Nur wenige Tage nach dem Besuch der Journalistin steigt Thomas in seinen blauen Ford Fiesta, um einen Gast abzuholen. Ein junger Professor aus Berlin hat sich angekündigt. Er arbeitet dort an einer Hochschule für Innovationsmanagement. Thomas hat ihn bei einer Online-Konferenz zu praxisorientierter Didaktik vor einem halben Jahr in Kiew kennen gelernt. Heute kommen nur schreckliche Nachrichten über den Krieg in der Ukraine aus dem Autoradio. Vor einem halben Jahr waren noch viele Wissenschaftler aus der ganzen Welt einträchtig online zugeschaltet. Simon Schmal, wie der junge Kollege heißt, hat sich in einer Outbreak Session sehr für Thomas Jugendarbeit interessiert. So entstand die Idee einer Einladung, um dem jungen Kollegen zu zeigen, wie die Jugend Nachhaltigkeit und Unternehmertum erlernen kann. Thomas steht wartend am Parkplatz und sieht, wie die zahlreichen Passagiere ihre Rollköfferchen hinter sich und neben sich her ziehen und schieben. Da kommt ihm gleich eine neue Idee: Er könnte den Schüler/innen in der Jugendwerktstatt die Aufgabe schmackhaft machen, einen Rollkoffer aus Aluminium und einen von den billigen aus Plastik bilanzieren lassen. Es würde ihn wundern, wenn dabei nicht erstaunliche Ergebnisse heraus kämen. Andererseits sagt ihm seine innere Stimme, dass nicht jede Idee auch umgesetzt werden muss. Die vielen Jahre der Berufstätigkeit haben ihn gelehrt, dass zu viel auch einfach zu viel sein kann. Er ist mittlerweile 80, sieht aus wie 60 und arbeitet ein Pensum weg, das mit dem von einem 40-jährigen vergleichbar ist. „Trotzdem“, denkt er bei sich, „die Idee mit den Rollkoffern ist gut. Die Urlaubszeit ist nicht weit weg und die Jugendlichen werden sicher motiviert sein, ihre Ergebnisse an die Erwachsenen zu kommunizieren und ihnen bewusst zu machen, dass Nachhaltigkeit nicht erst beim Nachdenken über Flugzeugemissionen anfängt und endet.
Mittlerweile ist der Zug aus Berlin angekommen und Thomas sieht von Weitem den jungen Kollegen auf sich zukommen. Er winkt. Manchmal sieht er sich selbst in diesen Momenten, wie er vor vielen Jahrzehnten oft mehr Zeit im Zug, im Auto und oft auch im Flugzeug verbracht hat als mit Schlafen oder mit seiner Familie. Corona hat dabei sicher einen Unterschied gemacht, aber das Reisen bleibt wichtig. Natürlich kann man sich von überall her sehen und sprechen. Aber richtige stabile persönliche Beziehungen aufzubauen ist auf diese Weise ein Ding der Unmöglichkeit, da ist Thomas sich einigermaßen sicher. Natürlich ist er offen, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Und heute ist er froh, dass die Tatsache, dass seine Jugendwerkstatt eben kein virtuelles Museum sondern eine lebendige Stätte des Experimentierens und Ausprobierens ist, einen Interessierten anlockt, der mit seiner Arbeit dazu beitragen kann, den Spirit der GaBi und seiner Arbeit in die Zukunft zu bringen. Als Schmal vor ihm steht, begrüßen sich beide mit Kopfnicken. „Ich nehme an, Herr Kollege, Sie haben sich im Zug gestärkt, richtig? Dann können wir gleich zur Jugendwerkstatt fahren. Die Schüler/innen freuen sich auf Sie.“ Schmal wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da ist sein Handgepäck auch schon im Kofferraum verschwunden und Thomas lässt den Motor an. „Sie werden staunen, was die Jugendlichen vorbereitet haben, Herr Kollege.“ Schmal entgegnet, „da bin ich überzeugt“, und grinst aus dem Fenster. Ganz der Mann, den ich am Bildschirm kennen gelernt habe. Er sprüht vor Energie. Ich wünsche mir, dass ich auch mal so voller Tatendrang bin, wenn ich dieses Alter erreiche.
