
Nicole legt Holz nach, um den Ofen anzufeuern. Sie und Markus sind gerade erst nach Hause gekommen. „Zu Hause“ ist für die beiden seit mehr als 20 Jahren Neuseeland. „Am Anfang haben die Kollegen bei GaBi noch Probleme gehabt, zu verstehen, dass Australien und Neuseeland zwei unterschiedliche Länder sind und vor allen Dingen, dass beide mehr als drei Flugstunden voneinander entfernt sind“, lacht Nicole, als sie die Geschichte einer Journalistin erzählt, die die Startup-Szene in der Pazifikregion recherchiert. Nicole hat noch das Jankerl vom Business-Treffen zuvor an. Aber noch ist es auch zu kalt, es auszuziehen. In Deutschland wird es jetzt gerade Sommer. In diesem Teil der Erde ist es Winter. „Es wird auch schon mal kalt, aber wir haben selten unter 0 Grad und vor allen Dingen ist es nicht so grau, dafür ziemlich windig“, erklärt Nicole ihrem Gast. Das Jankerl passt zu dem bayerischen Akzent, den man bei Nicole noch stark hört, wenn sie Deutsch spricht. Im Englischen dagegen hat sie den typischen neuseeländischen Akzent angenommen. Es ist schon fast 20:00 Uhr am Abend und fast schon stockdunkel. Aber Nicole und Markus war es wichtig, dieses Gespräch noch zu führen. Denn ihnen liegt etwas daran, junge Unternehmer zu fördern. Darum drehte sich auch die Veranstaltung am Abend, in der sich Investoren der pazifischen Region getroffen haben. Aber Zeit und Raum zu einer leisen Unterhaltung war dort nicht. Deshalb hat Nicole kurzentschlossen die Journalistin Maite zu sich nach Hause eingeladen. Markus zieht sich derweil um und kümmert sich weiter darum, dass der Ofen warm wird.
„Wie kommt es überhaupt, dass Ihr hier in Neuseeland gelandet seid?“ fragt Maite. „Ach, das war ein Traum, den wir uns erfüllt haben. Ben und ich kennen uns ja noch von der Uni in München. Ich habe mehr durch Zufall als Plan meine Promotion gemacht, da jemand anders ausgefallen ist. Ich war die einzige damals, die Ökobilanzen gemacht hat. Ich hatte ja ursprünglich Forstwissenschaft studiert. Und dann brauchte ich natürlich Software. Und GaBi war damals eine der wenigen auf dem Markt. Dann bin ich, das muss so 1998 gewesen sein, nach Stuttgart ans Institut für Kunststoffkunde und –prüfung (IKP) habe die Software kennen gelernt und verwendet. Das war sozusagen der Start. Und dann war ich ein paar Monate für ein Projekt an die Uni S??? in England. Da brauchten wir auch Software und ich habe GaBi dort bekannt gemacht. Danach zog es mich nach Neuseeland. Dort hatte ich eine Forschungsstelle. Auch da brauchten wir Software, aber sie hatten kein Budget bzw. nur für den Konkurrenten. ‚Das ist aber schade‘, habe ich da gesagt. Das sollten wir ändern, denn die GaBi kann mehr. Dann habe ich kurzerhand die GaBi Leute daheim in Stuttgart angerufen und nach der Lizenz gefragt. Ich weiß noch, damals war GaBi eben GaBi. Da fand man für alles eine pragmatische Lösung. Ich glaube, Paul oder Harald haben dann gesagt: ‚So, so, ihr habt kein Budget für die GaBi. Na ja, wir suchen im Moment einen Vertriebspartner bei Euch da drüben. Das wäre doch was, oder? Als Vertriebspartner kriegst Du natürlich die Lizenz.‘ Damit war das Problem gelöst und ich war plötzlich Vertriebspartner. Wir haben dann LCA Neuseeland gegründet.“
