nicht. Wir haben doch schon so viele überraschende Ergebnisse bei den Daten zum Display und der Elektronik gefunden. Wir ahnen schon, worauf es hinausläuft.“ Marco zottelt Lisa am Ärmel. Ihm reicht es offensichtlich mit dem Gerede. Er braucht Lisa jetzt wieder mit voller Konzentration bei der Arbeit. Schließlich muss nächste Woche das Ergebnis stehen und präsentiert werden. Dann nämlich sind die acht Doppelstunden rum, in denen sich alles um GaBe drehte, die Ganzheitliche Betrachtung, sozusagen ein abgespecktes Modell der GaBi für den Schulunterricht.
Nadja setzt sich hin und lässt den Blick über die anderen Kleingruppen schweifen. Hätte man ihr vor drei Jahren gesagt, dass sie nun selbst als Lehrerin in einer Oberstufe sitzen würde und den Schülern Nachhaltigkeit am Beispiel von Lebenszyklusanalysen beibringt, sie hätte wahrscheinlich gezweifelt. 2018 kam sie zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung. Sie erinnert sich noch genau an das erste Zusammentreffen mit Thomas und Doris von der TheoPrax Stiftung. „Du studierst NWT auf Lehramt?“, hatte sie damals Simon gefragt, der im Fraunhofer Team der GaBi ist. „Dann musst Du unbedingt vorbeikommen nächste Woche. Thomas, der Begründer der GaBi, arbeitet an einem neuen Projekt. Es geht um eine neue Version von GaBi für die Schule. Es nennt sich GaBe, also Ganzheitliche Betrachtung.“ Schon als sie dann den Raum betrat und zum ersten Mal mit den GaBi-Urgesteinen zusammenkam, spürte sie, dass daraus vielleicht einmal mehr werden würde. Eigentlich hatte sie NWT zunächst nur zum Ausgleich studiert. Chemie war schon immer ihr Steckenpferd und sie wollte Chemielehrerin werden. Aber mit NWT war da eben noch ein Fach, das aktuell noch immer in den Kinderschuhen steckt. „Wir haben da so abgefahrene Sachen gelernt wie die Lasten von Kränen zu berechnen oder wie man Maschinen baut. Total abgefahren und damit eben auch ein toller Ausgleich zur Theorie oder der Forschung im Chemielabor“, hat sie kürzlich einem Magazin für Studienorientierung erzählt. Jedenfalls fühlte sie sich damals in der Runde der GaBis direkt wohl. Und so kam es dann, dass sie ihre Abschlussarbeit über die Handybilanzierung schrieb — ein Unterfangen, das alles andere als leicht war, da die Daten schwer zu beschaffen waren. „Ich bin da wirklich skeptisch“, hatte Simon damals gesagt. „Wenn wir die Daten von den Herstellern nicht bekommen, dann haben wir keine Grundlage. Vielleicht solltest Du lieber ein anderes Produkt nehmen. Im GaBe-Arbeitsheft haben wir zum Beispiel das Skateboard analysiert.“ Doch Nadja ließ nicht locker und schließlich schaffte sie es, die Daten mit einigen Vereinfachungen in der Berechnung zu finden und die Arbeit erfolgreich zu schreiben.
GaBi-Handybilanz von Schülern (Sauer)
„Frau Süßkind, hatten Sie nicht gesagt, um 11:45 Uhr fangen wir mit der Diskussion an?“ Nadja ist sofort wieder zurück im Hier und Jetzt, als diese Frage von Frank kommt, der seitlich an der Fensterseite des Klassenraums zusammen mit drei weiteren Mitschülerinnen heute daran gearbeitet hat, Daten für die Produktion der Handies auszuwerten. „Ja, Frank, stimmt. Ich habe mich nur gerade daran erinnert, wie ich vor einigen Jahren zum ersten Mal mit der GaBe-Methode in Kontakt kam.“ Nadja bittet die Schüler/innen, ihre Arbeit für heute zu beenden und einen Moment zu überlegen, was ihnen heute für neue Erkenntnisse gekommen sind. Zunächst herrscht Stille, doch dann meldet sich Anke in der letzten Reihe. „Mir ist klar geworden, dass es total der Luxus ist, wenn man überhaupt so ein Smartphone hat. Ich meine, viele Kinder in armen Ländern haben das sicher nicht. Und außerdem haben die da andere Probleme, schätze ich mal. Die sammeln ja sogar Müll und verkaufen Schrott. Das habe ich vor Kurzem in einer Dokumentation aus Ghana gesehen.“ Nadja nickt und dankt Anke für ihre Gedanken. Da schaltet sich auch schon Thomas von der gegenüberliegenden Seite der U-förmig gestellten Tischformation ein. „Es ist aber nicht richtig, das immer nur auf Afrika zu reduzieren“, wirft er ein. Thomas ist noch jünger als die anderen in dieser 11. Klasse. Er hat ein Jahr übersprungen und langweilt sich oft im Unterricht. Aber in den GaBi-Einheiten in NWT blüht er regelrecht auf, stellt Nadin zu ihrer Freude fest. „Du musst sehen, dass wir auch in Deutschland total viele arme Kinder und Familien haben. Und es gibt Untersuchungen darüber, dass Nachhaltigkeit in sozial schwächeren Kreisen weniger wichtig genommen wird, weil dort existenzielle Sorgen herrschen. Zum Beispiel wird dort auch weniger Müll getrennt. Und das ist ein Dilemma, denn natürlich kann man das verstehen. Aber gleichzeitig zeigen unsere Ergebnisse hier ja, dass alle einen Teil dazu beitragen können, dass wir den Planeten nicht weiter zerstören. Frau Sauer, wie kann man das lösen mit der Armut und der Nachhaltigkeit?“
Nadja dankt auch Thomas für seine kritische Beobachtung und seine Frage. Sie lässt ihn auch gleich wissen dass sie keine einfache Antwort darauf hat. Vielmehr freut sie sich, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Sie hat schon im Studium gelernt, dass Lehrer sein weniger mit „richtigen“ Antworten zu tun hat, sondern mit der Begeisterung, die man in Schülern wecken kann, damit sie eigene Fragen stellen. „Ich weiß es nicht“, sagt Nadja ehrlich. „Aber ich weiß, dass Ihr Euren Teil dazu beitragen werdet, dass sich etwas verbessert.“ Da meldet sich schon Tanja aus der ersten Reihe. Sie hat ein Sommersprossengesicht und so ein positives Gemüt, dass sie regelmäßig als Klassensprecherin Konflikte unter den Mitschülern löst und immer etwas Positives sieht. „Also ich mache das so, dass meine Mama immer das alte Handy von mir bekommt. Und weil sie das Handy gar nicht so viel nutzt, braucht sie auch nicht viel Speicherplatz und die neusten Apps. Und sie behandelt es auch sehr gut. Ihr ist noch nie eines herunter gefallen. Daher hält es total lange. Ich finde, das ist auch eine Form von Nachhaltigkeit. Was natürlich nicht heißt, dass es trotzdem irgendwann entsorgt werden muss.“ Die anderen nicken zustimmend. Auch Nadja findet, dass das eine prima Sache ist. Sie hat das ähnlich auch schon in ihrer Familie erlebt, dass gebrauchte Handies und Laptops weitergegeben wurden.
