Marco und Lisa sitzen über ihre iPads gebeugt und recherchieren Transportwege von Handylieferungen in Schweden. „Konzentriert Euch nur grob auf die Angaben, die wir von Apple herausgefunden haben bezüglich des iPhones“, sagt Nadja vom Pult aus. „Sonst wird es zu kompliziert. Dann schafft Ihr es in der Zeit nicht.“ „Aber Frau Süßkind, man muss es doch genau ausrechnen, sonst hat es doch keinen Sinn. Wir müssen doch die Fakten kennen, um wirklich zu zeigen, wie umweltschädlich es ist, sein Handy alle zwei Jahre weg zu werfen“, gibt Lisa zurück. Nadja nickt verständnisvoll und grinst in sich hinein. Sie sieht etwas von sich in den Schüler/innen. Sie hätte wahrscheinlich auch so gehandelt, wäre sie hier Schülerin. Sie wollte auch immer alles ganz genau wissen. „Ist schon recht. Ich will Euch auch nicht bremsen. Mir ist nur wichtig, dass Ihr Euch nicht verzettelt und das Große Ganze aus dem Blickfeld gerät. „Nein, Frau Süßkind, machen wir nicht. Wir haben doch schon so viele überraschende Ergebnisse bei den Daten zum Display und der Elektronik gefunden. Wir ahnen schon, worauf es hinausläuft.“ Marco zottelt Lisa am Ärmel. Ihm reicht es offensichtlich mit dem Gerede. Er braucht Lisa jetzt wieder mit voller Konzentration bei der Arbeit. Schließlich muss nächste Woche das Ergebnis stehen und präsentiert werden. Dann nämlich sind die acht Doppelstunden rum, in denen sich alles um GaBe drehte, die Ganzheitliche Betrachtung, sozusagen ein abgespecktes Modell der GaBi für den Schulunterricht.
Nadja setzt sich hin und lässt den Blick über die anderen Kleingruppen schweifen. Hätte man ihr vor drei Jahren gesagt, dass sie nun selbst als Lehrerin in einer Oberstufe sitzen würde und den Schülern Nachhaltigkeit am Beispiel von Lebenszyklusanalysen beibringt, sie hätte wahrscheinlich gezweifelt. 2018 kam sie zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung. Sie erinnert sich noch genau an das erste Zusammentreffen mit Thomas und Doris von der TheoPrax Stiftung. „Du studierst NWT auf Lehramt?“, hatte sie damals Simon gefragt, der im Fraunhofer Team der GaBi ist. „Dann musst Du unbedingt vorbeikommen nächste Woche. Thomas, der Begründer der GaBi, arbeitet an einem neuen Projekt. Es geht um eine neue Version von GaBi für die Schule. Es nennt sich GaBe, also Ganzheitliche Betrachtung.“ Schon als sie dann den Raum betrat und zum ersten Mal mit den GaBi-Urgesteinen zusammenkam, spürte sie, dass daraus vielleicht einmal mehr werden würde. Eigentlich hatte sie NWT zunächst nur zum Ausgleich studiert. Chemie war schon immer ihr Steckenpferd und sie wollte Chemielehrerin werden. Aber mit NWT war da eben noch ein Fach, das aktuell noch immer in den Kinderschuhen steckt. „Wir haben da so abgefahrene Sachen gelernt wie die Lasten von Kränen zu berechnen oder wie man Maschinen baut. Total abgefahren und damit eben auch ein toller Ausgleich zur Theorie oder der Forschung im Chemielabor“, hat sie kürzlich einem Magazin für Studienorientierung erzählt. Jedenfalls fühlte sie sich damals in der Runde der GaBis direkt wohl. Und so kam es dann, dass sie ihre Abschlussarbeit über die Handybilanzierung schrieb — ein Unterfangen, das alles andere als leicht war, da die Daten schwer zu beschaffen waren. „Ich bin da wirklich skeptisch“, hatte Simon damals gesagt. „Wenn wir die Daten von den Herstellern nicht bekommen, dann haben wir keine Grundlage. Vielleicht solltest Du lieber ein anderes Produkt nehmen. Im GaBe-Arbeitsheft haben wir zum Beispiel das Skateboard analysiert.“ Doch Nadja ließ nicht locker und schließlich schaffte sie es, die Daten mit einigen Vereinfachungen in der Berechnung zu finden und die Arbeit erfolgreich zu schreiben.