Maike macht sich allerlei Notizen, als Nicole von den „alten Tagen“ der GaBi erzählt. „Und wie ging es dann weiter? Ihr seid einfach hier geblieben und habt GaBi hier aufgebaut?“ „Nein, so war es nicht, also zumindest nicht so reibungslos. Ich war ja weiter mit meiner Vollzeitstelle in der Forschung. Aber ich wollte mehr und unterschiedliche Industrieprojekte machen. Ich war nie so der Paperschreiber. Mir ging es ums Machen, um die Projekte mit der Industrie, dort aber eben nicht nur zum Thema Holz, was der Fokus an meinem Institut war. Ich wollte auch Projekte mit der Stahlindustrie machen, die wir ja auch hatten. Jedenfalls war ich dann etwas gefrustet und dann kann ich mich erinnern, waren wir zu Besuch in Stuttgart zu einer Konferenz. Es muss so um 1:30 Uhr nachts gewesen sein in irgendeiner Bar nach mindestens fünf Cocktails. Da fragte mich dann Simon, wie es mir so ginge in Neuseeland. ‚Och‘, sagte ich, ‚so, so. Auf der Arbeit ist es nicht so toll.‘ Das hatte ich natürlich nicht ganz so ohne Hintergedanken gesagt, da ich wusste, dass sich bei der PE damals noch viel tat. Simon lud mich auch prompt für den nächsten Tag zu einem Zweiergespräch ein und eröffnete mir dann, dass sie jemanden suchten, der das Büro in Perth, Australien, vorantreibe. ‚Perth? Du weißt aber schon, dass wir in Wellington, Neuseeland, sitzen?‘ gab ich zurück. Das war den Jungs irgendwie nicht so richtig klar, dass da hunderte von Kilometern dazwischen liegen. Jedenfalls war das dann aber kein Hinderungsgrund. Wir einigten uns darauf, dass Ben und ich dann einen gemeinsamen Standort für die Region „Australasia“ aufmachten. Ben war dann zuerst zwei Monate dabei und hat Finanzen gemacht. Später kam er dann auch voll mit rein.“
Nicole zieht sich die Jacke aus und auch Ben setzt sich dazu. Mittlerweile ist es stockdunkel draußen, aber der Ofen wärmt inzwischen wunderbar. Das Haus der beiden ist direkt in der Nähe der Küste. Es ist ein Paradies für alle, die die Natur lieben. „Hast Du Forstwissenschaften auch wegen der Liebe zum Holz studiert?“ will Maike wissen. „Nein, eigentlich nur weil ich den Wald liebe. Ich war von Kindheit an gern dort. Und hier hat man atemberaubende Natur. Aber vor allem sind die Menschen der Hammer. Sie sind so freundlich. Weißt Du, wenn Du hier etwas im Laden nicht bekommst, dann sagt Dir die Verkäuferin direkt: ‚Entschuldigen Sie, wir haben das leider nicht oder es ist ausverkauft. Aber gehen Sie doch mal hinten hin ans Ende der Straße zu Laden xy, da werden Sie es bekommen‘. Das ist die Kultur hier. Es geht nicht um Wettbewerb. Es geht darum, Dir als Kunde zu helfen. Wenn alle den Kuchen größer machen, dann haben alle mehr davon. Das ist die Philosophie hier. In Deutschland habe ich das oft vermisst. Und vor allem hat man hier diese unglaubliche Freundlichkeit der Menschen. Das ist einfach was anderes.“ Maike lächelt. Sie denkt an ihr letztes Erlebnis in einem Geschäft am Bahnhof kurz vor ihrer Abreise. Als Journalistin ist sie viel unterwegs und sie weiß genau, wovon Nicole spricht. Sie hatte den Verkäufer nur freundlich nach einer Zeitschrift gefragt. Er gab ihr nur die Antwort, dass das nicht sein Problem sei, wenn eine Zeitschrift nicht da sei. Er könne nur das verkaufen, was im Regal sei. Außerdem sei Corona und Krieg in der Ukraine und die Lieferungen kämen nicht. Auch das sei nicht sein Problem. Maike nimmt einen Schluck von dem heißen Tee, den Ben gerade eingeschenkt hat.