Nach dem Unterricht fährt Nadja auf direktem Weg nach Hause. Sie nimmt sich nur schnell ein Glas Milch aus dem Kühlschrank und beißt in ein Stück Kuchen, das noch vom Wochenende übrig geblieben ist. Dann rennt sie die Treppe ins Arbeitszimmer hoch und fährt den PC hoch. Sie muss für morgen noch zwei Unterrichtseinheiten für Chemie in der 11. und 13. Klasse vorbereiten und sie möchte, dass es gut wird. Überhaupt möchte sie immer, dass es gut wird. Sie druckt sich nicht einfach vorgefertigte Arbeitsblätter aus. Sie möchte den Schülern individuelle Aufgabenstellungen geben. Aber langsam fragt sie sich schon, ob das immer so weitergehen wird. Sie ist ja noch ganz neu im Job. Erst letztes Jahr hat sie das Referendariat beendet. Der Druck, sich zu beweisen, ist gerade unter den jungen Kolleg/innen hoch. Aber der innere Leistungsanspruch ist wie immer noch schlimmer. „Ach, nun komm schon, es macht ja auch viel Spaß“, ermuntert sie sich selbst und öffnet eine neue Word Datei. Sie fragt sich, ob man nicht GaBe auch in den Chemie-Unterricht einbauen könnte. Ob es nicht auch Sinn machen würde, eine neue Aufgabenstellung für die Ganzheitliche Betrachtung chemischer Substanzen zu entwickeln. Da sind sie wieder, die vielen Ideen. Nadja gibt schnell „Lebenszyklusanalyse und Chemie“ im Browser ein. Ganz oben in der Trefferliste erscheint der Name einer großen Chemiefirma. „Das ist es!“, platzt es aus ihr heraus. Sie erinnert sich, dass die GaBis einmal davon erzählt haben, dass sie auch Projekte mit genau dieser Firma gemacht haben. Sie öffnet das Emailprogramm und schreibt Simon mit Thomas und Doris in cc. Sie bittet sie um Dokumente und Fallbeispiele, die für Schüler interessant wären und entsprechend abwandelbar. Dann widmet sie sich wirklich ihrer Unterrichtsvorbereitung. Doch schon nach 10 Minuten öffnet sich das Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm. Sie kann es nicht lassen und schaut nach. Tatsächlich! Thomas hat ihr bereits geantwortet.
Liebe Nadja, wie immer denkst Du mit schnellen Schritten voraus. Ich habe mich sehr über Deine Nachricht gefreut. Im Anhang erhältst Du drei Beispiele von Veröffentlichungen, die wir damals mit GaBi gemacht haben im Bereich Chemie. Ich denke, das Beispiel Feuerwerk könnte etwas sein, dass die Schüler/innen beflügelt. Melde Dich gern. Ich unterstütze dabei, die Unterlagen so aufzubereiten, dass sie für Schüler/innen zugänglich sind, aber auch von anderen Lehrer/innen genutzt werden können. Liebe Grüße, Dein Thomas.
Nadja öffnet den Anhang und schnell sind alle Überstunden, die noch auf sie warten, vergessen. Die Schüler werden das Beispiel lieben. Und sie freut sich bereits, es mit ihnen zu diskutieren. „ich wünsche mir, Lehrerin zu werden“, hatte sie damals schon lange vor dem Abitur mal gesagt, als sie einen Berufsinformationstag hatten. In diesem Moment realisiert sie, dass sie sich diesen Wunsch bereits selbst erfüllt hat.
22. GaBi in Neuseeland — Aus Unternehmern werden neue…
Nicole legt Holz nach, um den Ofen anzufeuern. Sie und Markus sind gerade erst nach Hause gekommen. „Zu Hause“ ist für die beiden seit mehr als 20 Jahren Neuseeland. „Am Anfang haben die Kollegen bei GaBi noch Probleme gehabt, zu verstehen, dass Australien und Neuseeland zwei unterschiedliche Länder sind und vor allen Dingen, dass beide mehr als drei Flugstunden voneinander entfernt sind“, lacht Nicole, als sie die Geschichte einer Journalistin erzählt, die die Startup-Szene in der Pazifikregion recherchiert. Nicole hat noch das Jankerl vom Business-Treffen zuvor an. Aber noch ist es auch zu kalt, es auszuziehen. In Deutschland wird es jetzt gerade Sommer. In diesem Teil der Erde ist es Winter. „Es wird auch schon mal kalt, aber wir haben selten unter 0 Grad und vor allen Dingen ist es nicht so grau, dafür ziemlich windig“, erklärt Nicole ihrem Gast. Das Jankerl passt zu dem bayerischen Akzent, den man bei Nicole noch stark hört, wenn sie Deutsch spricht. Im Englischen dagegen hat sie den typischen neuseeländischen Akzent angenommen. Es ist schon fast 20:00 Uhr am Abend und fast schon stockdunkel. Aber Nicole und Markus war es wichtig, dieses Gespräch noch zu führen. Denn ihnen liegt etwas daran, junge Unternehmer zu fördern. Darum drehte sich auch die Veranstaltung am Abend, in der sich Investoren der pazifischen Region getroffen haben. Aber Zeit und Raum zu einer leisen Unterhaltung war dort nicht. Deshalb hat Nicole kurzentschlossen die Journalistin Maite zu sich nach Hause eingeladen. Markus zieht sich derweil um und kümmert sich weiter darum, dass der Ofen warm wird.