Schmal kommt aus einer ganz anderen Ecke Deutschlands mit einer ganz anderen Geschichte. Er wuchs in einem kleinen Ort in Sachsen auf, etwa eine Stunde von Berlin entfernt. Als er 1980 geboren wurde, stand die Mauer noch. Doch daran kann er sich nicht mehr gut erinnern. Dafür ist die Geschichte trotzdem immer präsent. Seine Eltern leben nach wie vor noch in dem Dorf, das zwischenzeitlich nur noch 130 Einwohner zählte. Mittlerweile hat sich die Zahl sprunghaft jedes Jahr verdoppelt. Corona und die Sehnsucht der Städter nach Landluft und Freiheit hat dazu beigetragen. Auch gibt es eine neue Öko-Bewegung, die scheinbar jedes Jahr mit neuen Ideen kommt, wie man die Landwirtschaft nachhaltiger und das Leben bezahlbar und lebenswerter machen könnte. Nur funktionieren die meisten grandiosen Ideen nicht, weiß Schmal. Auch das ist ein Grund, warum er hier heute im Auto sitzt und die Jugendwerkstatt besichtigen möchte. Er hat genug von den innovativen Konzepten, die auch er selbst noch vor einigen Jahren in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Studien vorangetrieben hat. Er hat genug „Säue durchs Dorf“ getrieben. Seiner wissenschaftlichen Karriere war das förderlich. Doch mittlerweile denkt er anders. Mittlerweile hinterfragt er viel mehr. Ja, mittlerweile hinterfragt er auch sich und seine Rolle als Professor in der Universität. Innovationsmanagement klingt schön und gut. Aber die Studenten, die er vor sich hat, sind alles andere als motiviert, eigene Ideen umzusetzen. Und das Schlimme daran ist, dass Schmal sie verstehen kann. „Sagen Sie, Herr Reiter, wie haben Sie das eigentlich immer geschafft, Ihre Leute so zu motivieren?“ fragt Schmal rüber zu Thomas, als sie die letzten Kilometer über die Landstraße fahren. „Thomas schaut kurz hinüber zu seinem Beifahrer. Dann lächelt er. „Abwarten, Herr Kollege. Wir sind gleich da. Dann werden Sie die Antwort mit eigenen Augen sehen. Ich bin übrigens der Thomas.“ „Simon, freut mich“, entgegnet Schmal. Damit hatte er nun so schnell überhaupt nicht gerechnet. Aber bei diesem Mann ist scheinbar nichts so, wie es ihm mal in der langen universitären Ausbildung beigebracht wurde.
Als sich Schmal entschied, nach dem Abitur zur Uni zu gehen, waren seine Eltern zunächst skeptisch. Sie hatten in der DDR studieren können, aber viel gebracht hat es ihnen nicht. Nach der Wende wurden alle wichtigen Posten in den Firmen mit Leuten aus dem Westen besetzt. „Das will immer niemand von Euch akademischen Hippies hören“, sagt sein Vater heute immer. „Aber wahr ist es trotzdem.“ Schmal weiß, dass seine Eltern unter dem System gelitten haben. Er versteht sie auch. Zumindest will er es. Doch so ganz gelingt es ihm nicht. Das geht auch seinen Geschwistern so. Anneli ist jünger als er und ist Künstlerin geworden. Sie lebt noch immer nahe des Heimatdorfes, will aber weder mit den Dorfbewohnern noch mit den Städtern etwas anfangen. Ihr Freund ist Musiker und verdient ein reguläres Einkommen als Musiklehrer. Beide haben sie irgendwie von allem ein wenig abhängen lassen. Schmals älterer Bruder hat Volkswirtschaft studiert. Schmal sieht ihn nur zu Familienfeiern. Er hat der Familie mehr oder weniger ganz den Rücken gekehrt und ist ein Hauptgrund dafür, warum seine Eltern so auf den „Westen“ schimpfen. „Schau Dir Deinen Bruder an“, sagt sein Vater mittlerweile nur, wenn es um das Thema geht. „An dem siehst Du alles, was in Deutschland falsch gelaufen ist. Der hat nur noch Dollarnoten in den Augen und vergessen, wo er mal herkam.“