„Und wo steht Ihr jetzt? Ich meine, vorhin bei dem Startup Treffen seid Ihr als Investoren gewesen. Da muss ja ziemlich viel passiert sein seit den ersten Tagen von GaBi in Neuseeland, dass Ihr nun sogar in andere investieren könnt“. „Nun,“ setzt Ben an, „wir sind jetzt kein Startup geworden, das wie eine Rakete zündet. Die Geschichte ist ganz einfach. Wir haben einfach seit unserem Start hier 2008 die Firma langsam aber stetig weiter ausgebaut, also zunächst die PE und dann Thinkstep. Die Verbindung mit Deutschland war weiter eng. Wir hatten regelmäßig Leute aus dem Stuttgarter Team hier von der Uni. Einige von ihnen sind heute noch bei uns, haben sich hochgearbeitet. Andere sind wieder zurück und haben ihre Karrieren woanders fortgesetzt. Aber den GaBi-Leuten war immer daran gelegen, dass die jungen Leute rauskamen. Es gab sogar ein Programm später, das Simon aufgesetzt hatte. Das erlaubte GaBis einige Monate in einem der Offices im Ausland zu verbringen und Erfahrung zu sammeln. Wir waren einer der Partner. Die Leute wurden sorgfältig ausgewählt und vorbereitet. Da gab es im Grunde nie Reinfälle und mit vielen stehen wir noch in Kontakt. Ich glaube, das war ein Grundthema aus der Anfangszeit. Es war immer GaBi-Philosophie, über den Tellerrand zu schauen und in die Welt hinaus zu gehen. Das wurde dadurch möglich. Natürlich gab es auch bei uns Schwankungen. Das Geschäft lief nicht immer so super, dass man viele Leute einstellen konnte. Aber wir haben es geschafft. So kam dann auch der Moment, dass wir 2016/17 entschieden haben, einen Buyout zu machen.“ Maike runzelt die Stirn. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Sie hatte zuvor recherchiert und sich gewundert, dass GaBi hier noch immer Thinkstep heißt und nicht Nemesis, wie die Firma in Deutschland heute heißt. Ben antwortet, als könne er ihre Gedanken lesen. „Ja, Buyout hieß, dass wir unsere Anteile kauften. Wir hatten ja von Beginn an immer Anteile gehalten. Das war manchmal etwas kompliziert, da durchzublicken. Aber letztlich waren wir bei allen Finanzierungsrunden bis die Investoren hinein kamen dabei und da lag es nah, nun diesen Schritt zu gehen, bevor die Firma dann 2018 an Nemesis verkauft wurde. Das hatte ganz einfach den Grund, dass wir in den vielen Jahren hier gelernt haben, dass man in Neuseeland ein Business nur vor Ort leiten kann. Man muss die Verbindungen hier haben und integriert sein und vor allem als eine in Neuseeland registrierte Company agieren.“
Hintergrund: Management-Buyout
Ein Management-Buyout (MBO) ist eine Unternehmensfinanzierungstransaktion, bei der das Managementteam eines Unternehmens das Unternehmen erwirbt, indem es sich Geld leiht, um den oder die derzeitigen Eigentümer auszukaufen. Eine MBO-Transaktion ist eine Art von Leveraged Buyout (LBO) und kann manchmal auch als Leveraged Management Buyout (LMBO) bezeichnet werden.
Bei einer MBO-Transaktion ist das Managementteam der Ansicht, dass es sein Fachwissen einsetzen kann, um das Unternehmen zu vergrößern, die Betriebsabläufe zu verbessern und eine Rendite zu erzielen. Diese Transaktionen finden in der Regel statt, wenn der Eigentümer und Gründer in den Ruhestand gehen möchte oder ein Mehrheitsaktionär aussteigen will.