„Wie kommt es überhaupt, dass Ihr hier in Neuseeland gelandet seid?“ fragt Maite. „Ach, das war ein Traum, den wir uns erfüllt haben. Ben und ich kennen uns ja noch von der Uni in München. Ich habe mehr durch Zufall als Plan meine Promotion gemacht, da jemand anders ausgefallen ist. Ich war die einzige damals, die Ökobilanzen gemacht hat. Ich hatte ja ursprünglich Forstwissenschaft studiert. Und dann brauchte ich natürlich Software. Und GaBi war damals eine der wenigen auf dem Markt. Dann bin ich, das muss so 1998 gewesen sein, nach Stuttgart ans Institut für Kunststoffkunde und –prüfung (IKP) habe die Software kennen gelernt und verwendet. Das war sozusagen der Start. Und dann war ich ein paar Monate für ein Projekt an die Uni S??? in England. Da brauchten wir auch Software und ich habe GaBi dort bekannt gemacht. Danach zog es mich nach Neuseeland. Dort hatte ich eine Forschungsstelle. Auch da brauchten wir Software, aber sie hatten kein Budget bzw. nur für den Konkurrenten. ‚Das ist aber schade‘, habe ich da gesagt. Das sollten wir ändern, denn die GaBi kann mehr. Dann habe ich kurzerhand die GaBi Leute daheim in Stuttgart angerufen und nach der Lizenz gefragt. Ich weiß noch, damals war GaBi eben GaBi. Da fand man für alles eine pragmatische Lösung. Ich glaube, Paul oder Harald haben dann gesagt: ‚So, so, ihr habt kein Budget für die GaBi. Na ja, wir suchen im Moment einen Vertriebspartner bei Euch da drüben. Das wäre doch was, oder? Als Vertriebspartner kriegst Du natürlich die Lizenz.‘ Damit war das Problem gelöst und ich war plötzlich Vertriebspartner. Wir haben dann LCA Neuseeland gegründet.“
Maike macht sich allerlei Notizen, als Nicole von den „alten Tagen“ der GaBi erzählt. „Und wie ging es dann weiter? Ihr seid einfach hier geblieben und habt GaBi hier aufgebaut?“ „Nein, so war es nicht, also zumindest nicht so reibungslos. Ich war ja weiter mit meiner Vollzeitstelle in der Forschung. Aber ich wollte mehr und unterschiedliche Industrieprojekte machen. Ich war nie so der Paperschreiber. Mir ging es ums Machen, um die Projekte mit der Industrie, dort aber eben nicht nur zum Thema Holz, was der Fokus an meinem Institut war. Ich wollte auch Projekte mit der Stahlindustrie machen, die wir ja auch hatten. Jedenfalls war ich dann etwas gefrustet und dann kann ich mich erinnern, waren wir zu Besuch in Stuttgart zu einer Konferenz. Es muss so um 1:30 Uhr nachts gewesen sein in irgendeiner Bar nach mindestens fünf Cocktails. Da fragte mich dann Simon, wie es mir so ginge in Neuseeland. ‚Och‘, sagte ich, ‚so, so. Auf der Arbeit ist es nicht so toll.‘ Das hatte ich natürlich nicht ganz so ohne Hintergedanken gesagt, da ich wusste, dass sich bei der PE damals noch viel tat. Simon lud mich auch prompt für den nächsten Tag zu einem Zweiergespräch ein und eröffnete mir dann, dass sie jemanden suchten, der das Büro in Perth, Australien, vorantreibe. ‚Perth? Du weißt aber schon, dass wir in Wellington, Neuseeland, sitzen?‘ gab ich zurück. Das war den Jungs irgendwie nicht so richtig klar, dass da hunderte von Kilometern dazwischen liegen. Jedenfalls war das dann aber kein Hinderungsgrund. Wir einigten uns darauf, dass Ben und ich dann einen gemeinsamen Standort für die Region „Australasia“ aufmachten. Ben war dann zuerst zwei Monate dabei und hat Finanzen gemacht. Später kam er dann auch voll mit rein.“
Nicole zieht sich die Jacke aus und auch Ben setzt sich dazu. Mittlerweile ist es stockdunkel draußen, aber der Ofen wärmt inzwischen wunderbar. Das Haus der beiden ist direkt in der Nähe der Küste. Es ist ein Paradies für alle, die die Natur lieben. „Hast Du Forstwissenschaften auch wegen der Liebe zum Holz studiert?“ will Maike wissen. „Nein, eigentlich nur weil ich den Wald liebe. Ich war von Kindheit an gern dort. Und hier hat man atemberaubende Natur. Aber vor allem sind die Menschen der Hammer. Sie sind so freundlich. Weißt Du, wenn Du hier etwas im Laden nicht bekommst, dann sagt Dir die Verkäuferin direkt: ‚Entschuldigen Sie, wir haben das leider nicht oder es ist ausverkauft. Aber gehen Sie doch mal hinten hin ans Ende der Straße zu Laden xy, da werden Sie es bekommen‘. Das ist die Kultur hier. Es geht nicht um Wettbewerb. Es geht darum, Dir als Kunde zu helfen. Wenn alle den Kuchen größer machen, dann haben alle mehr davon. Das ist die Philosophie hier. In Deutschland habe ich das oft vermisst. Und vor allem hat man hier diese unglaubliche Freundlichkeit der Menschen. Das ist einfach was anderes.“ Maike lächelt. Sie denkt an ihr letztes Erlebnis in einem Geschäft am Bahnhof kurz vor ihrer Abreise. Als Journalistin ist sie viel unterwegs und sie weiß genau, wovon Nicole spricht. Sie hatte den Verkäufer nur freundlich nach einer Zeitschrift gefragt. Er gab ihr nur die Antwort, dass das nicht sein Problem sei, wenn eine Zeitschrift nicht da sei. Er könne nur das verkaufen, was im Regal sei. Außerdem sei Corona und Krieg in der Ukraine und die Lieferungen kämen nicht. Auch das sei nicht sein Problem. Maike nimmt einen Schluck von dem heißen Tee, den Ben gerade eingeschenkt hat.
