Dieses Buch entstand maßgeblich in einer Zeit, in der in der Ukraine die Bomben krachten und Panzer rollten. All das scheint auf den ersten Blick nichts mit GaBi und nachhaltigem Unternehmertum zu tun zu haben. Wie so häufig, macht also erst der zweite Blick unter die Oberfläche der Schlagzeilen klar, wie viel beides miteinander zu tun hat. Zuallererst steht hier das Thema Nachhaltigkeit im Vordergrund. Kriege zerstören nicht allein Menschen — sie zerstören auch den menschlichen Lebensraum. Wasser wird verschmutzt, der Boden verseucht, die Nahrungsmittel verknappen sich und gesamte weltweite Märkte brechen zusammen. Das alles und noch viel mehr gilt es zu betrachten, wenn man einen Krieg mit der Brille der Ganzheitlichkeit sieht. Doch da gibt es noch eine Komponente, die in Bezug auf die hier erzählten Geschichten im Rahmen der GaBi-Ausgründung mindestens genauso wichtig ist: Die Rolle von Führungspersönlichkeiten, die nicht allein Visionen haben, sondern diese auch mit einem unternehmerischen Mindset umsetzen können.
Es ist ein Mittwochnachmittag. Thomas Reiter ist zu „Gast“ am ICT — dem Fraunhofer Institut für Chemische Technologie. Zwölf Jahre lang war er hier von 1994 bis 2006 Institutsleiter neben der Tätigkeit als Lehrstuhlinhaber in Stuttgart und der Leitung des dortigen Instituts für Kunststoffkunde und -kunde. Noch heute hat er am Fraunhofer ICT ein Büro . Zwar kennt ihn die Dame an der Pforte nicht mehr und längst weiß er nicht mehr, wer genau heute hinter welcher Bürotür auf welchem Gang sitzt. Doch jeder hier hat einmal von ihm gehört. Und einige haben ihn auch noch erlebt. „Der Thomas war einer der letzten Visionäre“ hier, meinen einige. Das heißt nicht, dass Visionäre per se bessere oder schlechtere Chefs sind als andere. Thomas aber hat gezeigt, dass aus Visionen Taten folgen, die ohne Vision nicht möglich gewesen wären. „Schau mal“, zeigt er aus dem Panoramafenster am Ende eines Flurs auf die weitläufige Fläche um das Hauptgebäude. „Da hinten gibt es einen großen Schießstand. Da habe ich damals die hüllenlose Patrone miterfunden. Na ja, nicht erfunden, aber die Idee kam mir. Weißt Du, wieviel Schmutz entsteht, wenn die ganzen Patronenhülsen immer in der Umwelt liegen bleiben? Das musste doch auch anders gehen. Und so kam ich drauf, dass man auch eine entwickeln kann, die noch im Flug mitverbrennt und somit auch noch deutlich mehr Schub für das Geschoss bietet.“
Wenn Thomas das so erzählt und danach gleich selbst über das gerade Erzählte lacht, könnte man meinen, das hier sei Science Fiction oder ein Trickfilm über Daniel Düsentrieb. Doch auch wenn Thomas selbst diese Geschichten mit dem kurzen Kommentar „verrückt“ mehr oder weniger abtut, so sind es genau diese Ideen und deren Ursprung, welche das Unternehmertum eines Thomas Reiter als Beispiel und Vorbild für Ausgründungen aus der Uni ausmachen. Fast jede seiner täglich sicherlich hundert Ideen beginnt immer mit einem: Einer Frage, die sich aus einer ganz einfachen Beobachtung ableitet. Wie verhindert man Müll in der Umwelt? Wie kann man aus Abfall etwas Brauchbares machen? Wie kriegt man es hin, dass im Meer weniger Müll schwimmt. Im Gegensatz zu den heute viel zitierten und gewünschten Maßnahmen zur Wissenschaftskommunikation handelt es sich hierbei gerade nicht um erfundene Geschichten, die technisch komplexe Zusammenhänge verdeutlichen sollen. Es ist gerade umgekehrt. Die einfache Beobachtung gepaart mit dem „gesunden Menschenverstand“ ist der Ursprung des Forschens, des Entwickelns und schließlich des Verkaufens, sofern sich am Ende tatsächlich produzierbare und marktfähige Lösungen ergeben. Nichts anderes bedeutet Wissenschafts- und Technologietransfer. Bei einigen beginnt er mit dem Studium wissenschaftlicher Papiere und der Rezeption von Expertenvorträgen. Bei Thomas Reiter beginnt der Prozess im Leben, im Wald, auf dem Fahrrad oder in der Jugendwerkstatt und endet mit unzähligen wissenschaftlichen Publikationen. Es geht hier nicht darum, den ein oder anderen Weg zu bewerten. Es geht in diesem Buch darum, diesen Weg zu beschreiben, seinen Ursprüngen nachzuspüren und Erkenntnisse für das eigene Handeln am Beispiel einer gelungenen Ausgründung abzuleiten.