Kreditgeber finanzieren Management-Buy-outs oft gerne, weil sie die Kontinuität der Geschäftstätigkeit und des Führungsteams des Unternehmens gewährleisten. Der Übergang kommt bei den Kunden und Klienten des Unternehmens oft gut an, da sie erwarten können, dass die Qualität der Dienstleistungen fortgesetzt wird.
Warum ein Management-Buyout?
· Management-Buyouts werden von großen Unternehmen bevorzugt, die sich von unwichtigen Geschäftsbereichen trennen wollen, oder von Eigentümern privater Unternehmen, die sich zurückziehen wollen.
· Sie werden von Managementteams unternommen, weil sie den finanziellen Anreiz für das potenzielle Wachstum des Unternehmens deutlicher wahrnehmen wollen, als sie dies als Arbeitnehmer tun könnten.
· Für Unternehmenseigentümer sind Management-Buy-outs attraktiv, da sie sich des Engagements des Managementteams sicher sein können und das Team einen Schutz vor negativer Presse bieten wird.
Nun zieht auch Maike ihren dicken Pulli aus. Sie ist begeistert davon, wie stark sich auch Ben seinen Schwabenakzent erhalten hat. Vorhin hat sie ihn bei dem Event nur Englisch sprechen gehört. Nun aber scheint es, als säßen sie hier gemeinsam in irgendeiner Hütte im Schwarzwald, wäre da nicht die Tatsache, dass hier Neuseeland ist. „Und wo steht Ihr jetzt genau?“ Nicole setzt zu einer Kurzbeschreibung an. „Heute haben wir fast 40 Mitarbeiter. Wir kriegen mehr Aufträge als wir abarbeiten können. Es ist eine große Freude aber auch eine gewisse Last. Denn wir müssen uns jetzt Strukturen bauen. Man kommt irgendwann mit der alten GaBi-Methode nicht mehr klar, das wissen wir. Wir müssen Policy Papers schreiben. Die Leute müssen wissen, was sie „dürfen“ und was nicht. Sie reporten heute nicht mehr alle direkt an Nicole auf dem kurzen Weg. Das alles sind Umstellungen, die es zu meistern gilt, wenn das Team jetzt kontinuierlich erweitert wird.“ Meike denkt, während sie das notiert, an die Begegnung mit einem anderen GaBi-Gründermitglied vor einigen Wochen. Er hatte ihr gesagt, dass man eben hinterher immer schlauer sei. Aber die Tatsache, dass man sich alles selbst beigebracht hätte, führte eben auch dazu, dass weiterhin viele irgendwie alles machten und daher keiner die Notwenigkeit gesehen hatte, Strukturen und lästige Formalitäten einzuführen. Das scheinen Nicole und Ben nun etwas anders zu machen. „Gerade haben wir ein eigenes Communications Department eingerichtet, das sich um Presse und Social Media kümmern wird. Wir brauchen das und sind überzeugt, dass diese Aufgaben intern am besten abgedeckt sein werden.“ „Und was ist mit GaBi?“, will Meike noch abschließend wissen. „GaBi ist weiterhin der wichtigste Baustein in unserer Unternehmergeschichte. Wir heißen jetzt zwar weiterhin Thinkstep ANZ und nicht Nemesis und wir sind nicht mehr in so engem Kontakt wie früher, aber die Verbindung ist weiterhin da, natürlich weil die Software uns verbindet und die gemeinsame Mission. Wir arbeiten alle weiterhin am gleichen Ziel und wenn es noch so weltverbesserlich klingt: unseren Planeten vor der menschgemachten Zerstörung zu retten. Das war immer unser Anliegen, egal, ob wir nun in Stuttgart, Japan oder eben Neuseeland sitzen.“