„Und wo steht Ihr jetzt? Ich meine, vorhin bei dem Startup Treffen seid Ihr als Investoren gewesen. Da muss ja ziemlich viel passiert sein seit den ersten Tagen von GaBi in Neuseeland, dass Ihr nun sogar in andere investieren könnt“. „Nun,“ setzt Ben an, „wir sind jetzt kein Startup geworden, das wie eine Rakete zündet. Die Geschichte ist ganz einfach. Wir haben einfach seit unserem Start hier 2008 die Firma langsam aber stetig weiter ausgebaut, also zunächst die PE und dann Thinkstep. Die Verbindung mit Deutschland war weiter eng. Wir hatten regelmäßig Leute aus dem Stuttgarter Team hier von der Uni. Einige von ihnen sind heute noch bei uns, haben sich hochgearbeitet. Andere sind wieder zurück und haben ihre Karrieren woanders fortgesetzt. Aber den GaBi-Leuten war immer daran gelegen, dass die jungen Leute rauskamen. Es gab sogar ein Programm später, das Simon aufgesetzt hatte. Das erlaubte GaBis einige Monate in einem der Offices im Ausland zu verbringen und Erfahrung zu sammeln. Wir waren einer der Partner. Die Leute wurden sorgfältig ausgewählt und vorbereitet. Da gab es im Grunde nie Reinfälle und mit vielen stehen wir noch in Kontakt. Ich glaube, das war ein Grundthema aus der Anfangszeit. Es war immer GaBi-Philosophie, über den Tellerrand zu schauen und in die Welt hinaus zu gehen. Das wurde dadurch möglich. Natürlich gab es auch bei uns Schwankungen. Das Geschäft lief nicht immer so super, dass man viele Leute einstellen konnte. Aber wir haben es geschafft. So kam dann auch der Moment, dass wir 2016/17 entschieden haben, einen Buyout zu machen.“ Maike runzelt die Stirn. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Sie hatte zuvor recherchiert und sich gewundert, dass GaBi hier noch immer Thinkstep heißt und nicht Nemesis, wie die Firma in Deutschland heute heißt. Ben antwortet, als könne er ihre Gedanken lesen. „Ja, Buyout hieß, dass wir unsere Anteile kauften. Wir hatten ja von Beginn an immer Anteile gehalten. Das war manchmal etwas kompliziert, da durchzublicken. Aber letztlich waren wir bei allen Finanzierungsrunden bis die Investoren hinein kamen dabei und da lag es nah, nun diesen Schritt zu gehen, bevor die Firma dann 2018 an Nemesis verkauft wurde. Das hatte ganz einfach den Grund, dass wir in den vielen Jahren hier gelernt haben, dass man in Neuseeland ein Business nur vor Ort leiten kann. Man muss die Verbindungen hier haben und integriert sein und vor allem als eine in Neuseeland registrierte Company agieren.“
Hintergrund: Management-Buyout
Ein Management-Buyout (MBO) ist eine Unternehmensfinanzierungstransaktion, bei der das Managementteam eines Unternehmens das Unternehmen erwirbt, indem es sich Geld leiht, um den oder die derzeitigen Eigentümer auszukaufen. Eine MBO-Transaktion ist eine Art von Leveraged Buyout (LBO) und kann manchmal auch als Leveraged Management Buyout (LMBO) bezeichnet werden.
Bei einer MBO-Transaktion ist das Managementteam der Ansicht, dass es sein Fachwissen einsetzen kann, um das Unternehmen zu vergrößern, die Betriebsabläufe zu verbessern und eine Rendite zu erzielen. Diese Transaktionen finden in der Regel statt, wenn der Eigentümer und Gründer in den Ruhestand gehen möchte oder ein Mehrheitsaktionär aussteigen will.
Kreditgeber finanzieren Management-Buy-outs oft gerne, weil sie die Kontinuität der Geschäftstätigkeit und des Führungsteams des Unternehmens gewährleisten. Der Übergang kommt bei den Kunden und Klienten des Unternehmens oft gut an, da sie erwarten können, dass die Qualität der Dienstleistungen fortgesetzt wird.
Warum ein Management-Buyout?
· Management-Buyouts werden von großen Unternehmen bevorzugt, die sich von unwichtigen Geschäftsbereichen trennen wollen, oder von Eigentümern privater Unternehmen, die sich zurückziehen wollen.
· Sie werden von Managementteams unternommen, weil sie den finanziellen Anreiz für das potenzielle Wachstum des Unternehmens deutlicher wahrnehmen wollen, als sie dies als Arbeitnehmer tun könnten.
· Für Unternehmenseigentümer sind Management-Buy-outs attraktiv, da sie sich des Engagements des Managementteams sicher sein können und das Team einen Schutz vor negativer Presse bieten wird.
Nun zieht auch Maike ihren dicken Pulli aus. Sie ist begeistert davon, wie stark sich auch Ben seinen Schwabenakzent erhalten hat. Vorhin hat sie ihn bei dem Event nur Englisch sprechen gehört. Nun aber scheint es, als säßen sie hier gemeinsam in irgendeiner Hütte im Schwarzwald, wäre da nicht die Tatsache, dass hier Neuseeland ist. „Und wo steht Ihr jetzt genau?“ Nicole setzt zu einer Kurzbeschreibung an. „Heute haben wir fast 40 Mitarbeiter. Wir kriegen mehr Aufträge als wir abarbeiten können. Es ist eine große Freude aber auch eine gewisse Last. Denn wir müssen uns jetzt Strukturen bauen. Man kommt irgendwann mit der alten GaBi-Methode nicht mehr klar, das wissen wir. Wir müssen Policy Papers schreiben. Die Leute müssen wissen, was sie „dürfen“ und was nicht. Sie reporten heute nicht mehr alle direkt an Nicole auf dem kurzen Weg. Das alles sind Umstellungen, die es zu meistern gilt, wenn das Team jetzt kontinuierlich erweitert wird.“ Meike denkt, während sie das notiert, an die Begegnung mit einem anderen GaBi-Gründermitglied vor einigen Wochen. Er hatte ihr gesagt, dass man eben hinterher immer schlauer sei. Aber die Tatsache, dass man sich alles selbst beigebracht hätte, führte eben auch dazu, dass weiterhin viele irgendwie alles machten und daher keiner die Notwenigkeit gesehen hatte, Strukturen und lästige Formalitäten einzuführen. Das scheinen Nicole und Ben nun etwas anders zu machen. „Gerade haben wir ein eigenes Communications Department eingerichtet, das sich um Presse und Social Media kümmern wird. Wir brauchen das und sind überzeugt, dass diese Aufgaben intern am besten abgedeckt sein werden.“ „Und was ist mit GaBi?“, will Meike noch abschließend wissen. „GaBi ist weiterhin der wichtigste Baustein in unserer Unternehmergeschichte. Wir heißen jetzt zwar weiterhin Thinkstep ANZ und nicht Nemesis und wir sind nicht mehr in so engem Kontakt wie früher, aber die Verbindung ist weiterhin da, natürlich weil die Software uns verbindet und die gemeinsame Mission. Wir arbeiten alle weiterhin am gleichen Ziel und wenn es noch so weltverbesserlich klingt: unseren Planeten vor der menschgemachten Zerstörung zu retten. Das war immer unser Anliegen, egal, ob wir nun in Stuttgart, Japan oder eben Neuseeland sitzen.“
21. GaBi-Youngsters
„Setzt Euch“, fordert Markus seine Gäste am Institut auf. Ihn freut es, Thomas nach so langer Zeit im Lockdown wieder einmal persönlich zu sehen. Bei Treffen wie diesen wird ihm klar, wie lange er nun auch schon fester Bestandteil von GaBi ist, ja, quasi mit GaBi als Perspektive auf die Welt durchs Leben geht. Als er die Abteilung von seinem Kollegen und damaligen Betreuer der Diplomarbeit Frank übernahm, hätte er sich das nie träumen lassen, dass er einmal eine Abteilung von 30 Mitarbeitern leiten würde. Schnell überprüft er noch die Impfnachweise seiner Gäste. „Was man heute nicht alles auch noch als Verantwortlicher einer Uni-Abteilung übernehmen muss“, fährt es ihm durch den Kopf. An ihm vorbei huscht Lars, der noch Kaffee und Getränke für das Gespräch auf den U-förmig gestellten Konferenzstisch stellt. Lars wirft aus dem Augenwinkel einen Blick auf Thomas und die Journalistin, die sich als Luise (kurz Lotta) vorgestellt hat. Lars ist etwas unsicher, was ihn erwartet. Schließlich ist er erst kurz dabei, die meiste Zeit im Home Office. Aber neugierig ist er auch auf die Fragen. Und ungewöhnlich ist es keinesfalls, dass man in so einem Gespräch ins kalte Wasser geworfen wird. „Das ist normal bei GaBi,“ hatte ihm Anke direkt in den ersten Tagen erzählt. „Einmal GaBi, immer GaBi,“ hatte sie noch hinzugefügt.