All das führt uns schließlich auch zurück zum Krieg und politischen Entscheidungen. Nicht nur haben die Innovationen von Thomas und all denen, die mit GaBi in seine Fußstapfen getreten sind, wahrscheinlich dazu beigetragen, auch Kriege ein bisschen „umweltfreundlicher“ zu machen, auch wenn das natürlich in einer solchen humanitären Katastrophe nicht im Vordergrund steht. Sie haben auch bewirkt, dass mittlerweile hunderter junger Nachwuchswissenschaftler unternehmerisches Denken gelernt haben. Einige davon wurden und blieben später Teil von GaBi in Universität und Unternehmen. Viele von ihnen wurden Unternehmer mit eigenen Visionen, blieben jedoch GaBi meist inhaltlich verbunden. Damit ist auch klar, dass der plumpe Spruch: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“, in sich vielleicht lustig, manchmal zustimmenswert, doch letztlich auch irreführend ist. Wer große Probleme lösen möchte, startet immer mit einer Vision von einer anderen und im Idealfall besseren Welt. Dieser Anspruch verbindet alle Interviewpartner in diesem Buch und hat durch die Jahrzehnte ein Band zwischen allen GaBi-Mitarbeitern geformt. Sie alle wollten und wollen, dass zwischen Wirtschaftlichkeit, Technik, Umwelt und Sozialem kein Gegensatz, sondern ein Gleichklang herrscht, der den Menschen zu einem besseren Leben verhilft. Andere ketten sich dafür an die Gleise und tragen so dazu bei, dass Themen in die Öffentlichkeit gelangen. Unternehmer lösen Probleme gemeinhin anders. Sie entwickeln pragmatische Lösungen, welche einen Markt finden, um dann ebenfalls breite Wirkung in der Gesellschaft zu entfalten. Beides ist nötig. Beides ist hilfreich. Und letztlich kommt es auf die Haltung und Interessen des Einzelnen an, über welche Wege er versucht, die großen Probleme der Menschheit anzugehen. Wichtig ist nur, dass er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt und sich auch als einzelnes Glied der Gesellschaft zutraut, sie anzupacken.
Mit dem Wort Zutrauen ist auch eine weitere, wenn nicht die wichtigste Eigenschaft, berührt, welche das wissenschaftliche Unternehmertum eines Thomas Reiter und seiner „Mannschaft“ über all die Jahre auszeichnet: Führung braucht Vertrauen. Diese Voraussetzung steht vielleicht heute auf Seite 1 eines jeden schlauen Führungsratgebers. Wer aber wissen möchte, wie diese schwierigste aller Führungsaufgaben bewältigt werden kann, kann vom GaBi-Beispiel ungleich mehr lernen. Es ist nicht selbstverständlich, dass junge Hilfswissenschaftler allein auf Konferenzen sprechen, zu Kunden fahren und ihre eigenen Stellen einwerben. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Institutsleiter ständig und auf eigene Kosten alles tut, um seiner Mannschaft „den Rücken frei zu halten“. Und es ist noch außergewöhnlicher, dass er hierfür nicht ständig eigene Lorbeeren einsammelt, sondern jeden Einzelnen auch die Früchte seiner Leistung ernten lässt. Dies alles ist ohne Vertrauen nicht möglich. Denn nur wer vertraut, kann auch loslassen. Und ohne Loslassen ist es nicht möglich, an der Spitze von drei Instituten zu stehen, die am Ende den Mutterboden für eine mittlerweile internationale Firma bieten.