Schmal vergleicht die Bilder im Kopf. Die hügelige Landschaft hier könnte genauso gut in Sachsen sein. Aber Landschaften machen nur einen kleinen Teil des Lebens aus. Die Köpfe und deren Werte bestimmen, ob man sich an einem Ort wohl fühlt. Ihm wurde irgendwann alles zu eng auf dem Dorf. Er wollte so schnell wie möglich in die Stadt und zwar möglichst weit weg. Zum Studium ging er daher nach München und wählte BWL. Später studierte er dann noch Informatik dazu. Erst war es nur ein Hobby doch schnell merkte er, dass er dadurch einen ganz anderen Blick auf Probleme gewann. Eigentlich hatte er auch eine tolle Stelle in einem Unternehmen angestrebt. Auch wenn sein Bruder menschlich nicht mehr unbedingt ein Vorbild war, so war die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die er ihm vorlebte, eine Motivation. Er wollte nie wieder den Satz hören: „Das können wir uns nicht leisten. Und schon gar nicht wollte er diesen Satz jemals selbst seinen Kindern sagen müssen. Damit, also mit einer eigenen Familie, hatte es zwar noch nicht geklappt. Dafür brachte ihn sein Weg in die Wissenschaft. Seine Promotion schrieb er dann noch in München in der Wirtschaftsinformatik. Danach verbrachte er ein Forschungsjahr in den USA. Dort spezialisierte er sich vor allen Dingen auf innovative Geschäftsmodelle von Startups. Und wie es der Zufall wollte, lockte ihn dann eine Juniorprofessur nach Berlin — die Stadt, in die er eigentlich nie hatte ziehen wollen, weil sie so nah an der deutsch-deutschen Geschichte ist, die er eigentlich hinter sich lassen wollte. „Ist alles in Ordnung, Simon? War ich zu schnell? Hättest Du doch noch mal ins Hotel vorher gewollt?“ reißt ihn Thomas aus seinen Gedanken. „Nein, nein, ganz im Gegenteil. Ich habe nur drüber nachgedacht, wie die Landschaft hier aussieht und der in meiner Heimat in Sachsen ähnelt“, entgegnet Schmal. „Ach, aus Sachsen bist Du? Das habe ich nicht gewusst“, gibt Thomas zu. „Das hört man aber nicht. Bei uns Schwaben hört man es ja schon meist“. Beide lachen und Thomas biegt auf einen Schotterparkplatz ab, bevor er den Motor ausmacht. „So, da sind wir. Offene Jugendwerkstatt. Hereinspaziert. Da sind auch schon die ersten Schüler zu sehen.
Was Simon in den kommenden zwei Stunden erwartet, hätte er im Traum nicht erwartet. Das hier ist nicht eine Garage, in der man in vier Ecken mal kleine Experimente wie in einem Schülerlabor machen kann. Hier gibt es nichts, was es in einer professionellen Werkstatt nicht gäbe. Nur mit dem Unterschied, dass hier im Prinzip 10 Werkstätten und fünf Garagen, dazu noch diverse Außenanlagen an einem Platz sind. Von Drehbänken, einer Schmiede, einer Hebebühne zur Autoreparatur, 4 Drechselbänke, einer Gold- und Silberschmiede, einer Recyclinganlage, mehrere Drei-D-Druckmaschinen, einer Dauerlauftestmaschine für CFK-Fahrradteile, einer Produktion für Faserstoffe zum Wickeln von Kettenrädern — ja, sogar einem Bienenstock gespickt voll mit Messtechnik und Digitalisierung.. Es gibt hier nichts, was das moderne Handwerk nicht zu bieten hätte. Die Schüler/innen sind mit leuchtenden Augen am Werkeln. Jeder hat hier ein eigenes kleines Territorium. Keiner kommt sich in die Quere, alle wissen, was der andere kann und weiß und alle fragen sich, wenn sie etwas nicht wissen. „Jede Maschine hier hat ihre eigene Geschichte“, erklärt Thomas. „Die da hinten zum Beispiel. Das war die erste. Die haben wir von der Firma geschenkt bekommen. Aber dann durften wir sie erst nicht annehmen, weil es die Bürokratie mal wieder verboten hat. Aber aufgeben kommt natürlich nicht in Frage. Also haben wir uns eine Lösung einfallen lassen, wie es doch ging. Das war damals nicht zu fassen — ist es heute noch immer nicht. Aber es hat sich nicht viel geändert — leider“, fügt Thomas hinzu. Schmal bewundert, wie entschlossen aber wenig frustriert sein Gastgeber, der Urheber dieser Wunderstätte hier, von diesen Kämpfen spricht. Schließlich kennt Schmal nur sehr gut, wovon Thomas redet. Auch er kämpft täglich mit der Uni-Verwaltung Kleinkriege. Allein die Einstellung einer neuen Mitarbeiterin kostet manchmal mehrere Monate und Stunden an Papierkrieg, für den Schmal kein Personal hat. „Ich kann mir vorstellen, was Du meinst, Thomas“, entgegnet er nur kurz. „Wenn es die Zeit erlaubt, würde ich gern hören, wie Du das damals in der Universität gemacht hast, diese ganzen Mammutprojekte voran zu treiben ohne dabei den Mut zu verlieren. Ich wünschte mir oft, das Bildungssystem wäre anders und würde Unternehmertum fördern statt es zu bestrafen.“ In dem Moment legt Thomas den Notizblock schnell hin, auf den er eben die neuesten Daten eines Dauerlaufexperiments notiert hat und schaut Schmal direkt in die Augen. „Wünschen kannst Du Dir viel, Michael. Du musst lernen, sie Dir selbst zu erfüllen. Das war mein Ansatz. Und dazu kann ich noch sagen, dass ich das heute als „Klugscheißer“ so sagen kann. Immer einfach war das nicht. Davon kann ich Dir heute Abend bei einem Glas Bier mal mehr erzählen. Jetzt komm, es gibt noch viel zu sehen.“