Was Lars auch nicht klar war, ist, dass Markus gar nicht dabei sein würde bei dem Gespräch mit der Journalistin. Dafür aber Thomas. Lars hat gehörig Respekt vor dem Mann, der hier mit wachen und strahlenden Augen mit Jeans und legerem Pulli vor ihm sitzt. Er hat das hier alles irgendwie losgetreten. Soviel weiß Lars. Aber wie genau und mit welchen Methoden, das ist auch ihm nicht so klar. Wie einer, der darüber täglich alte Geschichten erzählt, sieht Thomas allerdings auch nicht aus. Vielmehr schaut er ihn, Kevin und Karla neugierig und scheinbar voller Fragen an. Kevin und Karla haben sich mittlerweile auch um den U-Konferenztisch versammelt. Auch sie sind verhältnismäßig neu bei GaBi, allerdings ist er der „Jüngste“ wenn es um die akademischen Abschlüsse geht. Gerade erst hat er seinen Abschluss als Ingenieur gemacht mit einer Arbeit zu Plastikmüll in Afrika. Die Abschlussarbeit wurde ebenfalls schon in der GaBi-Abteilung angefertigt. „Ein Klassiker“, hört er Anke in seinem inneren Ohr sagen, während er kurz seinen Weg zur GaBi beschreibt. Dabei merkt er selbst, wie er strahlt. Als die Journalistin noch einmal nachhakt, was genau er denn mit „privatem Interesse an Nachhaltigkeit“ meine, weiß er gar nicht, wie genau er das beschreiben soll. Er weiß nur, dass es das trifft, dass GaBi mehr als nur ein Job ist. „Nachhaltigkeit ist eben so voll mit unterschiedlichen Meinungen und Positionen, aber auch mit Halbwissen. Seitdem ich mich mit dem Thema befasse, im Studium und jetzt bei GaBi, lerne ich selbst jeden Tag etwas dazu. Ich lerne, dass es nicht um Schwarz-Weiß-Meinungen geht. Man kann nicht sagen, ein bestimmter Kunststoff z.B. ist per se einfach nur schlecht, zumindest kann man das selten sagen. Vielmehr muss man es differenziert sehen. Es geht immer darum, wie genau man das Material einsetzt und für welchen Zweck. Das genau war auch das wichtigste Ergebnis meiner Diplomarbeit. Und über solche Dinge spreche ich natürlich nicht nur bei der Arbeit. Ich rede darüber auch mit Freunden und dann merke ich immer, wie sehr ich für das ganze Thema brenne. Das meine ich mit „privatem Interesse.“
Thomas an der gegenüberliegenden Ecke des Konferenztisches nickt wohlwollend und sichtlich gerührt. Während GaBi ihn vor 30 Jahren noch täglich begleitete, hat er längst viele Jahre mit anderen großen Projekten zu tun, darunter die Entwicklung einer praxisorientierten Lernmethode und der Aufbau einer Jugendwerkstatt. So viel GaBi-Begeisterung ist ansteckend. Nein, vielmehr freut er sich, dass so viel vom ursprünglichen Spirit hier und heute im Jahr 2022 noch da ist. „Genau“, stimmt er Lars mit einer ungeheuren Ausdrucksstärke in der Stimme zu. „Das genau geht auf den Ursprung unserer GaBi-Philosophie damals zurück. Wir wollten die Dinge in der Tiefe verstehen. So ist unser Vorsprung bei der Datensammlung entstanden. Wir wollten alles wissen, was es zu Kunststoffen, Metallen und allen weiteren Stoffen zu wissen gab, die heut noch immer das Herz der GaBi-Datenbank ausmachen. Wir wollten aufräumen mit Schwarz-Weiß-Denken, um anwendbare Lösungen zu entwickeln, damit Nachhaltigkeit von Beginn an ins Bewusstsein der Hersteller kommt,“ erklärt er. „Was mich aber wundert, das muss ich bemerken, weil es mir auffällt bei Euren Erzählungen. Bei uns war Kernalleinstellungsmerkmal der GaBi immer, dass sie Ökologie, Ökonomie und Technik als dritten und wichtigsten Baustein betrachtet. Spielt das heute keine große Rolle mehr bei Euch?“ Thomas beendet die Frage und fügt gleich, fast entschuldigend hinzu, dass er damit nicht kritisieren wolle. Es sei ihm eben nur aufgefallen. Fast meint man, Thomas, der Mann der dieses Institut hier und noch zwei weitere während seiner aktiven Zeit als Professor geleitet hat, wolle auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wisse irgendetwas besser.