GaBi-Handybilanz von Schülern (Sauer)
„Frau Süßkind, hatten Sie nicht gesagt, um 11:45 Uhr fangen wir mit der Diskussion an?“ Nadja ist sofort wieder zurück im Hier und Jetzt, als diese Frage von Frank kommt, der seitlich an der Fensterseite des Klassenraums zusammen mit drei weiteren Mitschülerinnen heute daran gearbeitet hat, Daten für die Produktion der Handies auszuwerten. „Ja, Frank, stimmt. Ich habe mich nur gerade daran erinnert, wie ich vor einigen Jahren zum ersten Mal mit der GaBe-Methode in Kontakt kam.“ Nadja bittet die Schüler/innen, ihre Arbeit für heute zu beenden und einen Moment zu überlegen, was ihnen heute für neue Erkenntnisse gekommen sind. Zunächst herrscht Stille, doch dann meldet sich Anke in der letzten Reihe. „Mir ist klar geworden, dass es total der Luxus ist, wenn man überhaupt so ein Smartphone hat. Ich meine, viele Kinder in armen Ländern haben das sicher nicht. Und außerdem haben die da andere Probleme, schätze ich mal. Die sammeln ja sogar Müll und verkaufen Schrott. Das habe ich vor Kurzem in einer Dokumentation aus Ghana gesehen.“ Nadja nickt und dankt Anke für ihre Gedanken. Da schaltet sich auch schon Thomas von der gegenüberliegenden Seite der U-förmig gestellten Tischformation ein. „Es ist aber nicht richtig, das immer nur auf Afrika zu reduzieren“, wirft er ein. Thomas ist noch jünger als die anderen in dieser 11. Klasse. Er hat ein Jahr übersprungen und langweilt sich oft im Unterricht. Aber in den GaBi-Einheiten in NWT blüht er regelrecht auf, stellt Nadin zu ihrer Freude fest. „Du musst sehen, dass wir auch in Deutschland total viele arme Kinder und Familien haben. Und es gibt Untersuchungen darüber, dass Nachhaltigkeit in sozial schwächeren Kreisen weniger wichtig genommen wird, weil dort existenzielle Sorgen herrschen. Zum Beispiel wird dort auch weniger Müll getrennt. Und das ist ein Dilemma, denn natürlich kann man das verstehen. Aber gleichzeitig zeigen unsere Ergebnisse hier ja, dass alle einen Teil dazu beitragen können, dass wir den Planeten nicht weiter zerstören. Frau Sauer, wie kann man das lösen mit der Armut und der Nachhaltigkeit?“
Nadja dankt auch Thomas für seine kritische Beobachtung und seine Frage. Sie lässt ihn auch gleich wissen dass sie keine einfache Antwort darauf hat. Vielmehr freut sie sich, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Sie hat schon im Studium gelernt, dass Lehrer sein weniger mit „richtigen“ Antworten zu tun hat, sondern mit der Begeisterung, die man in Schülern wecken kann, damit sie eigene Fragen stellen. „Ich weiß es nicht“, sagt Nadja ehrlich. „Aber ich weiß, dass Ihr Euren Teil dazu beitragen werdet, dass sich etwas verbessert.“ Da meldet sich schon Tanja aus der ersten Reihe. Sie hat ein Sommersprossengesicht und so ein positives Gemüt, dass sie regelmäßig als Klassensprecherin Konflikte unter den Mitschülern löst und immer etwas Positives sieht. „Also ich mache das so, dass meine Mama immer das alte Handy von mir bekommt. Und weil sie das Handy gar nicht so viel nutzt, braucht sie auch nicht viel Speicherplatz und die neusten Apps. Und sie behandelt es auch sehr gut. Ihr ist noch nie eines herunter gefallen. Daher hält es total lange. Ich finde, das ist auch eine Form von Nachhaltigkeit. Was natürlich nicht heißt, dass es trotzdem irgendwann entsorgt werden muss.“ Die anderen nicken zustimmend. Auch Nadja findet, dass das eine prima Sache ist. Sie hat das ähnlich auch schon in ihrer Familie erlebt, dass gebrauchte Handies und Laptops weitergegeben wurden.