Der Besuch in der Jugendwerkstatt dauert insgesamt fünf Stunden. Für Schmal gehen sie rum wie im Fluge. Er spricht mit den Schüler/innen, die mit einer Ernsthaftigkeit und Begeisterung an ihren Projekten arbeiten, wie er sie bei seinen Studierenden, die gut und gern 10 Jahre älter als diese Jugendlichen sind, oft vermisst. Sie erzählen ihm nicht nur von den Dingen, die sie schon gebaut und gelöst haben. Sie erzählen ihm auch von den vielen Ideen, die sie für neue Projekte haben. „Schauen Sie“, sagt Manuela, die gerade Beton anrührt. „Hier verankern wir gerad große Stützen, da wir einen Pavillon brauen für den Sommer. Das muss man hier aber genau ausmessen, damit es von der Statik her passt. Eigentlich hätten wir es anders machen sollen mit den Pfosten, damit das Regenwasser besser abfließen kann. Aber es ist gerad noch in Ordnung so, sagt auch Thomas. Beim nächsten Mal würden wir es anders machen. Trotzdem reicht es für das, was wir hier machen wollen aus.“ Als Manuela diesen Satz sagt, schaut Schmal rüber zu Thomas, wie er einem Jungen dabei hilft, aus Pappkartons und Milchpackungen Recyclingplatten zu pressen. „Beim nächsten Mal würden wir es anders machen.“ Ja, genau das ist es, was Schmal seinen Studierenden immer als eine der bekannten Silicon Valley Weisheiten predigt. Fehlerkultur und “fail to succeed” heißt das neudeutsch. Hier erkennt er zum ersten Mal, wie man das ganz einfach ohne viele Worte und hochtrabende Theorien vermittelt. Und im gleichen Moment schämt er sich auch, dass er selbst seine Studierenden oft genug mit hochtrabenden Theorien und Fachwörtern gelangweilt hat, um zu zeigen, dass er der schlaue Professor ist. Hier sieht er, wie man Unternehmertum nicht nur spielerisch, sondern mit dem nötigen Ernst erlernt und wahrscheinlich nie wieder aus dem Kopf bekommt.
Am Abend sitzen Thomas und Schmal noch lange zusammen in einer typisch schwäbischen Gaststube. Hier gibt es Maultaschen, die Herrgottsbscheißerle heißen und Wein aus der Region. Schmal hat das Gefühl, dass sein neuer Mentor Thomas, mit keiner Stunde müder wird. Er sprüht vor Elan. Mit jeder neuen Idee entstehen auch neue Fragen. Anstatt sie zu beantworten, macht Thomas Pläne, was genau zu tun wäre, um darauf neue Antworten zu finden, die nicht allein wissenschaftliche Publikationen füllen, sondern das Leben der Menschheit verbessern. Schmal merkt, wie er selbst mit jeder weiteren Stunde in der Gegenwart von Thomas, wieder so strahlt, wie die Jugendlichen in der Werkstatt heute Nachmittag. Lange hatte er selbst dieses Gefühl nicht mehr. Mit jedem Jahr in der Uni, ging sein eigenes Visionärsdenken verloren. Während seiner Zeit in den USA hatte er auch mal davon geträumt, ein Startup zu gründen und damit die Welt zu verbessern. Heute lächelt er nur innerlich, wenn Studierende damit zu ihm kommen. Denn er glaubt ehrlich gesagt nicht, dass das klappt, trotz all der Theorien, die er ihnen vermittelt. Seit heute weiß er, dass es doch geht. Und er weiß auch, was er zu tun hat, damit seine Studierenden genauso innovativ und verantwortungsvoll ans Werk gehen. Die Antwort hat sich demnach tatsächlich von selbst ergeben, wie es Thomas vorhergesagt hatte. „Danke“, bleibt ihm am Ende eines langen Tages nur zu sagen. „Sag nur noch eines: Die Geschichte von diesem erfolgreichen Unternehmen, das mal von Deinen Studierenden gegründet wurde, die GaBi. Gibt es dazu ein Buch, das ich meinen Studierenden geben könnte? Es wäre doch ein tolles Beispiel, um zu zeigen, wie Nachhaltigkeit und Unternehmertum Hand in Hand gehen.“ Thomas, der schon fast zum Auto aufbrechen wollte, um seinen Gast im Hotel dem Schlaf zu überlassen, dreht sich noch mal um. „Das ist eine tolle Idee, Simon. Ist bereits in Arbeit.“