Auf die Frage hin nickt Kevin heftig mit dem Kopf. Auch er hat sich vorweg kurz vorgestellt. Er ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Schwerpunkt Werkstoffe und Produktsysteme in der Luftfahrt. „Das stimmt. Ich glaube, wir betonen aktuell stark die Komponente des Sozialen, weil sie an Wichtigkeit gewinnt, aber noch immer Herausforderungen bei der Messung birgt,“ erklärt er ruhig, während er mit den Fingern über ein kleines schwarzes Notizbuch streicht, das alle der Youngsters in der ein oder anderen Farbe hier mit sich tragen. Es scheint, als wollten sie sicher gehen, dass ja keine gute Idee, kein Gedanken, der in den lebhaften Diskussionen entsteht, vernachlässigt werden könnte. „Ich denke trotzdem, dass für uns Technik im Kopf immer eine, wenn nicht die wichtigste Komponente ist. Dafür bringen wir ja auch alle unsere technischen Hintergründe mit, wenn diese auch sehr interdisziplinär und vermeintlich unterschiedlich sind.“ „Was meinst Du damit genau“, möchte Luise, die Journalistin wissen, und dreht ihren Stuhl noch ein Stückchen mehr in Kevin’s Richtung. Offensichtlich ist auch sie ganz begeistert von den Erzählungen der jüngsten GaBi-Generation. „Nun, die Tatsache, dass wir teils unterschiedliche Studienhintergründe haben, und später andere Schwerpunkte durch unsere Abschlussarbeiten und sonstige Interessen, lässt uns vieles in einer Breite und Perspektivenvielfalt diskutieren, die sonst gar nicht möglich wäre“, beschreibt Kevin weiter. „Bei mir ist es natürlich sicherlich auch noch mal etwas sehr besonders mit meinem bisherigen Lebenslauf“, schiebt Kevin hinterher.
Thomas beugt sich ein Stück nach vorn und wippt mit den Füßen. Dieser Satz hat offensichtlich sein Interesse geweckt. Fast scheint es, es gäbe nichts und niemanden auf der Welt, der nicht das Interesse eines Mannes wecken könnte, der im Laufe seines Lebens über 800 wissenschaftliche Publikationen angesammelt hat. Aber es kann eben immer sein, dass das nächste Gespräch, die nächste Begegnung, wieder Anstoß für ein neues Projekt, eine neue Erfindung ist. So zumindest geht es Luise durch den Kopf, als sie mit dem Stift über das Papier sprintet, um all die Notizen frisch fest zu halten. Auch sie kann nicht widerstehen, auf die Andeutung von Kevin zu reagieren. „Wie meinst Du das?“ richtet sie ihre Frage direkt an ihn. Kevin setzt sofort zur Antwort an, ohne dabei zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, wie es scheint. „Mein Traum war es von Kindheit an, einmal zu fliegen. Ich habe noch als Teenager meine Privatfluglizenz erworben. Der Traum wurde dann immer größer. Ich bewarb mich nach der Schule für die Verkehrspilotenausbildung, aber es klappte nicht, ich kam nicht rein. Also ging ich zur Uni und studierte etwas Wirtschaftsinformatisches. Das interessierte mich. Es war etwas Interdisziplinäres, bestehend aus Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften. Trotzdem ließ mich meine Leidenschaft, die Fliegerei, nicht los. Also probierte ich es erneut mit der Bewerbung bei einer Airline, diesmal im europäischen Ausland. Es klappte. Ich begann die Ausbildung, aber dann kam es wieder anders und ich musste die Ausbildung abbrechen. So sah ich mich nach neuen Wegen um. Nachhaltigkeit und der Schutz der Natur spielten für mich aufgrund der Segelfliegerei und meiner anderen naturnahen Hobbies immer eine große Rolle. Meteorologie, die Naturgesetze, aber auch die Schönheit der Natur sind Dinge, die einen da oben im Cockpit ständig begleiten und faszinieren. In Stuttgart fand ich dann den für mich richtigen Studiengang und machte 2020 meinen Masterabschluss Luftfahrttechnik. „Und GaBi?“, will Luise nun wissen. „Nun, da gab es noch einen „Umweg“, wenn man so will. Nach dem Studium bin ich erst in die Unternehmensberatung gegangen. Das war aber nichts auf Dauer für mich. Ich habe dann ganz aktiv nach beruflichen Möglichkeiten im Bereich Nachhaltigkeit und so habe ich dann die GaBi gefunden und mich beworben.“
Thomas lauscht aufmerksam jedem einzelnen Wort. Er erinnert sich gut daran, wie oft er neue Leute eingestellt hat. Meist war er sich, gemeinsam mit den ersten Kollegen im damals noch kleinen Team aus dem Bauch heraus einig, wer zur GaBi-Abteilung passen würde und wer vor allen Dingen durch seine Perspektive einen neuen Blick hinein bringen würde. Natürlich hat er sich manchmal geirrt, wie die Geschichte der GaBi zeigt. Aber bei den drei Youngsters, die jetzt vor ihm sitzen, ist er sich sicher, dass er sie auch eingestellt hätte. „Spielen denn Deine vorherigen Studien- und Berufserfahrungen trotzdem heute noch eine Rolle bei der Arbeit hier und wenn ja, welche?“ möchte Luise nun wissen. „Ja, eindeutig“, gibt Kevin direkt zurück. „Auf magische Weise fügt sich alles zusammen. Ich arbeite jetzt vorwiegend an Luftfahrtprojekten. Das war auch mein Wunsch damals bei der Einstellung. Ich habe direkt gesagt, dass ich diesen Bereich gern bearbeiten würde, um meine Expertise einzubringen. Der Unterschied ist nur, dass man Wünsche ja bei anderen Unternehmen auch oft äußern darf und soll. Dort ist es aber meiner Erfahrung nach dann so, dass sich danach keiner mehr dafür interessiert. Hier war das anders. Markus kam direkt ein paar Monate später auf mich zu und fragte: ‚Hey, wir haben da jetzt ein neues Luftfahrtprojekt mit der EU. Möchtest Du da federführend dabei sein?‘ Das war natürlich toll. Ich habe das noch nie so erlebt. Natürlich müssen wir hier alle auch aktiv etwas dafür tun, neue Projekte zu generieren und Anträge zu schreiben. Aber es war auf jeden Fall ein Signal, dass man hier ernst genommen wird und seine Stärken genau nach seinen Interessen einbringen kann.“
Projekt Luftverkehr