Nach dem Unterricht fährt Nadja auf direktem Weg nach Hause. Sie nimmt sich nur schnell ein Glas Milch aus dem Kühlschrank und beißt in ein Stück Kuchen, das noch vom Wochenende übrig geblieben ist. Dann rennt sie die Treppe ins Arbeitszimmer hoch und fährt den PC hoch. Sie muss für morgen noch zwei Unterrichtseinheiten für Chemie in der 11. und 13. Klasse vorbereiten und sie möchte, dass es gut wird. Überhaupt möchte sie immer, dass es gut wird. Sie druckt sich nicht einfach vorgefertigte Arbeitsblätter aus. Sie möchte den Schülern individuelle Aufgabenstellungen geben. Aber langsam fragt sie sich schon, ob das immer so weitergehen wird. Sie ist ja noch ganz neu im Job. Erst letztes Jahr hat sie das Referendariat beendet. Der Druck, sich zu beweisen, ist gerade unter den jungen Kolleg/innen hoch. Aber der innere Leistungsanspruch ist wie immer noch schlimmer. „Ach, nun komm schon, es macht ja auch viel Spaß“, ermuntert sie sich selbst und öffnet eine neue Word Datei. Sie fragt sich, ob man nicht GaBe auch in den Chemie-Unterricht einbauen könnte. Ob es nicht auch Sinn machen würde, eine neue Aufgabenstellung für die Ganzheitliche Betrachtung chemischer Substanzen zu entwickeln. Da sind sie wieder, die vielen Ideen. Nadja gibt schnell „Lebenszyklusanalyse und Chemie“ im Browser ein. Ganz oben in der Trefferliste erscheint der Name einer großen Chemiefirma. „Das ist es!“, platzt es aus ihr heraus. Sie erinnert sich, dass die GaBis einmal davon erzählt haben, dass sie auch Projekte mit genau dieser Firma gemacht haben. Sie öffnet das Emailprogramm und schreibt Simon mit Thomas und Doris in cc. Sie bittet sie um Dokumente und Fallbeispiele, die für Schüler interessant wären und entsprechend abwandelbar. Dann widmet sie sich wirklich ihrer Unterrichtsvorbereitung. Doch schon nach 10 Minuten öffnet sich das Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm. Sie kann es nicht lassen und schaut nach. Tatsächlich! Thomas hat ihr bereits geantwortet.
Liebe Nadja, wie immer denkst Du mit schnellen Schritten voraus. Ich habe mich sehr über Deine Nachricht gefreut. Im Anhang erhältst Du drei Beispiele von Veröffentlichungen, die wir damals mit GaBi gemacht haben im Bereich Chemie. Ich denke, das Beispiel Feuerwerk könnte etwas sein, dass die Schüler/innen beflügelt. Melde Dich gern. Ich unterstütze dabei, die Unterlagen so aufzubereiten, dass sie für Schüler/innen zugänglich sind, aber auch von anderen Lehrer/innen genutzt werden können. Liebe Grüße, Dein Thomas.
Nadja öffnet den Anhang und schnell sind alle Überstunden, die noch auf sie warten, vergessen. Die Schüler werden das Beispiel lieben. Und sie freut sich bereits, es mit ihnen zu diskutieren. „ich wünsche mir, Lehrerin zu werden“, hatte sie damals schon lange vor dem Abitur mal gesagt, als sie einen Berufsinformationstag hatten. In diesem Moment realisiert sie, dass sie sich diesen Wunsch bereits selbst erfüllt hat.