Vertrauen in andere braucht auch Vertrauen in sich selbst. Und hier sind wir am letzten und wahrscheinlich schwierigsten Punkt angelangt, wenn es darum geht, die Erfolgsfaktoren der GaBi-Ausgründung auf die heutigen Umstände in der Universität anzuwenden. Man mag vermuten, dass erfolgreiche Wissenschaftler angesichts zahlreicher wissenschaftlicher Erfolge aus ihrer Vergangenheit und der Überwindung zahlreicher Hürden die letzten sind, die unter mangelndem Selbstvertrauen leiden. Diese Vermutung kann man jedoch zurecht bezweifeln. Die Kämpfe, die Thomas Reiter über die gesamte Zeit zäh und in den meisten Fällen erfolgreich gekämpft hat, zeugen auch davon, dass Unternehmertum aus der Wissenschaft heraus, ob nun mit viel oder wenig Visionärstum verbunden, noch immer schwierig, manchmal sogar unmöglich ist. Die Attacken und Anfeindungen, die dabei überstanden werden müssen, sind nicht immer sachlich und schon gar nicht unpersönlich. Das alles hinterlässt Spuren und kann durchaus früher oder später dazu führen, dass sich auch der entschlossenste und kreativste Macher aus der Universität ergibt und sein Vorhaben auf Eis legt. Dies kann auch dadurch geschehen, dass viele schlichtweg nie Selbstvertrauen in Gefilden außerhalb der Wissenschaft sammeln konnten. Wie soll ein Nachwuchsprofessor sich so sicher sein, dass er ein Unternehmen gründen oder zumindest erfolgreich begleiten kann, wenn er selbst nie in der Industrie oder zumindest in einer Unternehmung außerhalb gearbeitet hat?
Dieser Mangel an Praxisnähe führt eher öfter als seltener dazu, dass sich Wissenschaftler eben gerade nichts zutrauen, auch wenn sie dies unter einem Mantel der Professionalität verstecken. Ob es dazu Studien gibt, ist an dieser Stelle nicht der Punkt. Was zählt ist die breite Kenntnis der Tatsache, dass Unternehmertum aus der Uni heraus noch immer eine Ausnahme bleibt — dies gilt für Studierende wie für Professoren. Möchte Deutschland hier erfolgreicher werden, so kann es von Beispielen wie GaBi lernen. Das geht jedoch nur, wenn man bereit ist, die alten Pfade zu verlassen und sich auf die Unsicherheit einzulassen, die Unternehmertum unweigerlich erfordert. Auch geht es nicht darum, ein Beispiel wie das hier behandelte als „einzigen Weg zur Weisheit“ anzusehen. Vielmehr muss lediglich eine Grundvoraussetzung vorherrschen, die alles damit verbundene erst ermöglicht: Es muss die unbedingte Überzeugung vorherrschen, dass man gegen Probleme jeglicher Art etwas tun kann; es muss klar sein, dass Aufgaben schlichtweg keine Option ist, dass man etwas, und sei es ein noch so kleiner Teil, immer tun kann, um eine Verbesserung zu erreichen. Für all das braucht es Selbstbewusstsein, das ebenfalls nur im Tun erweitert werden kann. Und um dies anzuregen, braucht es nicht allein neue/andere Curricula in den Schulen und Universitäten, die das Handeln in den Vordergrund stellen. Es braucht vor allen Dingen Vorbilder in den Klassen- und Hörsälen, welche nicht allein durch Worte, sondern durch Taten begeistern und andere mitreißen.
Thomas Reiter lebt diese unternehmerische Philosophie in einer Weise, welche seinesgleichen sucht. Neumodische Worte wie Rollentrennung, beidhändige Führung und Agilität klingen in seiner Gegenwart fast lächerlich. Das ist nicht so, weil er diese nicht praktizieren würde. Doch wo das Handeln, die Haltung und die Werte im Einklang sind und täglich beobachtet werden können, braucht es keine Fachtermini. Es braucht nur das, was Thomas Intuition oder Bauchgefühl nennt. Es braucht auch eine gehörige Portion Emotion. All dies sind Dinge, die im modernen Wissenschaftsbetrieb scheinbar keinen Platz mehr haben. Ob das zielführend ist, muss angesichts der schlechten Ergebnisse im internationalen Vergleich jeder selbst entscheiden. Thomas jedenfalls wird weiterhin an diesen Ort und weitere GaBi-Wirkungsstätten kommen. Er wird weiterhin neue Ideen haben und diese auch umsetzen. Er wird selbst das Parkticket holen und die Schranke betätigen. Es braucht für einen visionären Unternehmer wie ihn keine Extrawürste oder Sonderrechte, keine Luxusgüter oder Sternemenüs. Wenn überhaupt braucht es für Thomas nur eines, was GaBi von Anfang an zu dem gemacht hat, was heute noch ist: Menschen, welche die Leidenschaft, den Willen und die Fähigkeiten besitzen, sich ihre Wünsche selbst zu erfüllen.