Als Kevin den Satz sagt, schaut Luise direkt zu Thomas herüber und beide fangen an zu lachen. Während ihrer Recherche zur GaBi-Story ist ihr dieser Satz schon häufig begegnet. Fast in jedem Gespräch sagte ihr der Interviewpartner, dass dieses Motto alles geprägt hätte. Offensichtlich ist es auch wegweisend für die aktuelle GaBi-Generation. Inmitten des Lachens betritt Anke den Raum und setzt sich neben der Tür auf einen Stuhl, um nicht aufzufallen. „Anke, der Satz „Wünsche werden selbst erfüllt“, den kennst Du auch noch, oder?“ Sofort fangen ihre Augen an zu leuchten. „Klar kennen ich den,“ gibt sie zurück und fängt auch an zu lachen. Der begleitet mich von Beginn an. Er ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum man kaum von der GaBi wegkommt. Ich habe es ja selbst oft probiert. Nach dem Studium in Canada kam ich zurück zur Gabi, wollte aber auch mal ein Praktikum woanders machen. Da ging diese Firma dummerweise pleite, so dass ich zurück kam. Dann habe ich noch ein bis zwei weitere Anläufe gemacht, um mal was anderes zu sehen, vor allem in der Industrie. Aber irgendwie führte mich dann doch der Weg immer schnell wieder zurück hierher. Man kommt einfach nicht weg. „Einmal GaBi, immer GaBi. Und die Tatsache, dass man sich seine eigenen Projekte suchen kann und dafür Geld einwirbt, ist ein maßgeblicher Treiber. Wo kann man das heute noch — seinen Interessen wirklich leidenschaftlich nachgehen und gleichzeitig zu wissen, dass man einen Beitrag dazu leistet, das größte Problem der Menschheitsgeschichte zu lösen?“
Bei dem Stichwort wird Thomas ganz rot. Er war sich darüber nie klar, dass dieses Motto des Wünsche-Erfüllens ganze GaBi-Generationen geprägt hat. Und doch kann er nicht anders, als sich gleich wieder dem Thema zuzuwenden. „Wenn wir beim Thema Menschheitsproblem sind,“ setzt er an und schaut allen in der Runde direkt in die Augen, „dann müssen wir über die Verschmutzung der Meere reden. Dafür hat keiner bislang eine tragfähige Lösung gefunden. Es ist schrecklich. Wir müssen das angehen. Das geht nur, wenn wir es hinkriegen, dass das ganze Plastik gar nicht mehr ins Meer kommt. An der Stelle nickt Karla heftig an der gegenüberliegenden Tischseite. Sie hat eine bunte grüne Kette an ihrer Maske hängen. Was die Pandemie nicht alles an Modetrends gefördert hat, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Aber Karla weißt darauf hin, dass sie aus ihrer Heimat Mexiko das Müllproblem natürlich auch und allem voran als soziales Problem sieht. „Es ist einfach so, dass in vielen Ländern Leute Müll sammeln müssen, um sich ihr Leben zu finanzieren. Das kann man nicht ausblenden.“ Wie Karla als Hintergrund beschreibt, ist sie seit zwei Jahren Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei GaBi, nachdem sie zuvor als wissenschaftliche Hilfskraft ihre Masterarbeit zum Verpackungsmüll im Meer geschrieben hat. Sie kam zum Studium nach Stuttgart, um Umwelt zu studieren mit dem Fokus auf End of Lifecycle. „Bei uns in Mexiko gibt es diese Möglichkeiten einfach nicht“, sagt sie. „Hier kann ich in der Tiefe an Themen arbeiten, was zu Hause nie möglich gewesen wäre. Das ist ein Geschenk. Und ich hoffe, dass ich in der Zukunft dieses Wissen weitergeben kann. Vielleicht werde ich Professorin oder Lehrerin. Es ist mir wichtig, diesen Bewusstseinswandel bei den Menschen auszulösen durch Bildung und Kommunikation.“
In dem Moment stürmt Markus in die Tür. Er hat Hunger und muss unbedingt schnell in die Kantine, da danach ein Anschlusstermin warte. Luise und Thomas schauen zur Uhr. „Ach, Du liebe Güte“, entfährt es Luise. Eigentlich hatten sie für den Besuch am IBP zwei Stunden angesetzt. Nun sind bald vier vergangen und es warten noch weitere Termine, die nun offensichtlich unbewusst bereits verschoben wurden. Thomas hat auch offensichtlich die Zeit vergessen. Trotzdem ist es ihm wichtig, den Termin nicht übereilt zu beenden. „Ich bedanke mich ganz herzlich für das, was Ihr erzählt habt. Es begeistert mich, zu sehen, mit welcher Freude und mit welcher Fächerbreite Ihr Euch den Themen widmet. Das hat die GaBi immer ausgemacht — die Interdisziplinarität und der innere Antrieb, etwas bewegen zu wollen. Das sehe ich in Euch. Und zum Thema Kommunikation kann ich Euch gleich noch etwas ans Herz legen. Es gibt mittlerweile nicht nur die GaBi. Es gibt auch GaBe. Das ist die Ganzheitliche Betrachtung. Das ist das, was Ihr alle gerade in unterschiedlichen Worten beschrieben habt — die Welt und jedes Problem darin, aus mehreren Perspektiven zu sehen und anwendbare Lösungen zu entwickeln. Nehmt Euch jeder ein Heft mit. Besprechen können wir es heute nicht mehr. Aber gebt es weiter. Ich danke Euch.“
Vertiefung: GaBi als Rückgrat der Circular Economy (Martin Baitz)
Sunfuel Bericht: Die damalige Umweltministerin Renate Künsat präsentiert 2004 den Sunfuel-Bericht, der leitend von Dr. Martin Baitz erstellt wurde.
1) GaBi ist das zentrale Rückgrat des „Product Environmental Footprint“ und der „Circular Economy“ Initiativen, der ab 2024 kommenden umweltpolitischen Regularien der Europäische Kommission.
2) GaBi Daten werden ständig aktualisiert und erweitert damit Automobil-Hersteller wie z.B. Mercedes-Benz, Daimler Truck, VW, Audi und Porsche ihre künftigen Automobil Generationen umweltfreundlicher auf Basis realistischer und neuster Daten entwickeln können.
3) Die Methode der Ökobilanz und GaBi wird an Hochschulen, die neben den ökologischen Aspekten auch Wert auf technische Machbarkeit und ökonomische Sinnhaftigkeit legen, als zukunftsweisendes Wissen gelehrt, wie z.B. der Universität Stuttgart, der Hochschule Esslingen, der Technischen Universität Berlin, der Hochschulen Bochum und Bingen.
4) Nachhaltigkeit wird von drei Hauptgruppen mit unterschiedlichen Interessen und gleichem Ziel — intergenerativ gerechte, wirtschaftlich erfolgreiche und ökologisch tragfähige Bedürfniserfüllung der menschlichen Gesellschaft — verfolgt. Die Wissenschaft hat in dieser Dreifaltigkeit in erster Linie kognitives Interesse die Definition, Bestimmung oder Berechnung der Nachhaltigkeit zu definieren. Die Politik hat in erster Linie regulatives oder stimulierendes Interesse, um Voraussetzungen oder Anreize zu nachhaltigem Wirtschaften zu schaffen. Die Industrie hat in erster Linie Interesse ihre Produkte nachhaltiger herzustellen, um Kosten zu sparen und neue Märkte zu erschließen. Nur wer die Sichtweisen dieser drei Hauptgruppen nicht nur akzeptiert und respektiert, sondern versteht und synergetisch nutzt, kann mit der GaBi und deren normativ-wissenschaftlich fundiertem Grundgerüst als Bindeglied zwischen unternehmerischen Interessen, regulativen Erfordernissen und wissenschaftlichen Grundsätzen evolutionäre und revolutionäre Erfolge umsetzen.
5) Kreislaufwirtschaft und das Rezyklieren von Materialien sind ein wichtiger Teil einer nachhaltigen Wirtschaftsweise. Doch ist es wichtig, festzustellen, welches Material auf welche Weise, mit welchem Aufwand und an welchem Ort rezykliert wird, um zu verhindern, dass die Kreislaufschließung mehr Schaden anrichtet als die Neu-Produktion. Mit Hilfe von GaBi konnten bereits viele Kunststoffverarbeitenden Betriebe erkennen, dass der Einsatz von Rezyklat in der Produktion, so lange keine Einsparung an Umweltlasten erbringt, solange sich die Firmen keine Gedanken gemacht haben, was mit dem ihrerseits produzierten (teilweise oder völlig auf Rezyklat basierendem) Kunststoff nach dessen Nutzung geschieht. Closed-Loop Recycling ist das Stichwort, was den eigenen Kunststoff nach Nutzung zurück in die Produktion bringt, doch Closed-Loop Material Recycling ist oft durch Verschmutzungen des Kunststoffs nach Nutzung nur bedingt möglich. Somit gilt es in der Kreislaufwirtschaft und im Rezyklieren immer darum mit Hilfe der GaBi den besten möglichen Mix aus mechanischem, chemischem und thermischem Recycling zu finden, um die Deponie weitestgehend zu vermeiden, die Stoff- und Energiekreisläufe bei geringsten Umweltwirkungen zu weitestgehend zu schließen.
6) Die Nutzungsphase — also die Auswirkungen sachgerechter oder falscher Benutzung durch die Konsumenten — hat immensen Einfluss auf die Gesamt-Ökobilanz. Ein Auto beispielsweise verursacht bis zu 80% der Umweltlasten im Fahrbetrieb, also durch die Fahrerin oder den Fahrer. Somit lässt sich mit der Ganzheitlichen Bilanzierung einfach nachrechnen, dass die Nutzung einer Luxuslimousine — mit einem hohen Verbrauch von 15l Benzin pro 100 km und einer moderaten Fahrweise und Fahrleistung pro Jahr — einen ökologischeren persönlichen Fußabdruck hinterlässt, als die Nutzung eines sogenannten 3-Liter-Autos, was für jede Kurzstrecke angespannt wird. Gleiches gilt für ein Handy. Ein weiteres Beispiel sind die Versuche von Supermärkten Plastiktüten zu verhindern und die Gewissen der Kunden zu beruhigen, indem man nur noch Papiertüten oder Stofftüten anbietet. Hier kann man mit Hilfe der GaBi schnell errechnen, dass diese Maßnahme die Verantwortung an eine sachgerechte Nutzung überträgt, wenn man den ökologischen Einfluss reduzieren will. Papiertüten (und dabei ist es egal, ob es Recyclingpapier oder Primärfasern sind) benötigen über doppelt so viel Energie in der Herstellung (durch den sogenannten Pulping-Prozess, einer energieintensiven Faserherstellung) wie Kunststofftüten. Somit muss die Papiertüte schon mehrfach verwendet werden, um wieder in ökologischen Kategorien mit der Plastiktüte gleichzuziehen, denn auch diese wird oft mehrfach verwendet und die Plastiktüte geht nicht so schnell kaputt und weicht nicht auf. Auch dieses Beispiel zeigt, wie wichtig eine Nutzerverantwortung und eine sachgerechte Benutzung ist. Das gilt um so mehr für Stofftüten, die allein im „Textil-Finishing (ohne die eigentliche Stoff-Herstellung)“ teilweise immense Energiemengen von mehreren 100 MJ/kg Textil benötigen (zum Vergleich eine Plastiktüte benötigt nur ca. 60MJ/kg aber inklusive aller Herstellungs-Prozesse). Wir haben leider oder zum Glück als Konsumenten und Nutzer vieles selber in der Hand.
7) IT IS YOUR CHOICE. Über die Wahl der Lebensmittel hat jeder Einzelne einen immensen Einfluss auf die Reduktion der Umweltwirkungen der Agrarproduktion. Landnutzung und Treibhauseffekt sind neben der Überdüngung des Bodens sie bedeutendsten Umweltwirkungen der Agrarproduktion. Um die gleiche Menge Nährstoffe bereitzustellen bedarf es für die Herstellung von 1 kg Rindfleisch je nach Berechnungsweise min. 15-mal mehr Landverbrauch und Treibhauseffekt als für 1 kg Schweinefleisch und min. 25-mal mehr Landverbrauch und Treibhauseffekt als für 1 kg Geflügelfleisch; von vegetarischer Ernährung mal ganz abgesehen.
8) JEDER KANN UND MUSS BEITRAGEN. Nur durch Verminderung von unnötiger Verschwendung und unsachgemäßer Handhabung können in Industrieländern über 30% (!) an Belastungen für Nahrungsmittel die ungenutzt entsorgt werden müssen vermieden werden.
9) WÄHLE WEISE. Wir werden immer viele Formen von Mobilität brauchen. Die Frage ist nur: Wann brauchen wir welche? Überraschend: Allein im SUV (Sports Utility Vehicle) zu fahren, kommt sehr nah an Fliegen heran. Auch ein kleiner Motorroller kann alles andere als effizient sein.
Quelle: Keynote thinkstep, Ecobalance Conference 2019, Poznan, Polen
10) Ein Ehering aus Gold benötigt 3-mal so viel Energie und erzeugt über 30 mal so viel Treibhausgase wie ein Handy. Selbst Standard Klamotten wie Jeans schlagen überraschend zu buchen. Kaufentscheidungen und Tragedauern sind somit entscheidende Aspekte; wie Lebensplanung an sich (-: