20. Spanferkel-Spirit

Anke huscht über den breiten Flur des Fraunhofer Instituts für Bauphysik. Es ist weiterhin Corona in diesem Frühjahr 2022. Viele der Kolleginnen sind noch im Home Office. Flüchtig winkt sie Oliver zu, der durch die Scheibe des Nachbarbüros zu sehen ist und mit Kopfhörern lebhaft mit einem Projektpartner telefoniert. Heute hat sich eine Journalistin angekündigt. Sie schreibt ein Sachbuch zur Geschichte der Nachhaltigkeit in Deutschland. „Schon komisch“, geht es Anke durch den Kopf, als sie sich in der Teeküche einen Kaffee macht. „Plötzlich wollen alle etwas über Nachhaltigkeit wissen. Dabei liegen die Ursprünge der GaBi, ja dieser Abteilung, schon länger als 30 Jahre zurück.“ Anke schaut in die kleinen Schaumbläschen des Kaffees. Im Studium bereits hat sie gelernt, jedes Ding gedanklich in seine Einzelteile zu zerlegen. Doch für einen ganzheitlichen Blick auf die Welt reicht das nicht. Sie weiß, dass dazu immer noch viele andere Faktoren gehören, die man nur schwer messen kann, die aber mitgedacht werden müssen. Welche Reise hat dieser Kaffee schon hinter sich? Wie wurde er transportiert? Wie könnte man die Verpackung nachhaltiger gestalten? Dann muss Anke schnell in sich hinein grinsen. Wenn sie diese Gedanken jetzt laut äußern würde, dann würde ihre Mutter sie wieder schelmisch „Frau Professor“ nennen. Denn häufig macht sie sich Gedanken über Themen, die viele weniger interessieren. Das war schon in der Kindheit so.

Anke nimmt die Tasse und geht zurück ins Büro. Sie winkt auf dem Weg noch schnell Lukas, Karsten und Conny zu, die jeweils in ihren Büros in die Bildschirme vor ihnen vertieft sind. Sie sollen nachher auch bei dem Gespräch mit der Journalistin dabei sein. Ob wohl auch Professor Reiter dabei sein wird bei dem Gespräch? Sie hatte von ihrem Chef, Thilo, so etwas gehört. Es würde sie freuen. Sie hat Reiter zum ersten Mal im letzten Jahr bei der großen Life Cycle Management Konferenz kennen gelernt. Am Anfang fühlte sie sich fast etwas fehl am Platze. Die alten „GaBianer“ kannten sich untereinander alle. Aber sie als Doktorandin und die ganz neuen wissenschaftlichen Mitarbeiter sind dann schon eine neue Generation, zumindest irgendwie. Andererseits findet Anke, dass sie trotzdem viel verbindet. Man kann das kaum in Worte fassen, aber da ist ein Band zwischen allen, die etwas mit GaBi zu tun haben. Man versteht sich auf Anhieb. Man hat gemeinsame Werte. Man spricht eine gemeinsame Sprache. Und man lacht unglaublich viel. Ja, die Stimmung ist etwas, das man kaum in Worte fassen, aber deutlich spüren kann.

Mittlerweile zeigt die Uhr schon 9:30. Eigentlich hat Anke schon um 10:00 Uhr einen Termin online. Es geht um das neue Projekt. Eigentlich wäre Anke schon gern dabei bei dem Interview. Sie ist schon gespannt, was die ganz neuen Mitarbeiter über die Arbeit erzählen. Im Grunde nimmt man sich viel zu wenig Zeit, um diese Gespräche zu führen, die über die Projekte hinaus gehen. Anke setzt sich an den Rechner und öffnet noch mal einen GaBi-Ordner, der Fotos von ihrer Anfangszeit enthält. Einer trägt den Titel „Weihnachtsfeiern“. Anke muss sofort lachen. „Das habe ich schon fast vergessen“, denkt sie bei sich, während sie nicht anders kann als den Ordner anzuklicken. Sie flippt durch die Fotostrecke, die lauter strahlende Gesichter zeigt. Da sind Simon, Paul und Frank zu sehen. Auch Christine ist dabei, wie sie den anderen zuprostet. Sie alle stehen mit dicken Winterjacken im Freien, umzingelt von Unmengen an Alkohol und sind in eine dicke Rauchwolke gehüllt. Anke steigt sofort der Geruch des brennenden Holzes wieder ins Gedächtnis. „Das war wirklich unmöglich. So was würde sich heute wahrscheinlich keiner mehr trauen.“

Damals hatte Anke gerade ihren Abschluss im Maschinenbau gemacht. Klar, Maschinenbau war nicht das „typische“ Mädchenstudium, das man so kannte. Aber in ihrer Familie kannte ohnehin niemand Studieren. Ankes Mutter hat sie immer zur Selbstständigkeit erzogen. Ihr war immer wichtig, dass Anke etwas macht, das ihr Spaß macht. Der Onkel war bei einem großen Maschinenhersteller. So lernte sie, wie spannend Technik sein kann. Am Ende war es dann eine Doku im Fernsehen, die den Ausschlag gab. Da ging es um Brennstoffzellen. „Mein erstes Auto wird mal ein Brennstoffzellenwagen“, sagte sich Anke damals. Als sie sich jetzt an die alten Jugendspinnereien erinnert, muss sie erneut grinsen. Doch so gesponnen waren die gar nicht. Schließlich war schon damals abzusehen, wo es mit der Zerstörung der Erde durch den Menschen und den benötigten Maßnahmen und Technologien hingehen würde. Ankes Interesse vertiefte sich. Als sie sich dann nach passenden Studiengängen umsah, fiel die Wahl nicht schwer. Umweltschutztechnik hatte alles, was ihr Herz begehrte — Technik, Naturwissenschaften, eine gesellschaftliche Komponente. Anke wurde eine „Uschi“, nur wusste sie da natürlich noch nicht, dass schon viele zuvor diesen Weg gegangen waren und letztlich bei GaBi landeten. Doch, dass das eine so eingeschworene Truppe sein würde, das wurde Anke erst bei der besagten Weihnachtsfeier klar.

Anke war gerade einige Monate bei GaBi als HiWi. Sie teilte mit den anderen 10 das HiWi-Büro. Hier wurde viel gelacht, aber auch viel konzentriert gearbeitet. Dann stand die Weihnachtsfeier an und Anke sollte „beim Aufbau“ helfen. Das klang erst mal nicht ungewöhnlich. Die Feier sollte in den Räumlichkeiten der damaligen PE stattfinden. Als sie dort ankam, drückte ihr Simon erst mal ein Bier in die Hand. Es war kurz vor Weihnachten. Die Luft in Stuttgart war kalt und feucht. Die Uhr zeigte gerade mal kurz nach 14:00 Uhr. Das sollte ja was werden. „Komm, mir nach“, sagte Simon und spurtete vor ihr die Treppe hinauf. Hier oben war es noch kälter als auf der unteren Ebene und es zog. Als Simon vor ihr herlief auf eine offene Terrassentür zu, wurde ihr auch allmählich klar, warum es so kalt war. Draußen standen bereits weitere aus dem GaBi Gründerteam. Simon stellte sie mit seinem unnachahmlich schwäbischen Singsang und einem Klaps auf die Schulter: „Desch isch die Anke. S’isch ihre erschte Woinachtsfeier mit der GaBi.“ Während ihr dann alle freundlich zuprosteten, sah sie hinten an der Wand, warum es hier so furchtbar nach Rauch roch. Auf einem überdimensionalen Grill räucherte ein riesiges Spanferkel samt Kopf und prallem Hinterteil vor sich hin. Anke traute ihren Augen kaum…

„Anke? Anke“. Markus steht im Türrahmen und reißt Anke aus ihren Weihnachtserinnerungen. „Träumst Du? Die Journalistin ist endlich da. Aber Du kannst jetzt nicht gleich, richtig?“ Anke lässt den Blick auf die Uhr im Display des Rechners schweifen. Die Uhr zeigt 10:25. „Shit“, fährt es ihr durch den Kopf. „Ich muss gleich in den Termin. Aber ich sage kurz „hallo“. In dem Moment schiebt sich schon ein zweiter Kopf durch die Tür. Es ist Prof. Reiter. „Hi, Anke, gut, Dich wieder zu sehen. Wir hatten doch alle bei der Konferenz „du“ gesagt, oder erinnere ich mich nicht?“ Anke springt auf und grüßt Reiter mit dem nun in Corona bekannt gewordenen Fausthieb. „Ja, hallo Thomas, wir waren per „Du“. Auch die Journalistin in seinem Schlepptau grüßt freundlich und fragt, ob Anke auch Zeit hätte später. „Ich habe jetzt einen Termin,“ erklärt sie, „aber später komme ich dazu.“ Anke nimmt schnell das Headset vom Halter und wählt sich in das Meeting ein. Das neue Projekt ist einfach wahnsinnig spannend. Es geht um Plastikmüll im Meer. Ankes Aufgabe ist es, die bestehenden Datensätze noch einmal zu prüfen. Trotzdem würde sie gern Mäuschen spielen, was sich nun im Konferenzraum drei Zimmer weiter abspielt. Bestimmt gibt es noch viele Anekdoten, die ihre eigene Begegnung mit dem Spanferkel noch toppen.

Vertiefung: Ganzheitliche Bilanzierung: Ökologie, Ökonomie, Soziales, Technik und Data Science (Daniel Wehner, Matthias Fischer)

Die Mission der Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung ist es seit jeher, wissenschaftliche exzellente Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit von Technologien, Produkten und Dienstleistungen zu gewinnen und genau dort verfügbar zu machen, wo die Weichen für eine nachhaltige Zukunft gestellt werden. Das sind die vielfältigen Entscheidungen, die von uns allen in unseren verschiedenen Rollen täglich getroffen werden, ob als Privatperson oder in unserer beruflichen Tätigkeit als Entwickler, Unternehmensstrateg/in, Politiker/in oder Berater/in. Praktisch ist dafür seit der Abteilungsgründung bis heute die Verbindung der Expertise aus den Bereichen Ökologie, Ökonomie, Soziales und Technik ein entscheidender Erfolgsfaktor des GaBi-Teams, seit einigen Jahren gezielt ergänzt durch Expertise im Bereich Data Science.

Aus mehr Daten effizient bessere Nachhaltigkeitserkenntnisse gewinnen und effektiv kommunizieren

In der letzten Dekade hat sich nicht nur die Datenverfügbarkeit und damit der Rohstoff für belastbare Nachhaltigkeitserkenntnisse enorm verbessert. Auch die Werkzeuge und Methoden, um mit großen Datenmengen zu arbeiten, sind performanter leistungsstärker und nutzerfreundlicher geworden. So lassen sich heute die Arbeitsschritte der Ganzheitlichen Bilanzierung so stark automatisieren, dass auch große Produktportfolios von mehreren hunderttausend Einzelprodukten kosteneffizient analysiert und die Ergebnisse mit wenigen Klicks als Softwareanwendung passend für individuelle Rollen und Aufgaben verschiedener Unternehmensbereiche verfügbar gemacht werden können. Aber wie lassen sich solche stark automatisierten Systeme aufbauen, einsetzen und managen? Antworten liefert der „Sustainability Data Science Life Cycle“ [1], ein von der Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung auf Basis praktischer Erfahrung aus zahlreichen Anwendungsprojekten entwickelte Standardprozess für Workflow-Automatisierung im Nachhaltigkeitsbereich.

[1] Wehner, Daniel, Tobias Manuel Prenzel, Thomas Betten, Ann-Kathrin Briem, Sun Hea Hong, and Robert Ilg. “The Sustainability Data Science Life Cycle for Automating Multi-Purpose LCA Workflows for the Analysis of Large Product Portfolios,” -1, 2022. https://publica.fraunhofer.de/handle/publica/418814.

19. Auf den Hund gekommen als GaBi Professor

Die neue Mitarbeiterin der Pressestelle, Julia Werner, ist sichtlich gut vorbereitet. Schon eine halbe Stunde lang löchert sie Marc Domherr mit allen möglichen Fragen rund um seine neue Studie, die gerade zur Publikation im namhaften International Journal of Life Cycle Assessment angenommen wurde. Sie trägt den Titel “Life‑LCA: the first case study of the life cycle impacts of a human being.” Es ist die erste Ökobilanz eines einzelnen Menschen. Gemeinsam mit mehreren Kollegen hat er für einen “Spinner”, wie er sich selbst manchmal nennt, das zuvor unmöglich geglaubte ermöglicht. Und das nur mit Hilfe von GaBi. „Davor gab es so etwas ja nicht“, erklärt Marc geduldig Werner, die flink alles auf ihrem iPad mitschreibt. „GaBi war ja zunächst für Produkte und Verfahren entwickelt. Später gab es dann SoFi, die Nachhaltigkeit auf Unternehmensebene errechnet. Aber den ökologischen Fußabdruck eines einzelnen Menschen? Das hat noch keiner vorher errechnet. Denn es ist schlichtweg unglaublich komplex.“

Werner will daraufhin wissen, wie genau das vor sich gegangen ist. Markus ist mittlerweile geübt darin, wissenschaftliche Zusammenhänge so einfach und klar wie möglich darzulegen, damit sie auch Zielgruppen verstehen, die nicht tief im Thema stecken. Auch das ist ein Resultat seiner eigenen GaBi-Geschichte. Im Jahr 1997 beendete er seine Promotion zum Thema „Zielabhängige Ökobilanzierung am Beispiel der industriellen Teilereinigung“, bei der Thomas Zweitgutachter war. Danach verbrachte er einige Zeit in leitender Position im Umweltmanagement bei Daimler. Besonders prägend aber waren für ihn die Jahre, die er für und mit GaBi in Japan verbringen durfte. „Wir haben ja bei GaBi immer über den Tellerrand geschaut, nicht nur thematisch, auch international. Japan ist für mich eine zweite Heimat geworden. Ich habe als Projektleiter für die PE damals das Joint Venture Asien in Tokyo vorangetrieben. Seitdem bin ich mindestens einmal im Jahr noch dort“, erzählt Marc seiner aufmerksamen Zuhörerin, als es um seine eigene Geschichte hinter der Faszination mit Lebenszyklusanalysen und Ökobilanzen geht. Die Praxis und die enge Zusammenarbeit mit der Industrie waren und sind immer Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit geblieben. 2007 wurde er dann als Universitätsprofessor und Leiter des Fachgebietes Sustainable Engineering am Institut für Technischen Umweltschutz berufen. In dieser Position nutzt er GaBi weiter und bringt vor allen Dingen Studierende und Nachwuchsforscher/innen mit der Methode in Verbindung oder zusammen. „Die Stärke von GaBi war von Anfang an die Weitsichtigkeit bezüglich des Themas Ökobilanzierung, aber eben nur in der Verbindung mit der wissenschaftlichen Basis und dem Umfang der Datenbank“ erklärt er Werner. Dann zeigt er ihr ein Schaubild, wie sich die Menge der Daten bei der GaBi-Software von einer Datenbank damals im Jahr 1990 auf mittlerweile mehr als 13.000 Datensätze vergrößert hat. „Die Datenerhebung war natürlich auch der Dreh- und Angelpunkt bei dem Projekt mit Gratzel“, erläutert Markus weiter.

Über die Hintergründe des Projektes hatte Werner schon vorher online recherchiert. Sie traf dabei auf einen Spiegel-Artikel, der 2018 über das waghalsige Unterfangen des Unternehmers Gratzel und seine Kooperation mit Marcs Institut berichtete. Darin wird auch deutlich, wie komplex das Thema Ökobilanzierung ist, besonders, wenn man den ökologischen Fußabdruck eines Menschen nicht allein in einem kurzen Zeitraum sondern letztlich im Verlauf seines ganzen Lebens errechnen will.

Screenshot Spiegel-Artikel „Herr Gratzel tut Buße“ (17.08.2018)

„Gratzel suchte weiter nach Unterstützern, recherchierte im Netz, fragte Freunde, Bekannte, Geschäftspartner und schrieb schließlich eine weitere E-Mail: an Matthias Finkbeiner, Professor und Leiter des Instituts für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. Finkbeiner erforscht mit seinen Mitarbeitern Wege, um nachhaltiger zu produzieren, in der Industrie, im Mittelstand, er verschafft der manchmal schwärmerischen Idee der Nachhaltigkeit eine robuste Basis. Er arbeitet mit BMW zusammen, mit Thyssenkrupp, dem Land Baden-Württemberg, auch mit den Vereinten Nationen. Finkbeiner ist der Mann fürs Machbare, er schien der richtige Partner zu sein für Gratzel. Der schilderte ihm seinen Plan, Finkbeiner antwortete noch am selben Tag, nannte die Idee »mutig«, »wissenschaftlich herausfordernd« und bot seine Hilfe an. Einige Wochen später bekam Gratzel von Finkbeiner drei Aufgaben: Gratzel sollte seinen Konsum dokumentieren, zwei Monate lang. Er sollte notieren, was er isst, wie viel er trinkt, woher das Produkt stammt, wie es verpackt wurde, Mehrweg oder Einweg, ob er es zu Hause oder im Restaurant gegessen, getrunken hat. Zudem sollte Gratzel seinen Müll trennen, in Papier, Pappe, Karton, Kunststoff, Bioabfall, Glas, Metall, elektronischen Abfall und den Rest. Er sollte die Müllsorten auch einzeln wiegen. Und notieren, was er sonst noch so kauft, für den Haushalt. Außerdem hatte er festzuhalten, wie viel Gas, Strom, Wasser er verbraucht. Gratzel sollte rekonstruieren, wie viele Kilometer er im Laufe seines Erwachsenenlebens mit dem Auto, der Bahn, dem Flugzeug zurück — gelegt hat. Daneben sollte Gratzel seinen Besitz dokumentieren — und zwar alles, jede Kleinigkeit, die sich in seinem Haus in Stolberg, in der Nähe von Aachen, findet.“ (Buse 2018: 46)

„Und wie kam das dann genau mit dem Hund?“ will Werner nun von Marc wissen. Er lächelt kurz. Er erinnert sich daran, dass schon zu den Anfangszeiten der GaBi-Methode, als noch niemand wirklich an den Erfolg oder überhaupt an den Sinn ihrer Arbeit glaubte, Pressearbeit immer wichtig gewesen war, um das Thema auch außerhalb der wissenschaftlichen Community ins Bewusstsein zu bringen. Dabei hatten sie auch gelernt, dass bestimmte Metaphern und Bilder im Kopf immer besonders gut funktionierten. Scheinbar ist es auch bei dieser Studie so. Nur ist dies keine reine Metapher. „Es ist tatsächlich so, dass der Hund in diesem Fall einen erheblichen Einfluss auf den ökologischen Fußabdrucks seines Herrchens hat“, leitet Marc die Erklärung ein. Das war eine der überraschendsten Erkenntnisse, auch für uns als Forscher. Wie man in unserem wissenschaftlichen Paper schön nachlesen kann, waren die beiden Produktkategorien „Hobbies, Freizeit, Haustiere“ (Hobbies, leisure, and pet) und „Nahrungsmittel“ (Food) die maßgeblichen „Sünder“ für die Ökobilanz von Gratzel. Wir haben heraus gefunden, dass die Produktion von einem Kilogramm industriell produziertem Hundefutter umgerechnet einem Äquivalent von 1800 Gramm CO2 entspricht. Das ist deshalb so ausschlaggebend, da man beim Thema „Go Zero“ und Klimaneutralität, auch in der öffentlichen Diskussion, häufig nur über Energieverbrauch wie Wasser und Strom diskutiert, außerdem natürlich über menschliche Lebensmittelproduktion. Wenn man aber die Werte für das Hundefutterbeispielsweise mit dem CO2 Äquivalent für drei Minuten duschen vergleicht (ca. 310 Gramm), macht das Hundefutter sechsmal so viel aus. Das war schon sehr beeindruckend, diese Erkenntnisse so schwarz auf weiß vor sich zu haben“, erklärt Marc.

Bossek et al. (2021)

Werner denkt in diesem Moment kurz daran, wie viel CO2 sie wohl schon in ihrem Leben zu verantworten hat. Gerade jetzt, wo sie für die Universität auch viele internationale Messebesuche journalistisch begleitet, fliegt sie wieder mehr. Darüber hinaus hat sie eine Katze zu Hause, Pina. Wie viel die Produktion ihres Futters wohl den Planeten kostet? Sie will es sich gerade gar nicht ausmalen. Viel wichtiger ist wohl die Frage, wie man dem Irrsinn und der Zerstörung des Planeten entgegen treten kann. Und die Lösung, die der Unternehmer und selbst-ernannte Umwelt-Idealist Gratzel für sich gefunden hat, ist bei allem Respekt ihrerseits nicht für die Masse der Menschen realisierbar. Er ist, so hat es auch Markus gerade eben noch einmal beschrieben, nach den Erkenntnissen der Studie einen radikalen Weg gegangen. Zum Beispiel fährt er nur noch mit dem Auto in den Urlaub und der Hund ist selbst geschossenes Wild. „Bei allem Respekt für den Erfolg der Methode, die Sie für die Messung genutzt haben und für das Engagement von Gratzel — meinen Sie wirklich, dass solche Ergebnisse etwas bewegen können? Wie sollte ich bitteschön meine Katze füttern, wenn ich das Fertigfutter nicht mehr im Supermarkt nutzen will?“, fragt sie teils mit einem Schmunzeln auf den Lippen, teils etwas herausfordernd. Marc nickt kurz und antwortet dann sehr klar und ruhig. „Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es zunächst, die Grundlage für diese Erkenntnisse mit unserer Arbeit zu schaffen. Dafür habe ich hier ein hochmotiviertes Team und ich brenne dafür, GaBi in diesem Kontext weiter zu verwenden und weiter zu entwickeln. Eine solche Methode ist der Grundstock dafür, dass wir derartige Erkenntnisse, die so umfassend und komplex sind wie der ökologische Fußabdruck eines Menschen, überhaupt gewinnen können. Dafür brauchen wir aber natürlich auch experimentierfreudige Pioniere wie Gratzel. Natürlich ist sein Beispiel extrem und nicht verallgemeinerbar. Aber das ist immer so. Davon sollte man sich nicht abbringen lassen. Wenn man etwas bewegen will, muss man das Ungewöhnliche wagen. So war es mit der GaBi-Methode selbst und so ist es auch mit heutigen Pionieren der Go Zero Bewegung. Das heißt auch nicht, dass wir alle solche radikalen Einschnitte in unserem Lebenswandel vollziehen sollen und können, wie sie Gratzel gemeistert hat. Das ist auch nicht die Botschaft. Die Botschaft ist vielmehr, dass wir verstehen, dass jeder einen Beitrag leisten kann, auch mit ganz kleinen Schritten. Einmal weniger Fleisch essen in der Woche. Eine Minute kürzer duschen. Es geht nicht darum, dass ein Mensch allein den Klimawandel stoppen kann. Es geht aber sehr wohl darum, dass wir alle Anhaltspunkte haben, wie jeder Einzelne mit kleinen Schritten den Wandel voran bringen kann.“

Werner setzt einen Punkt hinter den letzten Satz, den sie soeben auf dm iPad notiert hat. Marc ordnet derweil noch ein paar Unterlagen auf dem Rechner und bereitet schon eine Email an sie vor. „Das sind noch ein paar zusätzliche Unterlagen für Sie und die besagte Studie“, erklärt er Werner. Das hilft Ihnen vielleicht noch im Nachgang für Ihren Beitrag.“ „Ja, danke, da bin ich sicher“, entgegnet Werner. „Noch eine Frage habe ich, Herr Finkbeiner. Gibt es noch mehrere aus dem GaBi-Team, die heute in der Wissenschaft arbeiten? Oder sind die meisten in diese PE bzw. in das Unternehmertum gegangen?“ Marc wendet sich vom Bildschirm ab und schaut wieder zu Werner. „Nun, was damals die PE mit einer Handvoll von Mitarbeitern war ist heute Nemesis, einer der internationalen Marktführer im Bereich Ökobilanzierungssoftware und –beratung mit insgesamt 250 Mitarbeitern allein am Standort Stuttgart. Nun zu Ihrer Frage: Es gibt durchaus einige von uns, die ihren Weg in der Wissenschaft weitergehen. Ich bin meines Wissens nach einer von fünf ehemaligen GaBis, die mehr oder weniger direkt im Anschluss an die GaBi-Tätigkeit auf eine Professur berufen wurden. Soweit ich weiß, arbeiten wir alle in dieser Rolle auch noch mit der GaBi-Software in Forschung und Lehre. Es war nie so, dass wir während unserer Zeit in der GaBi-Abteilung in die ein oder andere Richtung gedrängt worden wären, was unsere berufliche Laufbahn anging. Eigenverantwortung und ein hoher Freiheitsgrad waren immer Leitgedanken. Und wer sich dann mehr für Wissenschaft als für eine aktive Rolle in der Wirtschaft begeistert hat, der hat schließlich diesen Weg eingeschlagen. Wir haben durch unsere Ausbildung und die Projektarbeit bei GaBi alle das Rüstzeug erhalten, um nicht nur Pläne zu haben, sondern sie auch umzusetzen. Wissen Sie, wie das immer hieß bei GaBi?“ Werner schüttelt kurz mit dem Kopf. „‘Wünsche werden selbst erfüllt‘. Mein Wunsch war es, diese Arbeit in der Wissenschaft fort zu setzen und damit bin ich, trotz aller Herausforderungen, sehr glücklich.“ „Danke für das Interview“, verabschiedet sich Werner. Den Entwurf für die Pressemitteilung schicke ich Ihnen kommende Woche zu.“

18. Nemesis — eine neue Ära

Sandra ist früh dran in diesen Tagen. Sie drückt auf den Knopf mit dem Unlock-Symbol am Autoschlüssel und das Licht am Peugot flackert kurz auf und erleuchtet das Parkhaus unter dem Bürogebäude in Echterdingen. Manchmal, wenn sie hier morgens hinfährt, dann denkt sie noch an das große Umzugsjahr 2002, in dem sie hier endlich ihr „headquarter“ aufgeschlagen haben, wie die Amerikaner sagen würden. Damals gab es endlich Platz auf zwei Etagen für die PE, die dann Thinkstep wurde, sowie für die Mitarbeiter der GaBi Uniabteilung und Fraunhofer. Wer hätte damals gedacht, wie viele Höhen und Tiefen sie noch in diesem Gebäude durchmachen würden? Sandra nimmt die Treppen hoch in den zweiten Stock und dreht den Schlüssel im Schloss. Es ist kurz vor 7:00 Uhr. Früher in den Anfangsjahren der GaBi hat man meist noch Kollegen angetroffen, die sich die Nacht mit einer Berechnung oder einem Drittmittelantrag für ein neues Projekt um die Ohren geschlagen hatten. Diese Zeiten sind glücklicherweise heute vorbei. Aber die Geldsorgen erledigen sich im Unternehmertum nie, zumindest bis vor kurzem nicht. Ist Sandra heute noch Unternehmerin, nach all dem, was jetzt neu ist? Sandra überlegt für einen kurzen Moment. Sie hat sich noch nie viel aus Labeln gemacht. Aber ihr ist auch klar, dass die Entscheidungen der letzten Wochen Auswirkungen haben werden auf alle hier. Sie haben das bewusst entschieden und aus voller Überzeugung. Aber trotzdem bleibt ein Quäntchen Unsicherheit, ein großes sogar. Denkt man an die vorangegangen erfolglosen, geradezu desaströsen Erfahrungen mit Investoren, ist dieser Verkauf jetzt eigentlich eine Guerilla-Aktion. Immer, wenn sie vorher die Zügel aus der Hand gegeben haben, ging es schief. „Ach, nun denk nicht so schwarz“, ermahnt sich Sandra, als sie die Jacke über den Ständer neben der Tür hängt und den Computer hochfährt. Ihr gegenüber an der Wand steht noch ein altes Rollup der PE. Auf dem Schrank liegt ein gelber Bauhelm. Sandra muss grinsen, als sie diese Relikte der GaBi-Geschichte voller Melancholie anschaut. „Der Mensch hängt immer irgendwie an der Vergangenheit“, denkt sie bei sich, „sogar Ingenieure“.

Sie schaut, ob der Rechner auch wirklich hochfährt und steuert auf den Flur zu, um in der offenen Küche einen Kaffee zu machen. Sie hat sich heute schicker angezogen als an anderen Tagen. Der Rock ist schick, aber trotzdem „casual“, wie es heute neudeutsch heißt. Das Top und der Schal passen exakt zueinander. Die Zeiten von Schlabberpulli und Jeans sind schon lange vorbei bei GaBi. Trotzdem fühlt sie sich heute irgendwie verkleidet. Der ganze Tag wird vollgepackt sein mit Meetings mit der neuen Geschäftsführung. Und irgendwie hat sie das Gefühl, dass sie die professionelle Distanz heute besser wahren kann, wenn zwischen ihr und diesen neuen Firmenlenkern etwas Stoff ist, der ihr zusätzliches Selbstbwusstsein gibt, auch wenn sie weiß, dass das eigentlich völliger Blödsinn ist. Gerade letzte Woche noch hat sie bei einem Frühstück mit weiblichen Führungskräften darüber geredet, was „frau“ im Business so alles über sich und die Welt weiß und dann trotzdem in typische Frauenfallen tappt. Die Frage der Klamotten gehört mit Sicherheit dazu. Männer machen sich einfach null Gedanken darüber, wie genau welche Klamotten auf ihre Geschäftspartner wirken, zumindest die GaBi-Männer hat das nie gejuckt. Na ja, gleichsam weiß Sandra, dass GaBi-Männer auch irgendwie anders sind als alle anderen. Das liegt eben an GaBi selbst. Diese Firma ist eben nicht wie alle anderen „global player“. Und doch ist sie das geworden, nicht nur auf dem Papier. Das Team ist nach den harten Jahren, die im Zuge der Investoren und Managementkrisen ins Land gegangen sind, wieder auf ??? Leute gewachsen. Es gibt Büros auf der ganzen Welt und Wachstumsraten im zweistelligen Bereich. Mehr kann man eigentlich nicht erreichen, gerade wenn man bedenkt, dass sie mehrere Male knapp vor dem Ende standen. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, hatte Simon vor 2 Jahren gesagt. Jetzt müssen wir den Exit angehen“. Frank hatte damals sofort genickt. Und sie auch. Sie alle waren fertig von den harten Jahren, als kaum einen Tag klar war, ob sie das Ruder noch rumreißen könnten, ob sie ihre eigenen Managementfehler wieder ausbügeln könnten. Dabei hatten sie selbst beim Managen kaum Fehler gemacht. Nur hatten sie eben den falschen Managern getraut. Ob das diesmal wieder so sein wird?

„Morgen!” Sandra zuckt kurz zusammen. Sie hatte Frank überhaupt nicht bemerkt. „Auch schon so früh hier?“ Sandra bemerkt, wie gezwungen gelassen Frank klingt. Sie kennen sich nun schon seit annähernd 15 Jahren. Damals kam Sandra aus Potsdam von der Uni und hatte gerade ihr Diplom in Geologie in der Tasche. Was man damit machen konnte, war ihr damals selbst schleierhaft. Aber, dass sie etwas mit Umwelt hatte machen wollen, das war ihr schon klar. Da war die GaBi-Abteilung der Uni natürlich genau der richtige Ort. Frank war damals ihr Chef gewesen. „Heute bist Du meine Chefin“, neckt sie Frank oft. Zumindest auf dem Papier stimmt das, aber im täglichen Leben spielt das keine Rolle. Sie sind nie danach gegangen, was irgendwo auf dem Papier steht. Sie wussten immer, dass sie durch das Band verbunden sind, dass sie an GaBi und der Vision verbindet, wirklich einen Beitrag dazu zu leisten, dass die künftigen Generationen auf einem Planeten groß werden, der sich nicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Ob das gelungen ist, daran zweifelt jeder mal. Das ist aber kein Grund, damit aufzuhören. Frank steuert den Hängeschrank über der Spüle an und sucht sich seinen Lieblingstee raus. Himbeertraum mit Vanille. Sandra schaut ihm mehr oder weniger gedankenverloren zu, während er den Wasserkocher anstellt. „Frank, ich habe kein gutes Gefühl vor dem Meeting mit den Big Bossen heute. Irgendwie stehe ich manchmal auf und denke, wir haben einen riesen Fehler gemacht. Die wollen unsere Software, sonst nichts. Ja, das wussten wir und wir wollten es so. Weil es besser ist für uns alle, damit wir endlich mal wieder atmen können. Aber ich habe Schiss, dass alles damit irgendwie umsonst war. GaBi hat immer von der Beratung gelebt. Die Software lief nur mit Beratung. Die Daten kommen aus den Projekten. Sie gehen da jetzt einfach mit dem Skalpell ran und wollen auf Teufel heraus skalieren. Ich weiß nicht, ob ich da was ausrichten kann, Senior Management hin oder her. Wir gehören jetzt ihnen, Frank, so ist es jetzt nun mal.“

Frank nimmt den Teebeutel und schüttet das dampfende Wasser in die Tasse. Beide starren in die dampfende Tasse. Für einen Moment scheint es, als wolle niemand etwas sagen. Doch Sandra weiß genau, was Frank sagen wird. Er sagt nämlich genau nicht das, was man gern hören würde. Es wäre schön, wenn Frank jetzt sagen würde, dass alles, was Sandra gerade durch den Kopf geht, völliger Quatsch ist. Und, dass die Amerikaner doch ganz anders sind als andere amerikanische Firmen und dass ihnen wirklich etwas am Thema Nachhaltigkeit liegt. Und auch wäre es schön, wenn Frank ihr versichern würde, dass das neue Management wirklich ein Auge hier auf die Menschen in der Firma wirft und die ganze jahrzehntelang Expertise schätzt. Und noch so vieles mehr könnte man nun sagen, damit Sandra das hört, was ihre Nerven beruhigen könnte. Doch sie weiß, dass das nicht Frank ist. Er sagt nichts, nur um das zu sagen, was andere gern hören würden. Überhaupt war das nie etwas, das GaBis jemals praktiziert haben. Vor einer Weile hat Simon ihr mal von einer Simon Jackson Doku erzählt. Darin sagt der spätere King of Pop noch als Kinderstar „if I don’t mean it, I don’t sing it“. Das war auch immer ihr Credo. Wenn sie nicht hinter einem Projekt gestanden haben, zumindest ansatzweise, dann haben sie es nicht gemacht, egal, wie hart die Zeiten wirtschaftlich waren. Sie haben gelernt, dass einem das immer irgendwann um die Ohren fliegt, wenn man einen Deal eingeht, nur aus Mangel an Alternativen oder halbherzig. Und genauso unerbittlich und unbestechlich ist Frank weiter. Er schaut Sandra über die Schulter an, die eine Hand noch auf die Ablage neben der Spüle gestützt. Mit der anderen Hand zuckelt er am Teebeutel. „Du hast mit alledem Recht, Sandra. Du wirst das trotzdem gut meistern. Es war richtig, dass Du diese Position annimmst und ich mich mit Content Development beschäftige. Du kannst in diesen Laberrunden mehr erreichen als ich. Du hast gesehen, wie sie mit Simon umgegangen sind. Meins ist das nicht. Wenn hier jemand was für uns reißen kann, dann bist Du das.“

Als Sandra wenige Minuten später vor ihrem Rechner sitzt und noch einmal die Charts für die Gespräche heute durchgehen will, sieht sie in der Inbox die Pressemitteilung der neuen Muttergesellschaft. Es ist noch immer ungewohnt, den neuen Firmennamen in der Adresse zu sehen. Auch ist es ungewohnt, eine solche Meldung über das zu lesen, was bis vor kurzem „ihre“ Firma war, die Firma der ursprünglichen Gesellschafter, die aus der ehemaligen PE Anfang der 2000er Jahre und fünf Mitarbeitern einen globalen Marktführer gemacht haben.

Nemesis Completes Acquisition of thinkstep, a Leading Sustainability & Product Stewardship Software Company

By Nemesis’ Editorial Team | September 16, 2019

Detroit, MI (Sept. 20, 2019) — Nemesis, a global provider of Risk Management software has acquired thinkstep, a Stuttgart, Germany-based software and information services company that specializes in Corporate Sustainability. The deal, announced in July, was completed after German regulatory authorities approved the acquisition.

thinkstep offers three types of software solutions: GaBi for product sustainability, which is the sector’s most comprehensive lifecycle analysis tool and content offering worldwide; SoFi for corporate sustainability; and IMM/CPM, BOMcheck and EC4P, which is a suite of product compliance software that offers end-to-end capabilities for the supply chain, product design, manufacturing and end-of-life periods.

“We are very excited to be joining the Nemesis family,” said Paul Johnson, thinkstep’s CEO. “Adding our solutions and extensive regulatory database and expertise to Nemesis was a natural fit, and we can’t wait to get started collaborating together.”

Terms of the deal were not disclosed.

Sandras Blick verharrt auf dem Bildschirm. Wenn sie das so liest, klingt das alles sehr gut. Vielleicht ist sie einfach wirklich zum Hypochonder geworden, wenn es darum geht die künftige Gesundheit der Firma zu sichern. Es gab keine Alternative, zumindest nicht innerlich. Sie mussten dafür sorgen, sich abzusichern, auch und gerade finanziell. Damals in den Anfangstagen hatten sie alles auf eine Karte gesetzt. Sie hatten Privatkredite aufgenommen, nur um die Firma damals aus der Insolvenz zu retten und Thomas mit einer Spende für TheoPrax zu kompensieren. Danach hatten sie nie primär ans Geld gedacht, mussten aber jede Sekunde als Unternehmer daran denken, wo der nächste Euro herkam, um die Mitarbeiter zu bezahlen und schließlich auch ihre eigenen Familien abzusichern. Das ist etwas, das stellen sich junge Startup-Gründer vielleicht so einfach und frei vor. Tatsächlich aber ist es eine große Last. Ja, mit der lernt man umzugehen. Aber am Ende sollte dann auch irgendetwas herauskommen, damit man nicht sein Leben lang bis zum Umfallen damit leben muss, dass man den Moment verpasst hat, auch los zu lassen. Und genau das hatten sie 2018 entschieden, als sie sich auf die Suche nach Käufern machten. Simon hatte damals recht, dass es der richtige Moment für einen Exit war. Sie hatten alles wieder im Griff und waren attraktiv. Und vor allen Dingen waren sie auch irgendwie alle an einem neuen Punkt. Schon längst waren nur noch eine Handvoll vom ursprünglichen GaBi-Team aktiv im Geschäft. Neben ihr, Frank und Simon waren es Paul und Stefan. Sie alle brennen noch heute für die GaBi-Projekte. Aber an manchen Tagen muss sie sich auch eingestehen, dass da vielleicht noch neue Aufgaben auf sie warten, an die sie sich vielleicht nie getraut hat zu denken, weil GaBi immer irgendwie an erster Stelle kam. Vielleicht ist es jetzt einfach an der Zeit, die Dinge laufen zu lassen, wo auch immer sie hinführen. Jeff Bezos soll in einem Interview gesagt haben, dass Firmen seiner Meinung nach heutzutage nur 30 Jahre leben, dann sind sie durch. Wenn das so ist, dann sollte man wohl nichts nachtrauern. Natürlich sind das schwarze Gedanken, aber vielleicht muss man sie einfach zulassen. Sie haben jetzt nicht mehr die Verantwortung. Sie sind im Management, aber sie sind nicht mehr die Inhaber. Und Sandra weiß, dass sie alle seit dem Verkauf und der Unterzeichnung der Verträge besser schlafen, ob sie es nun sagen oder nicht. Da muss man das, was sie in den zahlengetriebenen Meetings mit den Amerikanern nun erlebt und der unglaublichen Härte, mit der sie manchmal über Dinge reden, von denen sie kaum Ahnung haben, wohl einfach geschehen lassen.

4 Phasen der technischen Produktentwicklung

– Produkt entwickeln, das noch keiner hat
– Produkt testen an Bedürfnissen von Pionier-Kunden
– generelle Kundenwünsche für Alle” produktisieren und verallgemeinern, spezielle Kundenwünsche für Einzelne “on Demand” umsetzen
– Produkt verfeinern, do dass alle haben “wollen/müssen”

 

„Sandra, komm, los, die sind schon da“, Frank steht plötzlich vor ihrem Schreibtisch. „Ich habe schon den Beamer im Besprechungsraum angemacht. Hast Du die Charts zu den Quartalszahlen und den Lizenzen? Die hab ich irgendwie nicht, zumindest nicht die, die wir gestern noch mal mündlich durchgegangen sind.“ Sandra schaut schnell den Stapel Papier durch, den sie gestern Abend noch ausgedruckt hat. „Ja, ist drin“, sagt sie kühl. „Kriegen sie als Handout. Dann können sie ihre schönen Kurven und Excel-Sheets schwarz auch weiß bewundern“. Sandra nimmt ihre Tasse, klemmt sich Papier und Laptop unter den Arm und macht sich auf in den Besprechungsraum. Frank läuft vor ihr. Aus einem der anderen Büros im hinteren Bereich kommt Stefan herausgestürmt und gibt ihr ein „toi, toi, toi“ auf den Weg. Was auch immer das heißen möge. Sie fühlt sich etwas, als sei sie auf dem Weg zum Schafott. Dabei geht es hier eigentlich nur um ein ganz normales Strategiemeeting. Aber was ist schon normal, seitdem dies nicht mehr ihre Firma ist? Im Grunde ist es auch egal. Sie ist gut vorbereitet und wird auch dieses Mal in einigen Sachfragen nicht mit sich reden lassen. Ja, die Firma gehört nicht mehr ihnen. Aber sie gehören deshalb noch lange nicht zu den Leuten, die sich und die eigene Expertise einfach so schlucken lassen. Sandra weiß noch, wie Markus beim letzten Telefonat so besorgt und teils sogar beschuldigend geklungen hat. „Ihr müsst ja wissen, was Ihr wollt“, hat er gesagt. In dem Gespräch hat sie ihm mal wieder erklären müssen, warum ein lange beschlossenes Projekt weiter nicht beginnen kann, da die Amerikaner die Rechte für die Daten nicht freigeben bzw. sie schlichtweg die Daten nicht austauschen können zwischen Nemesis und der Uni. Früher war so etwas noch nicht einmal der Rede wert. Immer wurde alles geteilt, weil alle davon mehr hatten — vor allen Dingen mehr Wissen, was immer der Kern an der GaBi-Innovation war. Heute ist das anders. Heute braucht es für jede Kleinigkeit eine Unterschrift und ein ganzes Legal Department, was sich mit irgendwelchen Paragraphen rumschlägt. So ganz nach dem Motto „es könnte ja jemand auf die Idee kommen, die Katze in die Mikrowelle zu setzen und auf on zu drücken.“ Das soll dann bitteschön nicht bei Nemesis passieren. Sie weiß, dass Markus sieht, wie schwer sie sich mit der neuen Firmenkultur und der Policy tun. Aber sie weiß auch, dass die Fraunhofer und Uni-Leute ihnen das irgendwie auch vorwerfen. Es hilft aber nichts. Alles hatte seinen Sinn und es hat eben auch seinen Grund, warum Markus in der Uni geblieben ist und sie die Firma aufgezogen haben. Also hat es auch einen Sinn, warum sie jetzt hier gleich den ganzen Tag in Meetings sitzen wird und den Amerikanern erklärt, warum Datenteilen und Beratung Sinn machen — nicht nur für die Umwelt, sondern auch und gerade fürs Geschäft. Das jedenfalls wünscht sie sich für den heutigen Tag. Und wenn das Motto von Thomas weiterhin Gültigkeit hat, wonach man sich Wünsche selbst erfüllt, dann wird sie auch wieder einen Weg finden, die GaBi-Fahne und den alten Spirit hoch zu halten.

17. Als Tiger losgesprungen, als Bettvorleger gelandet — Von…

„Simon, Du musst doch einsehen, dass Ihr endlich weiterkommen müsst an der Stelle.“ Louisa rührt ziemlich energisch in ihrem Cappuccino. Sie schaut auf den großen Platz vor dem Siegestor, wo Kinder den Tauben hinterher rennen. Es ist ein sehr warmer Tag im Frühling 2011, eigentlich zu warm für diese Jahreszeit. Wann gab es das früher, dass Cafés wie dieses schon im April die Stühle zum Draußensitzen für ihre Gäste bereitgestellt hatten? Simon scheint ihre Gedanken lesen zu können. „Schau es Dir doch an. Wir sitzen hier ohne Jacke wie in Italien im April. Der Planet heizt sich täglich auf. Und alle tun so, als gäbe es das nicht. Es hat doch noch immer kaum jemand kapiert, auf welcher tickenden Zeitbombe wir sitzen. Und mit GaBi haben wir von Beginn an dazu beigetragen, dass die Industrie als Umweltverschmutzer Nummer 1 ihr Verhalten ändert, ihre Haltung gegenüber der Nachhaltigkeit, nicht nur ein paar Stoffe gegen ein paar andere austauscht, weil es mehr Kohle bringt. Verstehst Du das denn nicht? Denkst Du so ein Manager-Hampelmann aus den USA kann das verstehen? Und der soll jetzt Thinkstep voranbringen? Da lach ich doch.

Simon lehnt sich betont selbstbewusst und sarkastisch lächelnd zurück und klimpert mit den Fingern an seiner Apfelschorle. Eigentlich ist das so gar nicht seine Art, sich gegen Neues und Innovatives zu sträuben. Das sieht auch Louisa, die mit ihrem Latein bald am Ende ist. „Herrgott, Simon. Ich verstehe ja, dass Du Angst hast, dass ein neues Management euren Laden nicht voran bringen könnte. Und ja, ich sehe auch, dass Ihr hochgradig intrinsisch motiviert seid und GaBi quasi als Philosophie verinnerlicht habt, nicht allein als Geschäft. Aber ganz ehrlich: Genau darin liegt doch auch das Problem. Ihr behandelt Euer Geschäft noch immer wie in den Anfangstagen, als Ihr in der Uni ein paar lustige Projektchen angefangen habt und um die Welt gedüst seid. Meine Güte, Simon, Ihr habt jetzt 200 Mitarbeiter und seid wie blöd am Wachsen. Denkst Du nicht auch, dass es an der Zeit ist, mal ein paar Basics zu professionalisieren und noch was dazu zu lernen beim Thema Management? Damit sagt doch keiner, dass Du oder irgendein anderer Geschäftsführer bei der PE und jetzt Thinkstep keinen guten Job gemacht hat.“ Louisa schaut Simon jetzt direkt und fordernd in die Augen. Die beiden kennen sich gut und eigentlich sollten sie hier gar nicht so mehr oder weniger informell über diese geschäftlichen Dinge sprechen. Aber Louisa ist eben keine typische Finanzfrau von einem Private Equity Konzern, genauso wie Simon, wie alle bei GaBi, kein klassischer Manager ist. Die beiden haben sich seit Beginn der Beteiligung des Investors gut verstanden, gerade weil sie immer offen zueinander waren. Aber beide vertreten eben auch und in erster Linie ihre Unternehmen.

Simon starrt in die Milchhaube von Louisas Capuccino, die mittlerweile fast völlig verschwunden ist. Er atmet tief durch. „Ok, hast ja recht, ich bzw. wir sehen das ja auch. Ist ja nicht das Thema. Schließlich waren wir es ja, die Investoren wollten, um schneller zu wachsen. Und wir sind bestimmt keine Geschäftsleute, die sich nicht an Vereinbarungen halten. Aber so wie es jetzt ist, geht es einfach nicht. Es geht nicht, verstehst Du, wir haben es ja probiert. Der Typ ist eine Katastrophe, einfach nicht tragbar, es klappt nicht. Und das hat nichts mit meiner Person zu tun. Das muss ganz klar sein. Ich bin gern bereit, all mein Wissen und meine Erfahrung über Bord zu werfen und drei Schritte zurück zu machen, wenn ich sehe, dass da einer die Firma in einer Weise voran bringt, wie wir es nicht können. Das Problem ist nur: Er kann es nicht! Er versucht es nicht mal. Der ist wie ein Tiger losgesprungen und binnen weniger Monate als Bettvorleger gelandet. So sieht es doch aus. Solche Sprüche wie „ich bin hier doch nicht angetreten, um zu sparen“ und dafür mal locker in Kauf zu nehmen, dass wir Gründer unser Privatvermögen riskieren für die Firma, kannst Du doch nicht einfach wegwischen. Ihr Finanzheinis habt doch die ganzen Zahlen. Überhaupt geht es doch nur um Zahlen. ‚Reporting‘ ist doch quasi das Mantra, auch bei uns schon. Und was sagen die Zahlen? Der Typ hat noch keinen einzigen großen Deal eingefahren, keinen einzigen großen Neukunden. Dafür haben wir jetzt einen gigantischen personellen Overhead von irgendwelchen Personalern und Finanzlern, die 0 Ahnung von GaBi haben, wirklich 0. Und die haben in ihrem Leben noch kein Projekt mit einem Kunden gemacht. Genauso wie unser Freund Mister Miller. Soll er doch mit seinem Bentley mal sonstwohin fahren, am liebsten auf direktem Weg zum Mond…“

Louisa kann sich ein Lachen trotz aller Verärgerung nicht Verkneifen. Wenn die GaBianer sich mal in Rage reden, dann gibt es kein Halten mehr. Das Problem ist nur: sie weiß, dass Simon recht hat. Die Personalauswahl mit Miller als Geschäftsführer hat nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Obwohl Miller durch sämtliche Headhunter Mühlen und Assessments gegangen ist, passt es einfach nicht. Er hat keinen Draht zu der Gründermannschaft. Er ist kein per se schlechter Manager, seine Referenzen stehen für sich. Aber alle hatten unterschätzt, dass die ursprüngliche GaBi-Kultur auch nach dem schnellen Wachstum und der aktuellen Unternehmensgröße nach wie vor der größte Treiber ist. Und diese Kultur macht Miller zu schaffen bzw. macht den GaBi-Leuten zu schaffen, dass Miller auf Kultur einfach keinen Wert legt. „Ok, Simon, ich sehe es ja. Und ja, wir haben seitens der Investoren wahrscheinlich auch einfach nicht so gut aufgepasst bei der Auswahl, obwohl wir die neusten Methoden und Assessment-Verfahren verwendet haben, um den Besten für Euch zu finden. Nur hilft uns das jetzt alles nicht weiter. Was Du mir hier erzählen willst, ist so was wie „back to the roots“. Gib dem alten Kapitän und der alten Mannschaft komplett wieder das Ruder in die Hand und dann nimmt der Dampfer wieder Fahrt auf. Tut mir leid, Simon, aber so geht es nicht. Es gibt Vereinbarungen und in dem Investorenvertrag steht ganz klar, dass es einen neuen CEO von extern gibt bzw. neue Manager auf C-Level, die dazu beitragen, dass die Wachstumsziele erreicht werden. Genau deshalb nur habt Ihr Investorengelder bekommen. Da führt jetzt nun mal kein Weg drumherum. Und mir fehlt ehrlich gesagt auch die Einsicht, dass Ihr, bei aller Liebe und Erfahrung, die Ihr seit über 20 Jahren in GaBi steckt, auch bereit seid, Eure blinden Flecken zu sehen. Ich sage nur mal als Stichwort Finanzen. Du kannst ja wohl nicht verhehlen, dass Eure Buchhaltung und auch Eurer Personalmanagement weiter auf einem Level ist, wo es vor 10 Jahren mit Sicherheit auch schon war — und damit meine ich Garagen-Startup-Level, nicht investorenwürdiger Mittelstand.“

Simon winkt der Bedienung und bestellt sich noch eine Apfelschorle. „Du auch noch was?“ Louisa winkt ab. „Ok, im Grunde haben wir doch gar keine Differenz in der Sichtweise. Ja, wir haben bei ein paar Gebieten Nachhol- bzw. Entwicklungsbedarf. Und ja, wir haben beide mal gedacht, dass Miller das richtigen kann. Nun haben wir beide festgestellt, dass der feine Herr aus der Londoner Finanzmetropole, der ohne Chauffeur wahrscheinlich noch nicht mal den Müll wegbringt, ein faules Ei ist und das nicht schafft, egal, welche tollen Zeugnisse von Business Schools und Referenzen er mitbringt. Möge er vielleicht die Deutsche Bank sanieren können oder IBM den größten Coup erwirtschaften, bei Thinkstep in Stuttgart hat er eine 6 im Zeugnis — basta. Ist egal, wieso, weshalb, warum. Wenn ich dem Typen nur auf dem Flur begegne, kriege ich Reflexe, ihm seine fein gebügelte Krawatte einmal mehr um den Hals zu drehen. Und ich bin mit Sicherheit kein aggressiver Typ, Louisa, das weißt Du. Ich habe echt alles probiert. Die Kumpeltour, die seriöse Tour, ich war mit ihm einen trinken, alles fein. Er ist so eloquent und kann sich so gut verkaufen, da kommt keiner von uns mit. Aber es geht halt trotzdem nicht so weiter, egal, wie schön man sich den Mann reden mag. Jedes Meeting in der Leitung ist eine absolute Katastrophe. Er labert nur von irgendwelchen Charts und kann einfach keinen Vertrieb. Wohlgemerkt hatten wir ihn deshalb mal geholt, als Vice President of Sales, wenn Du Dich erinnerst. Dass er nun sogar CEO geworden ist, war schon der erste große Fehler, der bei uns die Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen.“ Louisa schaut zu, wie die Bedienung die bitzelnde Apfelschorle vom kleinen Silbertablett nimmt und gegen das leere Glas vor Simon austauscht. Mittlerweile ist die Sonne noch strahlender geworden und Passanten laufen sogar in kurzen Hosen auf dem belebten Platz umher. „Ok, Simon. Ich trage das zurück an unser Board. Wir werden noch diese Woche eine Entscheidung treffen. Wenn mein Chef die Lage ähnlich einschätzt, dann denke ich, könnt Ihr Miller den Laufpass geben, müsst dann aber mit Sicherheit eine klare Alternative und neue Marschrichtung vorgeben. Es wird weiterhin nicht ohne Externe auf oberster Managementebene gehen. Das steht in den Verträgen und dabei bleibt es auch. Ich selbst bin auch überzeugt davon, dass Ihr das braucht. Ihr solltet uns dann nur, neben all der Emotionalität, die Ihr immer in die Sache steckt, auch ganz klare Faktoren benennen können, die für die Suche nach einem Nachfolger relevant sind, damit sich der Fehler nicht wiederholt. Fehler machen ist das Eine, aus Fehlern zu lernen das Andere. Das werden auch wir uns hinter die Ohren schreiben.“

Simon scheint dies für einen vernünftigen Vorschlag zu halten. Er sieht nur eine Gefahr: die Zeit. „Louisa, aber diese Woche muss dann auch diese Woche heißen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir jede Woche Hunderttausende an Geld verbrennen durch diese ganzen Turbulenzen gerade. Wir stecken seit Monaten nur Geld in diese ganze Umstrukturierung und Reorganisation und was auch immer. Das ist ja alles ganz schön und gut, aber unser Geschäft leidet. Verstehst Du? Thinkstep und vorher PE ist nur das geworden, was es heute ist, weil wir immer den absoluten Fokus auf unsere Projekte und unsere Kunden hatten. Nur so kam Geld und damit auch Erfolg und Wachstum in die Kasse. Wer da am Ende die Rechnung tippt oder einen Bericht schreibt, ist erst mal Nebensache. Jeder konnte immer alles — aber das wichtigste waren und sind die Projekte. Es geht um die Software, die Daten, die Beratung — all das, was eben GaBi ausmacht. Und seitdem dieses ganze Investorenkarussell sich dreht, haben wir alle das Gefühl, dass wir gar nicht mehr das machen, wofür wir eigentlich brennen. Wenn Du Frank oder Sandra fragst, wann sie das letzte Mal einen Aufsatz zu den neuen Entwicklungen beim Carbon Footprint gelesen haben, kannst Du ihnen beim Überlegen zuschauen. Sie haben kaum noch Zeit für das Wesentliche. Stattdessen stecken wir hier in Meeting nach Meeting fest und dann ist der Tag auch schon vorbei. Wenn wir nicht aufpassen, dann frisst das die Qualität unserer Leistung und damit auch die Innovationsfähigkeit. Wenn das passiert, dann können wir gleich zumachen. Was ich sagen will: Es muss jetzt schnell etwas passieren. Wir hatten ein Jahresziel und nach sechs Monaten haben wir nur darauf geschaut und mal so eben zwei Millionen verbrannt. Früher hatten wir solche engmaschigen Ziele nicht und haben dagegen Millionen verdient. Da passt was nicht.“

Louisa schaut auf die Uhr. „Simon, ich muss gleich zur U-Bahn und wieder ins Büro. Ich denke, Dein Punkt ist rüber gekommen und ich danke Dir, dass Du den Weg hier direkt nach München gefunden hast, um die Sache mal in Ruhe zu besprechen. Ich sehe, was für Euch alle auf dem Spiel steht. Du musst eben nur auch sehen, dass wir ein Fond sind und auch wissen, was wir tun. Jedes der Unternehmen, in das unsere Investoren Geld stecken, hat individuelle Sorgen und Nöte und natürlich auch viel Leidenschaft für die Produkte. Wir können und müssen das mit etwas Abstand betrachten und eben auch die Finanzdaten als das sehen, was sie sind: Indikatoren, um Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Und das meint eben in allererster Linie schnelleres Wachstum, sonst hättet Ihr Euch Fremdkapital auch sparen können. Darin lag ja schließlich Deine ganze visionäre Kraft, die Euch so viel Fortschritt beschert hat. Ich werde das also zu meinem Chef und dem Board bringen und Du kannst darauf vertrauen, dass es eine schnelle Entscheidung gibt und Ihr dann tätig werden könnt. Wenn es aus irgendeinem Grund so ausgehen wird, dass Ihr Miller noch eine Weile behalten sollt, dann musst Du auch das schlucken. Das ist nun einmal so. Das hättet Ihr Euch vorher überlegen sollen. Man kann nicht alles haben. Wenn Ihr weiter in Eurem eigenen Saft hättet brüten wollen, dann hättet Ihr das gern tun können. Dann könnt Ihr Euch eben auch das Thema große Firma bauen abschminken. Ich fände das schade, denn das wäre, soweit ich Dich und all die anderen GaBianer kennen gelernt habe, überhaupt nicht Eure Philosophie. Wenn Ihr es wirklich ernst meint mit dem Thema Nachhaltigkeit, und davon brauchst Du mich nicht zu überzeugen, dann liegt es in Eurem Interesse, dass Eure Software von vielen Firmen auf der Welt genutzt wird und noch mehr Beratung in dieser Hinsicht auf Basis Eurer Daten von Firmen genutzt wird. Das sollten wir wohl nicht aus dem Blick verlieren.“

Als Louisa den letzten Satz beendet hat, sind beide schon im Aufstehen begriffen. Louisa nimmt sich ihren Trenchcoat über den Arm und schnappt sich ihre Tasche. Simon rollt den kleinen Trolley neben sich her. Beide laufen gemeinsam Richtung U-Bahn-Station — schweigend. „Musst Du auch zur Bahn?“ fragt Louisa. „Nein, ich muss Richtung Innenstadt, da ist mein nächster Termin. Hat mich sehr gefreut, dass Du Dir Zeit genommen hast, um die Lage noch mal von mir persönlich zu hören. Wir wollen alle nur das Beste für das Unternehmen, das weißt Du. Und ich bin der Erste, der sein Ego hinten anstellt, um die Firma voran zu bringen, das weißt Du auch.“ „Ja,“ gibt Louisa nickend zurück, „das weiß ich. Ihr seid nur einfach schon eine ganz besondere Nummer Ihr GaBianer. Damit hat man es im Investment-Alltag auch nicht jeden Tag zu tun. Manchmal wünschte ich mir schon, dass Ihr etwas mehr mainstream und etwas weniger weltverbesserlich unterwegs wärt. Das würde einiges einfacher machen, besonders für die Investoren.“ In dem Moment lächelt Simon nur. „Weißt Du, bei GaBi gab es immer einen Spruch, der kommt noch von unserem Gründervater: ‚Wünsche werden selbst erfüllt‘. Bei Deinem geäußerten Wunsch kann ich Dir bestimmt nicht helfen.“ Daraufhin schmunzelt Louisa ein letztes Mal, drückt Simon die Hand und dreht sich um, um die Treppe Richtung U-Bahn hinunter zu gehen.

16. Abschied aus der Bürokratie

Der große Besprechungsraum am IKP ist festlich hergerichtet an diesem Donnerstagnachmittag im Mai 2006. Es ist ein großer Tag für Thomas, denn das Institut, das er nun seit 27 Jahren geleitet hat, wird nun nicht mehr „seines“ sein. Auch für den aktivsten Professor muss irgendwann Schluss sein. Der Ruhestand, zumindest offiziell vom Lehrstuhl, ist nicht mehr aufschiebbar. Viele der Weggefährten sind heute gekommen. Natürlich sind die meisten Mitarbeiter von der GaBi-Uni-Abteilung da, vom Fraunhofer und von PE International, wie die Firma mittlerweile heißt. Markus steht drüben neben dem Eingang und unterhält sich mit Prof. Berninger, einem Kollegen vom benachbarten Institut für Bauphysik. Die Tische sind an den Wänden arrangiert und tragen das Buffet für den anschließenden Empfang. In der Mitte sind die Stühle als Auditorium aufgestellt, um den kurzen Ansprachen zu lauschen. Jeder möchte heute mit ihm sprechen und Hände schütteln, aber Thomas hat gemischte Gefühle. Er hatte sich immer vorgestellt, dass das, was er anfing 1989 mit GaBi, nun auch hier an diesem Ort und an diesem Institut weitergeführt würde. Aber dem ist nicht so. „Herr Professor Reiter“, grüßt ihn jemand von hinten. Thomas dreht sich um. „Ach, Herr Tauberts, das ist ja eine Überraschung.“ Thomas ist sichtlich überrascht. „Was machen Sie denn hier? Wir haben uns doch seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesprochen.“ Tauberts lächelt kurz. „Ja, das stimmt, es sind ziemlich genau zehn Jahre. Ich weiß das gut, denn ich habe ein fotografisches Gedächtnis und erinnere die vielen Briefe, die ich damals zu ihrem Fall gelesen und geschrieben habe.“ Thomas schaut etwas verdutzt. Dann schiebt ihn schon jemand Richtung Pult. „Thomas“, sagt Markus, „Du musst jetzt was sagen. Es sind jetzt alle da und es kann losgehen. Auch der Rektor hat vorne Platz genommen.“ Thomas schaut kurz vor in die erste Reihe. „Pah, ist doch mal wieder klar, kommt hier heimlich reingeschlichen ohne mich vorher zu grüßen, Pflichttermin für ihn, typisch“, denkt Thomas bei sich und ist froh, dass ihm die Gedanken nicht laut über die Lippen kommen“.

Während er zum Pult geht, denkt er an Tauberts. Er hat ihn, wenn überhaupt, nur einmal persönlich gesehen. Das war damals 1995/6 während der schwärzesten Tage von GaBi. Damals hätte alles aus sein können. Wieso ist er heute ausgerechnet hier? Ja, er hat dem Ministerium eine Einladung geschickt zu seinem Ausstand. Aber das war mehr aus Anstand als mit der Hoffnung verbunden, dass wirklich jemand aufkreuzen würde. Und dann schon gar nicht Tauberts. Thomas spult seine Dankes- und Abschiedsworte mehr oder weniger gefühllos herunter. Er gibt einige Anekdoten aus den Anfangstagen der GaBi zum Besten, aber eben auch einige wichtige Meilensteine anderer Projekte, denn schließlich war GaBi zwar eines der wichtigsten Projekte, aber eben nicht das Einzige. Auch Faserverbundwerkstoffe, Gelenkendoprothetik, Mikrohärteprüfungen und Polyurethan-Forschung nahmen hier an diesem Ort ihren Anfang. Und schließlich hat das IKP ihn begleitet, auch als er 12 Jahre das Fraunhofer ICT zeitgleich leitete. Aber auch heute kann er nicht nur Jubelworte verstreuen. Das wäre nicht sein Ding. Er hat hier zwar die produktivsten Jahre seiner Tätigkeit verbracht, aber auch die schlimmsten, die ihn damals krank gemacht haben. Daran waren nicht die Studenten oder Themen schuld. Es waren die Steine, die ihm hier von anderen Wissenschaftlern und der Uni-Leitung in den Weg gelegt wurden. Er hatte schon immer Professor werden wollen. Dieser Wunsch blieb auch während seiner Zeit in der Industrie nach der Promotion erhalten. Doch darauf war er damals nicht vorbereitet und kann es auch heute nicht verstehen. Und er wäre nicht er selbst, wenn er das alles hier heute an seinem Abschiedstag einfach verschweigen würde. Aber er hat sich vorgenommen, diese Dinge kurz zu halten und sich nicht hinein zu steigern. Während er sich bei den Stichpunkten aus seinem kurzen Manuskript weiter hangelt, schaut er kurz zu Bettina herüber, die heute auch gekommen ist. Was hätte er ohne sie gemacht in all den Jahren des Kämpfens und Haderns? Damals war zeitweise gar nicht klar, ob er jemals hierher zurückkehren würde.

Nach 15 Minuten ist seine Rede vorbei. Auch die anderen Grußworte und Lobhudeleien sind schneller herum gegangen als so oft. Der Rektor hat die plattesten Plattitüden zum Besten gegeben, die man an einem solchen Tag loslassen kann. Nichts von dem, was er gesagt hat, hat wahre Wertschätzung vermittelt. Viel schlimmer noch, die Wahrheit hat er verschwiegen: Das ganze Institut hier wird zugemacht und die GaBi-Abteilung gleich mit. Im Grunde hat er jetzt erreicht, was er seit einem Jahrzehnt versucht, die erfolgreiche Arbeit hier zunichte zu machen. Aber das ist ihm nur auf dem Papier gelungen. Denn vorne in der zweiten Reihe sitzt Professor Berninger neben Michael Kunze und Simon Leder. Vor ein paar Monaten hat Thomas ihn angerufen und ihm den Vorschlag unterbreitet, die GaBi-Abteilung an sein Institut zu holen und damit auch gleich ein höchst attraktives Drittmittelprojekt zu übernehmen. „Thomas“, hat Günther sofort gesagt. „Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen. Was die Uni-Leitung will, ist eine Sache. Was ich an meinem Institut mache, ist eine andere. Und Dein GaBi-Projekt weiterführen zu dürfen und diese wunderbaren Leute in dem Team weiter zu entwickeln mit diesen Projekten, die heute mehr denn je gebraucht werden, um das Thema Nachhaltigkeit in die Breite zu bringen, das ist nicht nur ein Glück, sondern eine Ehre.“ Die beiden gaben sich die Hand und in den kommenden Wochen waren die Details schnell geklärt. Nach außen hat Thomas also der Order der Uni-Leitung gehorcht, nach innen ist er seinem Gewissen gefolgt und hat den Fortbestand dessen gesichert, was ein Teil seines Lebenswerkes geworden ist.

Als alle schließlich aufstehen und zum Buffet gehen, kann Thomas an kaum etwas anderes denken als daran, auf gar keinen Fall Tauberts entwischen zu lassen. Er sucht kurz unter dem Gewusel von Gesichtern und wird immer wieder von den Glückwünschen einiger Kollegen und Wegbegleiter abgelenkt, über deren Anwesenheit er sich natürlich freut. Aber die Neugier, man kann schon fast sagen, das Rätsel, um Tauberts Worte treibt ihn doch. Schließlich erkennt er Tauberts, wie er mit dem Rektor im Gespräch ist. Es sieht aber eher nach Small Talk denn nach einem ernsten Gespräch aus. Der Rektor steht mit dem Rücken zu Thomas und Tauberts bemerkt ihn. „Ach, Herr Professor Milbert, erlauben Sie, ich möchte doch noch gern ein paar Worte mit Herrn Professor Reiter wechseln“, unterbricht Tauberts. Milbert schaut sich kurz um und nickt dann. „Ja, natürlich. Herr Reiter, alles Gute, ich muss eh weiter zum nächsten Termin. Wünsche Ihnen nur das Beste für Ihren Unruhestand“. Milbert schüttelt flüchtig Thomas Hand und zieht dann samt persönlicher Referentin von dannen. „Herr Tauberts, ich muss Sie das jetzt einfach direkt fragen: Was genau haben Sie vorhin gemeint? Wir haben uns damals doch wenn überhaupt nur einmal gesehen? Ich war damals nicht in der besten Verfassung, aber so gut erinnere ich mich dann doch. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie in den Schriftwechsel mit dem Ministerium und der Hochschulleitung eingebunden waren.“ Tauberts grinst kurz und nimmt einen Schluck Sekt. „Ja, Herr Professor, das stimmt. Aber zu einem gewissen Zeitpunkt hat mir mein damaliger Chef, Minister Günther von Throta , die Sache zur Bearbeitung gegeben. Er wollte sich Ihrer Sache annehmen. Er hatte die, na, nennen wir es mal, schwierigen Sachverhalte und damit einhergehende Bedenken bezüglich Ihrer Nebentätigkeiten und der GaBi-Projekte, aufmerksam verfolgt. Als die Universität dann darum bat, Ihr Institut schleunigst zu schließen, da wurde ihm sehr bewusst, dass etwas geschehen müsse. Er hat dann alle Unterlagen zu Ihren Projekten, insbesondere die mit den namhaften Industriepartnern aus der Automobilindustrie, aufmerksam studiert und mich dann angewiesen, die Wogen bei der Hochschulleitung entsprechend zu glätten.“

Thomas steht für einen Moment völlig verdutzt vor diesem Mann, den er bis eben kaum kannte. Jetzt wird ihm langsam klar, dass er vielleicht ohne ihn heute gar nicht hier stehen würde. Denn damals ging es wirklich um alles. Und er war noch krank. Aber das interessierte hier keinen. Man wollte ihm und der gesamten GaBi-Abteilung an den Kragen. An manchen Tagen dachte er wirklich kurz daran, aufzugeben, was er aber einfach nicht konnte. Er wollte kämpfen bis aufs Äußerste, um die Erfolge der vielen Jahre nicht zunichte zu machen. Aber alles wäre beinahe an der Nebentätigkeitsregelung und aller verbundener bürokratischer Finanzregelungen gescheitert. Dabei brachten die Industrieprojekte der Uni Drittmittel in Millionenhöhe. Das wollte aber keiner sehen. Nur die Einhaltung der Paragraphen samt Fußnoten zählte. „Herr Tauberts, heißt das, dass Sie dann ermöglicht haben, dass die Uni endlich die Verträge anerkennt und einsieht, dass die Nebentätigkeiten meiner Mitarbeiter einwandfrei angemeldet waren und es keinerlei Interessenvermischungen zwischen Institut und PE gab. Das haben Sie ermöglicht? Denn ich weiß bis heute nicht, wie das alles geendet hat. Das Letzte, worum ich in meinem Schreiben gebeten hatte, war ein klärendes Gespräch mit der Uni-Leitung, meinem damaligen Geschäftsführer und mir, um diese Vorwürfe aus dem Weg zu räumen. Dazu kam es nie. Aber Ruhe war dann trotzdem. Wir durften schließlich weitermachen mit einigen kleinen vertraglichen Änderungen. Sie waren das?“ Tauberts schaut verstohlen auf seine Schuhe herunter und stellt das leere Sektglas auf ein Tablett, mit dem eine Studentin, die heute zum Kellnern eingeteilt ist, gerade herumläuft. „Nun, es wäre absolut falsch zu behaupten, dass ich die Initiative ergriffen habe. Das stand mir ja gar nicht zu. Wie gesagt, der Minister persönlich hat das ja angeordnet. Ich habe dann lediglich auf der Arbeitsebene die Dinge so umgesetzt, wie er es befürwortet hat. Das ging mit etwas Korrespondenz und ein paar klaren Worten Richtung Uni-Rektorat einher. Mehr war da nicht. Es freut mich aber, dass Sie das wertschätzen, auch nach so vielen Jahren.“ Thomas schaut Tauberts noch immer leicht sprachlos in die Augen. Dann nimmt er seine Hand und drückt sie, so gut man das eben unter Männern auf einem Empfang wie diesem machen kann. „Danke“. Tauberts nickt und setzt dann zur Verabschiedung an. „Herr Professor, es war mir eine Freude, Sie hier am letzten Tag als Institutsleiter zu besuchen. Ich bin sicher, Ihnen wird auch in Zukunft nicht langweilig werden. Wir ich gehört habe, entwickelt sich TheoPrax prächtig. Wie hat damals einer Ihrer Mitarbeiter mal gesagt? ‚Wünsche werden selbst erfüllt?‘ Ja, ich glaube, so war der Satz. In jedem Fall bin ich sicher, dass Sie sich und anderen mit Ihrer unternehmerischen Haltung noch viele Wünsche erfüllen werden. Machen Sie es gut.“

Der weitere Empfang ist mehr oder weniger Pflichtprogramm. Es dauert nur wenige Stunden bis in den frühen Abend. Die GaBi-Abteilung muss heute noch einen wichtigen Antrag fertigmachen und die meisten müssen daher früher weg. Auch Simon und Frank müssen schnell wieder ins Büro zu den anderen, da die Firma durch unruhige Fahrwasser fährt und jeden Tag ein neues Feuer zu löschen ist. Eigentlich wollten Thomas und Bettina noch mit den Kindern zum Italiener essen gehen im kleinen Kreis. Aber da Felix auf Klassenfahrt ist und die anderen morgen wieder früh raus müssen, muss auch das nicht unbedingt sein. Auch wenn die Freude heute über Tauberts Besuch überwiegt, so bleibt ein bleierner Beigeschmack. Aber man muss nach vorne schauen und das Wichtigste ist, dass die Zukunft von GaBi bei Berninger gesichert ist. Das ist die Hauptsache. Nach dem Abendessen geht Thomas noch mal ins Arbeitszimmer. Er kann es nicht lassen. Er muss irgendwo noch die Unterlagen von damals haben in Kopie. Was hat Tauberts gesagt? Genau zehn Jahre — also muss es in dem Stapel von 1996 sein. Er stöbert kurz durch die Ordner dieses Jahres. Es muss noch ein Teil von 1995 dabei sein, als das große Projekte mit Mercedes war. Und dann wahrscheinlich müsste der Briefwechsel mit dem Rektorat Anfang 1996 gewesen sein. Thomas blättert flink durch die dicken Ordner. Was ist er froh, dass Bettina hier immer geholfen hat, den Überblick zu behalten. Da, mit einem Mal kommen ihm die Briefköpfe bekannt vor. Das ist es. Anschrift ist „Oberregierungsrat am Landesrechnungshof“. Thomas öffnet die Klammer und holt den ganzen Stapel von mindestens 100 Seiten, die dann folgen, heraus. Er kann es nicht lassen und fängt an zu lesen, unterstreicht sogar einige Passagen. Besonders die folgende Passage in der Mitte des Stapels lässt ihn alles noch einmal wiedererleben.

15. Grünes Bauen — Yes, We Can

„Greenwashing Champions!“, sagt Paul laut zu Marc, der neben ihm auf der Rückbank des alten Audi 80 sitzt. „Das ist doch echt nicht zu fassen, was die Amis da abziehen“. Paul, Marc und Anna, die am Steuer Richtung Süden sitzt, unterhalten sich noch einmal über ihre Erfahrungen vom USA Besuch. Noch nicht einmal einen Monat ist es her, als sie die Green Building Conference 2004 in Portland besucht haben. Angeblich ist es die größte Konferenz zu nachhaltigem Bauen. Tatsächlich ist es wohl, so jedenfalls Paul und Marcs Eindruck, die größte Marketingkampagne zur Nachhaltigkeit aller Zeiten. „Anna, Du kannst Dir das nicht vorstellen. Wir sind da durchgelaufen und alle großen Firmen waren da. Verstehst Du? Und dann haben die da Stände, wo groß World Innovation and Sustainability Revolution draufsteht und was siehst Du dann? Da zeigen die doppelt verglaste Fenster und eine Energierechnung daneben! Das gibt es doch nicht. Das haben wir hier in Deutschland seit Jahrzehnten. Denk zurück an die erste GaBi-Bilanz vom VW! Da haben wir schon Glas bei den Scheiben drin. Es ist nicht zu fassen.“

Wenn Paul so erzählt, könnte man meinen, er rege sich gern auf. Aber tatsächlich ist er ein sehr optimistischer und positiv gestimmter Mensch. Er ist Gewächs der ersten GaBi-Generation und einer der Gründer der PE beim Umbruch 1994. Es hatte ihn damals, genau wie die anderen, nicht lange Überlegungen gekostet. 50.000 Euro und das unternehmerische Risiko waren zwar viel gewesen, aber sie alle glaubten an GaBi. Und der Erfolg gab ihnen schließlich recht. Die PE war seitdem auf mehr als 30 feste Mitarbeiter im Jahr 2003 angewachsen. Und von Beginn konnte jeder weiter die Themen vorantreiben, für die er oder sie brannte. Bei Paul war das von Beginn an das Thema Bauen. Die ersten Studien damals drehten sich ja alle um Zement. Das war die Nr. 1 Dreckschleuder unter den Baustoffen. Dann kamen die Dämmstoffe hinzu. Und nun, nach annähernd 25 Jahren mit GaBi, hat Paul das Gefühl, dass die richtigen Durchbrüche erst vor der Tür stehen. Zwar gibt es die Forschung schon lange, aber so richtig im Bewusstsein scheint das Thema noch nicht zu sein. Das sieht auch Marc so. „Paul, Du musst auch sehen, dass die Amis da noch auf einer ganz anderen Stufe sind. Schau doch mal an, was die für riesige Karren fahren. Das sind zwar auch Clichés, aber Du hast es ja wieder gesehen, als wir da waren. Die lassen sich dann von solchen Slogans dazu verleiten, zumindest etwas zu verändern.“ Paul nickt, ist aber trotzdem entschlossen, irgendetwas anzupacken, um das Thema nachhaltiges Bauen in Deutschland voran zu treiben. „Autos sind nicht Häuser. Über Autos sprechen sie mittlerweile auch hier endlich in der Fläche. Über Bauen noch nicht. Auch hier waren wir mit GaBi unter den Ersten, aber noch immer gelten wir und die Kunden, die GaBi nutzen, zu Pionieren. Das kann doch nicht sein. Wir müssen in der Breite dafür sorgen, dass nachhaltiges Bauen zum Standard wird.“ „Dann gründe doch Deine eigene Grünes Bauen in Deutschland Gesellschaft!“, ruft Anna hinter dem Lenkrad zurück zu den beiden.“ Sie tut dies mit einem breiten Grinsen als würde sie einen Scherz machen. Das Gesicht von Paul im Rückspiegel verrät aber, dass er das alles andere als abwegig findet. „Achtung“, ruft Marc, „Du musst hier raus. Da steht Holzkirchen 10 km.“ „Oh, oh…“ Anna blinkt schnell und schafft die Ausfahrt noch.

Eine halbe Stunde später sitzen Paul, Marc, Anna und Günther Seeberger beim Chinesen im Ortskern von Holzkirchen. Günther ist hier stellvertretender Leiter des Fraunhofer Instituts für Bauphysik. Er war es, der die GaBi-Abteilung zu sich ans Institut holte, als Thomas in Pension ging und viele Dinge an der Universität umgeordnet wurden. „Der Günther ist keiner von den arroganten Lackaffen, denen es nur ums Image geht“, hatte ein Kollege ihm gleich am Anfang seiner GaBi-Zeit über Günther gesagt. Das stimmte auch. Zumal Günther Physiker ist und damit wunderbar in das interdisziplinäre Bild der GaBianer passt. Günther bestellt das Mittagemenü mit Suppe und Huhn. Paul und Anna nehmen das gleiche mit Frühlingsrolle, Marc entscheidet sich für gebratene Nudeln. „Also ich habe Euch für nachher für die Messe Ausweise besorgt. Ihr könnt auch Flyer und Visitenkarten beim Stand von den Institutskollegen in Halle 3 hinterlegen. Mehr war leider nicht drin. Ihr müsstet Euch halt schon mal früher über Messedaten informieren und die Anmeldungsfristen auch einhalten“, sagt Günther in teils mahnendem, teils grinsendem Ton. Er kennt die GaBis nun schon seit den Anfängen und weiß, dass langfristige Planung nur ihre Sache ist, wenn es sein muss. Wenn sich aber kurzfristige Gelegenheiten ergeben, um ihre gute Sache voran zu treiben, dann finden sie auch andere Wege zum Ziel. „Günther, ich weiß“, sagt Paul etwas kleinmütig. „Das war ja ein kurzer Entschluss, weißt Du. Der Marc und ich waren doch auf der Green Building in den USA und wir müssen da einfach was machen in Deutschland. Die erzählen einfach was von ‚sie sind die Größten und Besten‘ und verkaufen nach unserem Forschungsstand einfach keinen Inhalt. Wir müssen was machen, Günther“. „Da bin ich ja ganz bei Euch. Aber Du weißt als GaBianer am besten, dass man Visionen nicht verkaufen kann. Was genau stellt Ihr Euch denn vor?“ Paul wirft einen kurzen Blick auf Anna. Die sieht plötzlich genau, was in Paul Kopf vorgeht. „Oh, nein, Paul, das ist doch nicht Dein Ernst?“ gibt sie ungefragt zurück. „Doch, Anna, Deine Idee vorhin im Auto war gar nicht so schlecht. Im Gegenteil, das ist genau das, was es hier braucht. Aber nicht nur eine Messe oder so, davon gibt es genug. Wir brauchen eine Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, einen Verband, damit wir das nachhaltige Bauen an alle Hersteller und Architekten und überhaupt jeden bringen, der am Bauen beteiligt ist.“ Als Paul das sagt, schaut ihn Marc von der Seite an und lässt kurz die Gabel sinken, mit denen er sich in Windeseile riesige Happen der gebratenen Nudeln in den Mund geschaufelt hat. „Paul, Du klingst gerade wie Thomas Reiter in seinen besten Zeiten“. Günther nickt zustimmend. Paul wartet nicht lange. „Ich klinge nicht so, wir alle sind GaBis und haben schon immer Weltverbessern mit pragmatischen Lösungen verbunden. Nur deshalb konnte aus GaBi die PE werden und dann Thinkstep. Und jetzt ist es Zeit, dass wir ein weiteres großes Projekt angehen, das GaBi-Gene in sich hat.“

Emissionshandel in Europa

Mit dem EU-Emissionshandelssystem (ETS), eingeführt 2005, hat die Europäische Union einen Marktmechanismus geschaffen, der CO2 einen Preis gibt und Anreize schafft, die Emissionen auf die kosteneffizienteste Weise zu reduzieren. In den vergangenen 16 Jahren konnten die Emissionen der Stromerzeugung und der energieintensiven Industrien um 42,8 Prozent gesenkt werden. Im Rahmen des Systems müssen die Unternehmen Zertifikate in Höhe ihrer CO2-Emissionen halten, wodurch die Stromerzeugung aus der Verbrennung von Kohle und anderen fossilen Brennstoffen teurer und saubere Energiequellen attraktiver werden. Gleichzeitig wird den Unternehmen ein Anreiz geboten, energieeffizienter zu werden, da sie ihre Emissionsrechte dann auf dem Markt verkaufen können.

Den Rest des Tages verbringt die GaBi-Gruppe auf der Messe am Tegernsee. Hier sind alle deutschen Baufirmen und auch wissenschaftliche Institute für Ökologie im Bau. Sie haben sich von Günther noch mit wichtigen Telefonnummern von Ansprechpartnern versorgen lassen, die für ihr Unterfangen wichtig werden könnten. Wie immer sind sie vorhin beim Chinesen sofort von der Frage nach dem „ob“ zu dem „wie genau“ übergegangen. Sie sind sich noch nicht ganz sicher, wie genau sie ihre Unternehmung nennen sollen und was genau die Kernaufgaben und der Mehrwert sein wird. Aber fest steht für Paul, dass dies sein neues Projekt sein wird. Nachhaltiges Bauen muss zu den Firmen und in das Bewusstsein derer, die neue Bauten in Angriff nehmen. Die Nachfrager müssen das einfordern. Es darf keine Ausnahme mehr sein, dass jemand nachhaltiges Bauen als Marketing benutzt. Im Gegenteil, gerade andersherum soll es bald sein. Dass jeder, der nicht daran denkt, Nachteile auch wirtschaftliche Nachteile zu spüren bekommt, weil er die Umwelt nicht mitbedenkt. „Was haltet Ihr von Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen als Arbeitstitel. Klingt langweilig wie Ganzheitliche Bilanzierung, ist aber genau das, worum es geht?“ fragt er Marc und Anna, als sie über die volle Messe hecheln und sich eher flüchtig die ausgestellten Bauinnovationen anschauen. „Klingt ganz nach Zukunft“, gibt Anna zurück. „Du, schau mal, da ist der Meyer von der Dämmstoffefirma. Wollen wir dem nicht gleich davon erzählen? Vielleicht hilft er uns, ein erstes Exposé anzufertigen“, schlägt Anna vor. „Du weißt schon, wir machen wieder das bewährte System: Wir brauchen einen schlagkräftigen Einseiter mit dem Konzept und damit gewinnen wir Unterstützer für erste Pilotprojekte.“ „Gute Idee“, sagt Marc. „Und woraus genau bestehen diese Pilotprojekte?“ Paul schaut rüber zu dem Stand, an dem besagter Meyer offensichtlich einigen Geschäftspartnern aus dem Ausland einen neuen Dämmstoff erklärt. „Keine Ahnung, finden wir raus“, sagt Paul entschlossen. „Wir haben ja noch die Rückfahrt nach Stuttgart“.

Den Rest des Abends verbringen die drei in einer verrauchten Bar nahe Holzkirchen, wo Günther ihnen eine Übernachtung in einer Pension besorgt hat. Hier sitzen sie bis 2:00 Uhr morgens, rauchen und trinken viele Biere. Fast scheint es wieder so wie in den Ursprungstagen, als sie noch nächtelang im Institut gearbeitet haben, während im Nebenzimmer die GaBi-Software Berechnungen auf dem Computer steuerte und sie inmitten von Pizza-Kartons und Bierdosen Angebote für neue Industrieprojekte fertig stellten. „Wir haben uns auch irgendwie nicht verändert“, stellt Mark fest, als sie endlich auf dem Weg in die Pension sind. „Doch, Mark, haben wir. Wir haben uns inhaltlich weiter entwickelt. Wir sind mit unseren Themen und der Datenbank weiterhin der Konkurrenz in Wissenschaft und Wirtschaft einen Schritt voraus“, gibt Paul zurück. „Und als Menschen haben wir uns auch weiterentwickelt, jeder von uns. Schau Dir an, wie viele von den alten GaBis heute Führungskräfte bei großen Firmen sind, Professoren oder ihre eigenen Firmen haben. Und auch wir bei der PE. Wir sind gewachsen, nicht nur personell. Wir haben so viele Fehler im Laufe der Jahre gemacht, dass wir umso mehr draus gelernt haben. Das bringen wir jetzt hier ein. Ich fühle mich bereit dazu. Ich merke schon länger, dass ein neuer Schritt ansteht. Das hier scheint er für mich zu sein. Also von keiner Veränderung, kann da nicht die Rede sein“.

14. Eine lange Nacht mit SoFi in Japan

Paul sitzt in der winzigen Küche seines Apartments im 20. Stock des Kyotoer Wohnhauses. Die Küchenuhr über der Tür zeigt 3:12 a.m. Es ist stockfinster draußen. Selbst der Verkehr in der Millionenstadt kommt zu dieser Zeit ausnahmsweise zum Erliegen. Paul streift sich die Haare nach hinten und bemüht sich, die Augen auf zu halten. Seit gestern Abend um 22:00 Uhr sitzt er nun schon hier. Vor ihm ausgebreitet sämtliche Präsentationen zur SoFi Software. Auf dem Laptop finden sich screenshots der Software. Paul ist todmüde, aber er ist noch nicht ganz durch. „Ich muss aber noch wenigstens eine Stunde schlafen vor dem Termin“, sagt er sich. „Den Rest packe ich aber jetzt auch noch“. Er starrt auf die letzte erst halb gelehrte Bierdose. Dann steht er auf und geht rüber zur Espresso-Maschine. Die Japaner lieben den Tee. Er hat ihn auch lieben gelernt. Aber in diesem Moment tut es der Tee nicht. Er braucht Koffein, das ihn irgendwie von jetzt bis in den kommenden Vormittag trägt. Dann huscht ein Lächeln über sein Gesicht und er schaut hinaus auf den auch nachts durch die Lichter der Stadt nicht ganz schwarzen Himmel. „Es hat sich irgendwie nichts verändert seit unseren Anfängen bei GaBi“, denkt er sich. „Wir haben schon immer die Nächte durchgemacht wenn es sein musste. Und es hat uns weitergebracht.“

Er nimmt die mittlerweile gefüllte und dampfende kleine Tasse mit dem schwarz-weißen Streifenmuster und stellt sie rüber neben den Laptop. Dann schaut er sich noch einmal die Beschreibung der Indikatoren an, die SoFi misst. „Hätte ich das nicht mal früher lernen können?“ fragt er sich. Aber er weiß die Antwort. Es war nicht nötig. Er ist Experte zu GaBi und nicht zu SoFi. Aber wenn es drauf ankommt, dann hat jeder immer alles gemacht im GaBi-Team. So wird es auch morgen sein. Wie war ihr Spruch immer? „Paul verkauft auch Kühlschänke an Eskimos und Doppelbetten an den Papst!“ Den Termin bei dem japanischen Maschinenbauer hatte eigentlich Leonard wahrnehmen sollen. Aber der ist krank und musste seine Reise absagen. Es gibt auch keinen anderen im GaBi Team, der einspringen könnte. Paul ist ja der Einzige in Japan, der die Geschäfte hier vorantreibt. Und vor allen Dingen ist er der Einzige, der die Japaner versteht. Das ist nicht ganz einfach. Aber er liebt dieses Land ganz besonders.

Wer oder was ist SoFi?

SoFi (Soziales und Finanzen) wurde maßgeblich durch Hartmut Schöch, Mitglied der ersten GaBi-Generation, vorangetrieben. Er entwickelte die Software im Rahmen seiner Diplomarbeit. Hintergrund war die Erkenntnis, dass neben der ganzheitlichen Bilanzierung von einzelnen Produkten und Stoffen auch ganze Unternehmen und deren Managementprozesse Instrumente für nachhaltige Steuerung benötigen. Die SoFi-Software ist ein Corporate-Sustainability-Management-Tool, das sich für viele verschiedene Anwendungsfälle eignet. Es handelt sich dabei um eine webbasierte Lösung.

Der Software liegt eine simple, aber höchst flexible Datenstruktur zugrunde, die eine individuell zugeschnittene Datenerfassung sowie passgenaue Auswertungen im Analysebereich möglich macht.

Mögliche Anwendungsfälle sind neben dem klassischen Reporting und Nachhaltigkeitsperformancemanagement u. a. das Supply Chain Management, Auditing oder auch der Health-and-Safety-Bereich.

Die SoFi-Anwendung eignet sich für Unternehmen jeder Branche und ist auf eine internationale Anwendung ausgelegt. (Springer Abstract)

Er erinnert sich noch an sein erstes großes Bankett. Das war beim ersten großen Kunden, den die PE damals hier hatte. Er war als einziger von der Firma eingeladen. Sogar am Tisch des Vorstandes des japanischen Elektronikherstellers durfte er Platz nehmen. Das war eine große Ehre, was Paul damals noch gar nicht so klar war. Dann trat der Boss an ihn heran und sagte nur einen Satz, den Paul gar nicht verstand. Er wusste noch nicht einmal, ob das nun Englisch oder Japanisch gewesen war. Dann überreichte er dem Chef zur Sicherheit in salopper fränkischer Manier seine Visitenkarte mit einer Hand. Der Japaner lächelte die ganze Zeit. Paul lächelte zurück. Später erst sagte ihm einer der Assistenten auf japanischer Seite, der lange in den USA gelebt hatte, dass er alles falsch gemacht hätte, was man hätte falsch machen können. Aber der Firmenboss hatte ihn ins Herz geschlossen, weil Paul am Tag zuvor die GaBi-Software gemeinsam mit seinen Leuten im Detail durchgegangen war und gezeigt hatte, was sie den Menschen und dem Unternehmen Gutes bringen würde. „You good man“, hatte einer von ihnen gesagt. Das hatte den Vorstand überzeugt. Nun hatte Paul das Vertrauen, auch wenn er in Sachen interkultureller Kompetenz in Japan offensichtlich noch lernen musste. „Never give your business card with one hand only“, hatte der Assistent ihm noch geflüstert. Paul machte sich eine mentale Notiz: Kulturführer Japan besorgen.

Das war erst Anfang 2009 gewesen, noch keine 12 Monate her. Jetzt fühlt er sich bereits sicher in diesem vermeintlich fremden Land. Dabei verbringt er weiterhin viel Zeit auf Reisen in andere Länder. Auch das war von Beginn an Teil der Gabi-Arbeit. „Wünsche werden selbst erfüllt“, hatte Thomas immer gesagt. Dazu gehörte bei ihm immer, dass er die Welt sehen konnte. Natürlich musste man auch immer was nach Hause mitbringen, wenn man schon irgendwo hinflog. Aber das war selten ein Problem. „Du kommst auch immer mit irgendeinem Deal nach Hause“, hatte Frank mal gesagt. Das war, als er vor einigen Wochen wieder mal zu einer Minenbesichtigung nach Südafrika geflogen war. Eigentlich ging es um die Datensammlung zu Silber. Das wäre aber wieder eine langfristige Angelegenheit geworden. Er hätte dort bleiben müssen. Er mochte Südafrika und hatte dort für Nemesis bereits viele Monate gearbeitet. Aber jetzt war er an einem anderen Punkt. Er wollte auch bald wieder zurück nach Deutschland. Trotzdem schaffte er es, dass der Besuch für etwas gut war. Auf der Fahrt in die Mine hatte er eine Bambusfarm beobachtet. Dann erzählte ihm sein Begleiter, dass Bambus das „neue Silber“ wäre. Paul ließ sich auf die Schnelle alles erklären. „Und was ist mit der Umwelt?“ fragte er sofort. „Was ist mit Nachhaltigkeit, wenn die Bäume alle weg sind?“ fragte er in gekonnt schwäbischem Englisch. Auch dafür hatte sein Begleiter viele gute Antworten, die Paul überzeugten. Er ließ sich noch vor Ort erste Unterlagen geben und das Gespräch endete mit dem Satz: „If you want, you can get data on Bamboo.“ Paul brachte das mit zurück nach Stuttgart ins Office. Alle lachten. Dich schickt man nach Afrika für Silber und Du kommst zurück mit einem Bambus-Deal!“

 

Paul nimmt noch einen letzten Schluck aus der Espresso-Tasse. Er fragt sich, wie lange er hier noch vor sich hinträumen soll. Seine Gedanken sind schon wieder abgeschweift. Mittlerweile zeigt die Uhr 4:30. Er beschließt, es jetzt gut sein zu lassen. Er muss jetzt einfach noch schlafen, bevor er gegen 6:30 Uhr die U-Bahn zum Kunden am anderen Ende der Stadt nehmen muss. „Es wird schon passen“, denkt er sich. „Es hat immer gepasst, wenn wir was angepackt haben bei GaBi.“ Nur wenige Stunden später sitzt er im Büro des japanischen Maschinenbauers. Das Meeting findet in einem für japanische Verhältnisse niedrigen Industriebau statt. Um den Geschäftsführer herum sitzen alle wichtigen Führungskräfte. Pauls Müdigkeit der letzten Nacht ist wie weggeblasen. Folie für Folie geht er die Vor- und Nachteile einer ganzheitlichen Bilanzierung durch. Das ist der Teil, den man fast 1:1 von GaBi übernehmen kann. Doch auch beim SoFi spezifischen Teil kommt er gut voran. Er weiß genau, worauf es den Japanern ankommt. Er betont besonders die Stellen, an denen es darum geht, dass man mit kleinen Maßnahmen viel bewirken kann. Und er macht klar, wie die Mitarbeiter durch die Thinkstep Berater angeleitet werden. Wie immer könnte man als Außenstehender kaum sehen, was gerade in den japanischen Führungskräften so vorgeht. Paul merkt aber feine Unterschiede und es läuft gut. Der Vortrag dauert nicht einmal 30 Minuten. Es folgen noch kurze Fragen zu Antworten. Noch nicht mal eine Stunde nach dem Gesprächsbeginn sitzt Paul schon wieder im Zug zurück in Richtung Nemesis Office. Er schreibt eine kurze SMS nach Stuttgart. „Alles gut gelaufen.“ Dann döst er kurz ein. Noch am Tag darauf bestätigt sich sein Gefühl. Die Firma schickt einen Auftrag für den Kauf der SoFi-Software samt zweijähriger Lizenz. „Der Gerlach… kommt immer mit einem Auftrag im Gepäck zurück“, klingt es noch in seinen Ohren.

13. Doktorieren in der Toskana

„Schau mal wie schön, da drüben, das muss der See sein, den man auf der Karte gesehen hat.“ Christine zeigt aus dem geöffneten Fenster des klapprigen Peugeots auf die filmwürdige Kulisse. Vor ihnen erstreckt sich die Toskana in sattem Grün und malerischen Ortschaften, die in der heißen Sonne gelblich glänzen und mit den typisch terracottafarbenen Dächern an einen Reiseprospekt erinnern. „Wenn das schon der See ist, vielleicht sind wir dann schon zu weit gefahren? Hätten wir vorher von der Landstraße abgemusst?“ fragt Markus hinter dem Steuer und legt die Stirn in Falten. Kurz nach Mitternacht sind die beiden in Stuttgart aufgebrochen, um die leere Autobahn Richtung Italien zu nehmen. Die anderen von der GaBi-Gruppe sind alle schon da. Nur Christine hatte noch einen wichtigen Termin mit einem Automobilkunden für die GaBi-Software III und Markus hat es einfach nicht vorher geschafft, sein Dissertationskapitel zu der Lackstudie so vorzubereiten, dass es im Doktorandencolloquium diskutiert werden kann. Er grinst, als er an den Begriff Colloquium denkt und nun hier durch diese malerische Kulisse fährt. „Nein, Markus, ich glaube nicht. Die Straßen sind doch hier so verschlängelt. Der See ist sicher trotzdem noch ziemlich weit weg, auch wenn er von hier so nah aussieht. Die anderen meinten doch, dass man eigentlich nichts falsch machen könnte. Erst wenn man die Orteinfahrt Massarosa passiert, muss ein Weg abgehen, der dann zum Haus führt.“ Christine hat mittlerweile die Schuhe ausgezogen und streckt die Füße lässig auf das Handschuhfach. „Wenn das die Polizia hier sieht, liebe Christine, dann kommen wir bestimmt in den Knast bevor wir angekommen sind“, gibt Markus mit einem schelmischen Lächeln zurück. Christine kümmert das kaum. Sie schaut weiter raus auf die satt-grünen terrassenförmigen Hügel. „Ach was, hier ist doch dolce vita. Die Italiener sind ja keine Schwaben, und Franken schon mal gar nicht“, entgegnet sie. „Das darf man auch echt keinem erzählen, dass wir hier unser Doktorandenseminar machen, wo die anderen in den grauen Mauern der Institute ihre Doktorarbeiten vor Professoren präsentieren, die sich wie graue Eminenzen benehmen.“

Es ist nicht das erste Mal, dass die GaBi-Gruppe zu solch einem Ausflug in den Süden aufbricht. Von Beginn an gehörten solche Auszeiten, die voll mit Arbeit und Diskussionen sind dazu in der GaBi-Abteilung. Wie genau es anfing, daran kann sich kaum jemand mehr erinnern. Wahrscheinlich war es Thomas, der die Initialzündung gegeben hat, um Doktorarbeiten auch mal außerhalb des Uni-Campus zu besprechen. Zumal sich alle diese besonderen Momente redlich verdient haben. Mittlerweile, knapp zehn Jahre nach dem Beginn von GaBi, verbringen die meisten noch immer kaum unter 12 Stunden im Büro. Besonders arbeitgeberfreundlich ist das nicht gerade, findet so mancher. Aber dieser Zusammenhalt, das Leben mit GaBi, ist eben Bestandteil des GaBi-Spirits. Und Thomas ist es wichtig, dass, wo hart gearbeitet wird, auch hart gefeiert wird. „Sag mal, Markus, kommt Sebastian eigentlich auch nach Italien? Er erscheint mir so schweigsam.“ Markus schaut in den Rückspiegel und checkt die Geschwindigkeit auf dem Tacho. Ein Freund hatte ihm gesagt, dass die Carabinieri hier durchaus gern Touristen blitzen, um ihnen hohe Strafen für Geschwindigkeitsübertretung aufzudrücken. „Hm, weiß nicht. Sebastian ist ja ganz frisch dabei. Wollte er nicht das Thema seiner Arbeit in Grundzügen vorstellen, damit wir alle diskutieren, ob das der richtige Fahrplan ist? Er macht die Diss. doch zu den Schmierstoffen, richtig?“ Christine nimmt die Füße runter und kramt im Fußraum nach der Straßenkarte, die hier irgendwo zusammengefaltet liegen muss. „Da, schau mal, brauchst nicht mehr zu gucken,“ wirft Markus ein. „Da ist der Ortseingang und kurz nach dem Schild muss der kleine Weg zum Haus abgehen.“ „Ah, ja, super. Dann sind wir ja wirklich gleich da.“ Christine überlegt einen Moment, um zurück zu Markus Frage zu kommen. „Ja, ich denke, Sebastian wird seine Arbeit präsentieren. Ich meine aber, er ist allein geflogen, nicht mit den anderen. Ist doch ok. Soll doch jeder so machen, wie er will. Ich finde es gut, dass wir langsam auch ein paar andere Charaktere bei GaBi haben.“ Markus schaut nachdenklich. „Wie meinst Du das?“ „Ach, Markus, komm schon. Du bist auch nicht gerade das klassische Alpha-Männchen in der Gruppe. Und ich als Frau haben auch einen Sonderstatus irgendwie, auch wenn das scheinbar nichts ausmacht. Manchmal merkt man es eben doch. Und ich denke, Sebastian ist eher ein introvertierter Typ, er ist leise, er beobachtet und ich glaube, er lässt sich einfach nicht so schnell von dem ganzen GaBi-Spirit überwältigen. Man muss halt auch sehen, dass GaBi schon speziell ist. So ruppig wie wir arbeiten und manchmal auch durchaus mit der Brechstange mal Projekte durchbringen, da kann man auch mal eine andere Meinung zu haben.“

Das Auto rollt auf den Parkplatz der Casa. Draußen neben dem Eingang stehen bereits unzählige leere Rotweinflaschen. Christine schaut nur und grinst Markus an. „Sind die nicht erst gestern Nachmittag angekommen?“ fragt sie fast rhetorisch. Markus lädt die Taschen aus dem Kofferraum und stellt sie neben den Eingang. Der Wagen von Thomas steht ebenfalls geparkt vor dem Haus. Darüber hinaus noch ein sehr gepflegter kleiner Fiat 500, wahrscheinlich ein Mietwagen. Von hinter dem Haus sind Stimmen zu hören. Es ist mittlerweile 14:00 Uhr, die Sonne brennt unerbärmlich. „Lass uns mal schauen, wo alle stecken“, fordert Christine Markus auf. Zusammen laufen sie hinter das Haus. Dort geht die Terrasse direkt in ein bergartiges Gelände über. Auf einer der Sonnenliegen ist Stefan zu sehen. Er hat eine Kippe in der Hand und streckt das Gesicht in die pralle Mittagssonne. „Ach, herrlich, Kinder. So lass ich mir Doktorarbeiten gefallen“, spricht er mehr zu sich als zu irgendjemand sonst. Doch Markus Angler, der neben ihm Gras sitzt, kann nicht wiederstehen, eine Reaktion abzugeben. „Ach, komm, Stefan. Als wenn Du schon mal näher über Deine Diss. nachgedacht hättest.“ Stefan lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zieht genüsslich an seiner Zigarette. Dann drehen sich beide um, und sehen Markus und Christine über den von der Sonne ausgetrockneten Rasen stapfen. „Ach, da seid Ihr ja. War die Fahrt gut? Willkommen im Paradies — schaut Euch das an!“ Stefan springt auf und begrüßt die beiden Neuankömmlinge mit einem herzlichen Schulterklopfen. „Wo sind denn alle?“ fragt Markus. „Ach, die halbe Truppe wollte ins Dorf laufen und Bier und Salami kaufen für heute Abend. Die anderen haben sich ein bisschen hingelegt. Es ist gestern etwas spät geworden“, sagt Stefan und grinst bei den letzten Worten hinüber zu Markus F. Christine läuft ungeduldig auf die Terrasse zu. „Sagt mal, wo finde ich denn die Toilette? Ich muss dringend aufs Klo. Der letzte Rastplatz war kurz hinter der Grenze. „Einfach rein, geradeaus im Flur und dann links die zweite Tür“, ruft Markus ihr zu.

Christine tritt durch die Terrasse in das Haus. Sie ist noch ganz geblendet von der Sonne draußen. Hier drin ist es angenehm kühl. Sie wirft nur kurz einen Blick auf den Wohnzimmertisch, der voller Papiere und Berechnungen ist. Auf der Couch liegt Paul und schnarcht leise vor sich hin. Endlich siehst sie die Tür, die Markus gemeint haben muss. Es ist ein großes Bad, viel größer als ein Gästebad. Als sich Christine dann wenige Minuten später die Hände wäscht und etwas Wasser ins Gesicht wirft, bemerkt sie einen merkwürdigen hefeartigen Geruch. Sie schaut sich um und riecht an der Seife. Irgendwie kennt sie diesen Geruch eher aus der Küche. Sie schaut sich um. Da bemerkt sie, dass eines der Handtücher, das über der Badewanne gehangen haben muss, in die Wanne gefallen ist. Sie bückt sich und hebt das Handtuch auf, um es wieder aufzuhängen. Da traut sie ihren Augen kaum. „Das gibt es doch gar nicht. Das kann ja wohl jetzt wirklich nicht sein“, sagt sie laut. Unter dem Handtuch steht eine riesige Plastikwanne. Darin sieht entdeckt sie einen großen Teigball, so groß wie zwei Weihnachtsgänse zusammen. Der Teig scheint offensichtlich mächtig zu arbeiten und kleine Blasen sind zu sehen. Nun bemerkt Christine auch, dass das Handtuch trotz der Wärme leicht feucht ist. Sie wirft es wieder über den Teig und macht sich wieder auf den Weg nach draußen zu den anderen. Die haben sich mittlerweile offensichtlich am Kühlschrank mit Bieren versorgt, um den Durst zu stillen. Auch Paul ist aus seinem Mittagsschlaf erwacht. „Hi, Christine, willkommen. Ist es nicht wahnsinnig schön hier?“ Christine weiß für einen Moment gar nicht, was sie sagen soll. Stefan hält ihr direkt ein Bier hin. Sie greift zu, denn sie hat mächtig Durst. „Sagt mal, was ist bitteschön das da in der Badewanne?“ Da Stefan, Paul und Markus fangen schallend an zu lachen. Markus H. schaut nur ratlos zu Christine. „Ha, Christine, das ist mal wieder typisch. Keine fünf Minuten hier und schon hast Du alles Wichtige erfasst. Wonach sieht es denn aus? Wir hatten doch gesagt, dass die anderen im Ort Salami kaufen sind. Wir machen heute Abend Pizza. Simon hat so ein Geheimrezept von einer italienischen Oma bekommen und da haben wir uns gedacht, das probieren wir gleich mal aus heute Abend. Der Teig muss ein paar Stunden gehen. Das ist ganz wichtig.“ Christine hat schon viel erlebt bei GaBi, so dass ihr diese Erläuterung scheinbar all ihre Fragen beantwortet und wenig Verwunderung hinterlässt. „Und welche Armee wollt Ihr dann damit füttern? Der Teigklumpen ist so groß, dass man damit wahrscheinlich das ganze Dorf heute Abend versorgen könnte.“ Markus schaut ungläubig zu Stefan. „Ach was, echt, ist er schon so groß geworden? Na, siehst Du, Stefan, hatte ich mir doch gedacht. Das ist gute Hefe. Das wirkt wie Synthese bei der Kunststoffproduktion. Ein perfektes Experiment für unser Doktorandencolloquium. Müssen wir gleich messen und die Daten in die GaBi-Datenbank einspeisen.“ Alle lachen daraufhin laut und prosten sich zu während die Tür aufgeht und der Rest der Gruppe mit Tüten und einem Kasten Bier bewaffnet vom kleinen Ausflug ins Dorf zurückkehrt.

Arbeitspapiere im GaBi-Style

Die nächsten Tage in der Toskana verlaufen wie im Fluge. Tagsüber reden sich alle die Köpfe heiß. Man könnte meinen, dass die Temperaturen hier die Kreativität und die Geschwindigkeit des Denkens der Nachwuchswissenschaftler noch einmal aufheizen. Es bildet sich eine besondere Mischung von Freizeit, Zusammensein und fachlichen Diskussionen, die es wohl kaum an einem anderen Uni-Institut gibt. Thomas bringt sich ebenfalls energisch und mit vollem Herzblut in diese fachlichen Debatten ein, lässt der Gruppe aber über weite Strecken des Tages genug Raum und Zeit, um unter sich zu sein. Er möchte dabei und für sie da sein, aber nicht als Chef oder wie ein Lehrer auf dem Klassenausflug daherkommen. Er ist zufrieden, wie sich dieses Doktorandenseminar entwickelt. Die Arbeit, die Markus vorgestellt hat, kann bald eingereicht werden. Damit wird er der Fünfte sein, der mit einem GaBi-Thema promoviert hat. Das ist einfach unglaublich, bedenkt man, dass am Anfang nur eine Diplomarbeit und eine Dissertation schon das Maximum an Potenzial war, was Thomas dem Thema zugetraut hat. Auch Sebastians Thema ist vielversprechend. Er steht ganz am Anfang der Konzeption, aber die Thematik mit den Schmierstoffen ist bislang total untergegangen. Am Anfang drehte sich ja alles um die Kotflügel, dann die anderen harten Teile und die Elektronik. Um Schmierstoffe und sonstige vermeintliche „Kleinigkeiten“ in der industriellen Produktion hat sich erst mal keiner gekümmert. Dabei schlummern da wesentliche Verbesserungspotenziale, die man mit GaBi und den ganzen Daten, die schon in die Datenbank eingespeist wurden, enthüllen kann, da ist sich Thomas absolut sicher. Nur macht er sich etwas Gedanken, ob Sebastian langfristig gut in die Gruppe passen wird. Thomas hat schon einige Male daneben gelegen mit seinem ansonsten sehr guten Händchen für neues Personal. Ihm ist es wichtig, dass es unterschiedliche Typen im GaBi-Team gibt, nicht nur die lauten und schnellen. Sebastian ist sehr reflektiert, hat Ingenieurswesen studiert und sieht die Dinge oft aus einer anderen, sehr differenzierten Perspektive. Genau deshalb freut sich Thomas, dass er seine Arbeit bei GaBi schreibt. Aber er hat auch bereits in den ersten Monaten mitbekommen, dass es Differenzen gab. Sebastian kommt mit so etwas nicht zu ihm, aber Thomas spürt trotzdem, dass das ein Problem werden könnte langfristig. Er denkt kurz an Andreas und seinen Weggang von GaBi. Daran gibt sich Thomas noch immer die Schuld. Er will nicht, dass so etwas noch mal passiert. Dass daran persönliche Freundschaften zerbrechen ist das eine. Dass es aber schlecht für die Weiterentwicklung von GaBi und auch das Geschäft ist, ist die andere Sache. Ein Team, in dem es kriselt, arbeitet nicht so gut wie es könnte. Dieser einfachen Wahrheit ist sich Thomas absolut sicher.

Am frühen Abend versammeln sich alle noch lange bevor die Sonne untergegangen ist am Tisch draußen. Sie wollen das Tageslicht noch nutzen, um das Dissertationskapitel von Markus fertig zu besprechen. Es ist der vorletzte Abend vor der Abreise. Markus ist zufrieden mit den Rückmeldungen der anderen. Viele, besonders Frank, haben unzählige Kommentare und Notizen auf die Ausdrucke geschrieben. Markus freut das, denn es zeigt, wie ernsthaft sich alle trotz der entspannten Atmosphäre mit seiner Arbeit beschäftigt haben und wollen, dass es gut wird. Es geht hier schließlich nicht nur um seinen Doktortitel und den Abschluss. Es geht darum, dass jede weitere Arbeit ein kleiner Meilenstein ist, um GaBi voran zu treiben. Mittlerweile sind sie fast 10 Jahre „am Markt“. Es gab viele Durststrecken über die Zeit. Nun ist auch seitens der Politik mehr Aufwind beim Thema Nachhaltigkeit zu spüren. Aber klar ist auch, dass sie noch immer ein Nischenprodukt haben und ein Nischenthema. Die Ökobilanzierung und Lebenszyklusanalyse gehören noch immer zu den Schubladenthemen in den meisten Firmen. Da muss man sich nichts vormachen. Ja, die ganzen großen Firmen, die sie von Beginn an begleiten und immer wieder Projekte einfahren, sind innovativ und zukunftsgewandt. Wenn aber knallharte Krisen kommen und Märkte zusammenbrechen, dann kümmert sich erst mal niemand um Ökobilanzen, dann spielen nur knallharte ökonomische Interessen im Vordergrund. Das ist allen hier bewusst. Und für Markus ist das besonders relevant, denn er fragt sich seit Längerem, wann für ihn der richtige Zeitpunkt ist, um das GaBi-Kernteam zu verlassen und seine eigene Beratung mit GaBi aufzumachen. Er ist jetzt 38 Jahre alt, ist während der GaBi-Zeit zweifacher Vater geworden. Ihn verbindet viel mit den anderen hier, aber er spürt auch, dass er kein Doktorand mehr ist, mehr sein will. Mit dem Abschluss der Diss. muss auch etwas Neues beginnen, ein neuer Abschnitt. „Prost, holt ihn Frank aus seinen Gedanken“, der den Wein bereits wieder aus der Flasche trinkt. „Super Arbeit, kann man einfach nichts hinzufügen“, sagt er wertschätzend. Die anderen stimmen mit ein und aus einer Rotweinlaune heraus stimmen alle mit ein. Im Radio grölt das Lied „Solo un Italiano“ von Toto Cotugno. Mary, die einzige Internationale im Team, schunkelt mit Markus auf der Eckbank. Dass Doktorandencolloquien in Deutschland so laufen, würde ihr in ihrer japanischen Heimat auch niemand glauben. Stefan dreht lauter und alle singen. Viva italia mit GaBi!

Meilensteine in der Geschichte der Nachhaltigkeit: Das Kyoto-Protokoll

 

Das Kyoto-Protokoll wurde am 11. Dezember 1997 verabschiedet. Aufgrund eines komplexen Ratifizierungsprozesses trat es am 16. Februar 2005 in Kraft. Derzeit gibt es 192 Vertragsparteien des Kyoto-Protokolls.

Das Protokoll setzt das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen um, indem es Industrieländer und Schwellenländer dazu verpflichtet, die Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) im Einklang mit vereinbarten Einzelzielen zu begrenzen und zu reduzieren. Im Übereinkommen selbst werden diese Länder lediglich aufgefordert, politische Regelungen und Maßnahmen zur Emissionsminderung zu ergreifen und regelmäßig Bericht zu erstatten.

Das Kyoto-Protokoll basiert auf den Grundsätzen und Bestimmungen des Übereinkommens und folgt dessen anlagenbasierter Struktur. Es bindet nur die Industrieländer und bürdet ihnen nach dem Grundsatz der “gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung und der jeweiligen Fähigkeiten” eine größere Last auf, da es anerkennt, dass sie weitgehend für das derzeitige hohe Niveau der Treibhausgasemissionen in der Atmosphäre verantwortlich sind.

In Anhang B des Kyoto-Protokolls werden verbindliche Emissionsreduktionsziele für 37 Industrie- und Schwellenländer sowie die Europäische Union festgelegt. Insgesamt belaufen sich diese Ziele auf eine durchschnittliche Emissionsreduzierung von 5 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 im Fünfjahreszeitraum 2008–2012 (dem ersten Verpflichtungszeitraum).

Umsetzung: Überwachung der Emissionsziele

Mit dem Kyoto-Protokoll wurden auch ein strenges Überwachungs-, Überprüfungs- und Verifizierungssystem sowie ein System zur Einhaltung der Vorschriften eingeführt, um Transparenz zu gewährleisten und die Vertragsparteien zur Rechenschaft zu ziehen. Im Rahmen des Protokolls müssen die tatsächlichen Emissionen der Länder überwacht und genaue Aufzeichnungen über die getätigten Geschäfte geführt werden.

In den Registern werden die Transaktionen der Vertragsparteien im Rahmen der Mechanismen verfolgt und aufgezeichnet. Das UN-Klimasekretariat mit Sitz in Bonn, Deutschland, führt ein internationales Transaktionsprotokoll, um zu überprüfen, ob die Transaktionen mit den Regeln des Protokolls übereinstimmen.

Die Berichterstattung erfolgt durch die Vertragsparteien, indem sie in regelmäßigen Abständen jährliche Emissionsverzeichnisse und nationale Berichte im Rahmen des Protokolls vorlegen.

Ein Einhaltungssystem stellt sicher, dass die Vertragsparteien ihre Verpflichtungen einhalten, und hilft ihnen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wenn sie dabei Probleme haben.

12. Der Typ von Motorola

Stefan ist eingenickt. Er hat Glück gehabt, dass er kurz vor Stuttgart die Augen im Zug noch rechtzeitig aufschlägt. Die Strecke von Nürnberg aus, wo er Ingenieurswesen studiert, dauert mit Umsteigen nur knapp zwei Stunden. Heute Morgen war er froh, dass er den Zug überhaupt bekommen hat. Gut, dass er nicht aus Dublin anreisen muss. Da hat Motorola nämlich seinen Firmensitz. Einige Wochen seines Praktikums hat er auch dort verbracht, dazu auch in Wiesbaden, wo die Firma ihren Deutschlandsitz hat. Es ist das Jahr 1996 und Handies sind noch die absolute Kuriosität. Wie es eine Geschichte will, hat die Frau vom Motorola-Chef das erste Handy erfunden, weil sie drahtlos am Strand telefonieren wollte. Belegt ist das Ganze wohl nicht. Schön findet Stefan, den alle Steve nennen, die Geschichte trotzdem. Er liebt Geschichten. Vor allen Dingen im Vertrieb kann man Geschichten sehr gut nutzen, um die Kunden von den Produkten zu begeistern. Heute geht es aber nicht so sehr ums Verkaufen. Vielmehr soll Stefan für seinen Chef eine Software kaufen, damit die Elektronik im Handy nachhaltiger produziert werden kann. Er ist ziemlich gespannt auf das Zusammentreffen mit den GaBi-Leuten. Im Endeffekt war es seine Wahl, die Stuttgarter aufzusuchen. Es gibt weltweit noch zwei andere Anbieter von Ökobilanzen dieser Art — in Frankreich und in Holland. Da liegt Stuttgart doch deutlich gelegener und vor allen Dingen hat er sich eingelesen und findet den ganzheitlichen Ansatz von GaBi absolut herausragend. Das einzige Problem ist nur, dass Stefan Franke ist und kein Schwabe. Aber vielleicht macht das nichts. Man wird sehen.

Die Schaffnerin sagt als nächsten Halt Stuttgart Hauptbahnhof an. Stefan weiß, dass noch etwas Zeit bis zum Ausstieg ist. Aber er steht trotzdem schon von seinem Sitz auf und zieht die schwere Tasche neben sich unter dem Sitz hervor. Dabei rammt er aus Versehen den Fuß seines Sitznachbarn. „Tschuldigung, nicht meine Absicht“, sagt Stefan schnell. Der Sitznachbar schaut kurz und verschränkt dann wieder die Arme vor sich auf dem Bauch, um sein Nickerchen fort zu setzen. „Entschuldigen Sie nochmals, aber ich müsste die nächste raus. Würden Sie mich mal eben…? Danke.“ Stefan hebt mit aller Kraft die Reisetasche und seine Ledertasche mit Unterlagen in den Gang und läuft dann nach vorne Richtung Ausstieg. Man könnte meinen, er schleppt hier eine Bombe mit sich herum. Dabei ist es nur ein Pentium 133, auf dem die ganzen technischen Daten der Mobiltelefonproduktion gespeichert sind. Er hofft, dass die Software der GaBi darauf laufen wird, so dass man dann eine möglichst genaue Ökobilanz der Elektronik aufstellen kann. Das ist jedenfalls das Ziel der Reise. Stefan hat im Vorfeld alles versucht, um die Software vielleicht auf Diskette zu erhalten. Aber das sei unmöglich sagte man ihm. Eigentlich ist es ihm aber auch nicht unrecht, denn so kann er sich die GaBianer mal genauer anschauen.

Als Stefan schließlich am Bahnsteig steht. Sieht er nichts. Er schaut einmal in diese Richtung und einmal in jene, aber kein Mensch ist mehr zu sehen. Die anderen Passagiere sind längst die Treppen herunter ihrer Wege gegangen. „Na, das geht ja gut los an diesem Montagmorgen um noch nicht mal 9:00 Uhr“, denkt sich Stefan. Er holt noch einmal die Notizen vom letzten Telefonat aus der Aktentasche. Doch, da steht es, ein GaBi-Mitarbeiter würde ihn am Bahnsteig abholen, so hatten sie es vereinbart. Stefan schaut noch einmal auf die Uhr. Seit 10 Minuten wartet er nun schon. Es wird langsam zugig und kalt. Er entscheidet, erst mal Richtung Ausgang zu laufen, und zwar zum Parkplatzausgang. Vielleicht hat sich ja doch jemand vom GaBi-Team eine andere Info bekommen und wartet nun dort. Er schleppt die schwere Tasche über der Schulter, aber auch am Parkplatz angekommen sieht es nicht so aus, als wolle ihn jemand abholen. Er dreht sich herum und möchte auf den Haupteingang zusteuern, wo es sicherlich Telefonhäuschen gibt. Dann plötzlich schnelle Schritte hinter ihm.“ Hey, Du, bist Du der Stefan? Der von Motorola?“ Stefan dreht sich herum. Seine Haare stehen vom Wind ganz zu Berge. „Ja, bin ich. Sag mal, Du hörst Dich aber auch nicht an wie ein Schwabe?“ „Ich, nö“, antwortet Paul, Franke, ist doch klar, aus Nürnberg. Sorry dass ich bissl spät bin. Ich musste noch den Computer bewachen bis die Ablöse kam. Wir haben über Nacht wieder eine Rechnung laufen lassen. Das dauert immer. Aber jetzt komm, steig ein.“

Nur knapp 15 Minuten später laufen Sie über den Flur des Büros. Das Team ist seit Gründung der Abteilung auf bereits 15 Mitarbeiter angewachsen. Simon klopft laut an die Tür eines der Büros, in dem Andreas und Frank angeregt über eine Tabelle streiten. „Hey, Männer, kurz mal aufhorchen, der Typ von Motorola ist da, hab ihn gerade vom Bahnhof geholt.“ Andreas und Frank lösen ihre Blicke vom Papier und schauen sich verdutzt an. „Ach Du scheiße“, dämmert es Frank. „Den haben wir ja total vergessen!“ Er winkt Simon zu, dass er den Gast in das kleine Besprechungszimmer bringen soll. Andreas springt auf und steckt sich das T-Shirt ordentlich in die Hose. Simon beobachtet das Schauspiel noch kurz. „Hey, Männer, keinen Stress. Der ist total in Ordnung, scheint mir. Franke natürlich, ist doch klar.“

Ab diesem Zeitpunkt laufen die Gespräche wie von selbst. Stefan lässt die GaBi-Software auf den Rechner spielen und lässt sich alles haargenau erklären. Natürlich hat er sich während des Studiums auch schon mal für Umweltthemen interessiert, aber den meisten Profs. ging es eher darum zu zeigen, wie man Dinge baut, anstatt sie ganzheitlich zu betrachten. Total im Trend lag gerade Roboter bauen. Das lag Stefan nicht sonderlich, aber Elektronik fasziniere ihn. So kam dann auch das Interesse an Motorola und mit dem Praktikum die Möglichkeit, sich auch mehr mit der Nachhaltigkeit und Recyclingfragen der Materialien zu beschäftigen. Doch was die GaBis ihm hier alles an einem Tag erzählen, passt kaum auf eine menschliche Festplatte. Sie erzählen so viel und begeistert, dass Stefan gar nicht weiter überlegen muss, wohin er nach seinem Praktikum will. Am Ende des Tages ist klar: Er will auch zur GaBi. Und die GaBis kommen offensichtlich auch gut mit ihm aus.“Sagt mal“, traut er sich am Ende zu fragen. Wenn ich die Bilanz der Elektronik als Projekt hier bei Euch vorantreibe, ginge das?“ „Na klar“, ist Simons direkte Antwort. „Da musst Du aber eines wissen: Wünsche werden bei uns selbst erfüllt. Wenn Du also zu Deinem Thema promovieren magst und für das Projekt Mittel für eine Stelle einwirbst, dann hätte da bestimmt auch der Professor nichts dagegen. Unsere Datenbank wurde noch nicht mit Daten zu Elektronik gefüttert. Alles was wir bislang haben, ist Kupfer und Gold. Dein Thema ist sauspannend für uns.“

Projektstand 1996

Nur wenige Monate später, hat Stefan bereits sein Dissertationsthema fest gezurrt mit Andreas als Betreuer. Der Arbeitstitel lautet: „Ökologische und ökonomische Bewertung des Materialrecyclings von Elektronikschrott.“ Wie die anderen GaBis aber immer sagen: „Die Dissertation schreibst Du nach 18:00 Uhr.“ Das ist Stefan recht, denn Lust auf akademisches Theorisieren hat er ohnehin nicht. Das heißt aber nicht, dass ihn die Forschung nicht interessiert. Solange diese Wert für die Erweiterung der GaBi-Datenbank schafft, ist er Feuer und Flamme. Das ist nicht schwer, denn die anderen sind ansteckend mit ihrer GaBi-Euphorie. Besonders interessant ist auch mit zu verfolgen, wie sich die Software kontinuierlich entwickelt. Seit ca. einem Jahr gibt es bereits die GaBi-Software 2.0. Sie ist nicht unbedingt wesentlich schneller als die erste Version, aber die Datenbank wächst kontinuierlich. Und diese ist das Herzstück des gesamten GaBi-Projektes, da sind sich alle einig. Kaum jemand auf der Welt hat bereits so detaillierte Daten über die Materialien und Verfahren wie die eingeschworene Truppe aus dem Schwabenland. Stefans Schreibtisch ist mittlerweile übersäht von Computerchips und auseinander gebauten Docking Stations. Kupfer, Gold, Platin — das sind die Materialien, zu denen keiner mehr weiß als sie. „Wir bilanzieren nur, was wir angefasst haben“, sagt Frank immer. Für Stefan ist das das Wichtigste. Es geht darum, mit Machen die Welt zu retten, nicht mit Reden oder Protestieren. Das ist die gemeinsame Philosophie der GaBis. Auch wenn das in der Universität scheinbar mancherorts auf Unverständnis stößt, so macht es das Institut und zunehmend auch die PE immer erfolgreicher. Und wenn es irgendwo klemmt und ihnen wieder einmal ein Professor aus einem anderen Institut an den Karren fahren will, dann hält Thomas ihnen den Rücken frei. Das hat er immer gemacht. Auch wenn er im Tagesgeschäft für Leute wie Stefan nicht so präsent ist. Wenn es ernst wird, ist er da.

Ernst wird es für Stefan auch an diesen Tagen im Herbst, als er gemeinsam mit Andreas auf eine Fachtagung zu Elektronik in Fahrzeugen fährt. Im Zug gehen beide nochmals die Präsentation durch. Stefan erläutert Andi, wie ihn alle nennen, nochmals die neuen Berechnungen, die er erst letzte Nacht hat durchlaufen lassen. Es ist ihm wichtig, dass Andi diese Zahlen nennt und nicht die in dem Entwurfspapier von letzter Woche. „Schau, die Spalte hier mit den Emissionen, die ist absolut zentral. Wir hatten in der ersten Berechnung von letzter Woche einen kleinen Fehler drin. An der Gesamtaussage ändert das nichts. Aber mit den neuen Daten ist es noch überzeugender, dass man ein Vielfaches der Emissionen und der Kosten sparen kann, ganz zu schweigen von dem Recycling, das hier noch gar nicht bis zu Ende drin ist.“ Stefan erklärt dies alles in einer Geschwindigkeit, die nur Insider der GaBi so schnell verstehen. Doch Andi schaut ihn teils ratlos, teils amüsiert an, wie sie da gegenüber in dem 2. Klasse Abteil fachsimpeln. „Wieso erklärst Du mir das alles, Stefan? Du hältst den Vortrag auf der Konferenz.“ Als Stefan das hört, glaubt er zunächst, die Ohren nicht richtig gewaschen zu haben. Er schaut Andi direkt in die Augen mit einem fragenden Blick. Der antwortet absolut nichts. „Wie, ich? Du meinst, ich spreche vor 1,400 Leuten? Ich habe gerade mal Diplom gemacht. Ich bin HiWi.“ Andi scheint das total unberührt zu lassen. „Andreas, ich kann doch nicht… Ich meine… das geht nicht.“ Nun setzt Andreas einen Blick auf, den man bei GaBi-Führungskräften selten sieht. Aber er ist dafür umso durchdringender: „Stefan, was ich meinte: Mit diesem Scheißvortrag, den Du mir hier bislang erklärt hast, wirst Du mit Sicherheit nichts erreichen. Das stimmt. Aber wir haben ja noch drei Stunden bis zur Ankunft. Na, los. Ich werde es nicht erzählen…“

Noch nicht einmal acht Stunden und zwei durchgeschwitzte Hemden später, hat Stefan seine Feuerprobe überstanden. Am Abend sitzen er und Andreas an der Bar im Hotel. Alles ist gut gegangen. Der Vortrag lief rund, das Publikum hat sehr interessiert Fragen gestellt, darunter einige der Koryphäen der Lebenszyklusforschung. Manche davon konnte Stefan noch nicht so klar und professionell beantworten, wie es sicher Andreas oder die erfahreneren im Team gekonnt hätten. Aber das macht nichts. Wichtig ist, er wurde ernst genommen. Ihm wurde zugehört. Und noch wichtiger: Das GaBi-Thema stößt überall auf hohe Resonanz. Viele Stimmen sagen immer, wie weitsichtig, innovativ, aber eben auch pragmatisch der Ansatz sei. Es gibt Stefan wirklich das Gefühl, an etwas zu arbeiten, das nicht nur Zukunft hat, sondern auch Sinn. „Weißt Du, Stefan“, sinniert Andi nach dem dritten Bier. „Wir können schon ganz schön arrogant sein, wir GaBis. Wie Du denen da heute im Vortrag als Grünschnabel die Zahlen um die Ohren gehauen und ihnen gesagt hast, dass sie keine Ahnung haben, wie sehr sie mit ihrem Halbwissen und ihrer begrenzten Berechnung der klassischen Ökobilanzen unseren Planeten aufs Spiel setzen — das muss man sich erst mal trauen. Jetzt bist Du wirklich ganz und gar bei GaBi angekommen.“ Bei Stefan gehen die Worte herunter wie Öl. Er weiß, dass Andreas das ernst meint. Lob wie Tadel sind bei den GaBis immer ernst gemeint, und immer wohlwollend. Es geht darum, voran zu kommen — mit den Projekten, aber auch als Mensch. „Ach, weißt Du“, gibt er Andi zurück. „Arroganz ist doch ein sehr weitreichender Begriff. Nennen wir es einfach Selbstbewusstsein, das auch Fakten basiert.“ Die neuen Biere kommen und beide prosten sich zu.

11. Lernen mit Spaß und TheoPrax

Die Sonne ist noch immer sehr warm durch die Windschutzscheibe zu spüren. Den ganzen Tag hat sie mit aller Kraft diesen Sommertag im Jahr 1996 erhitzt. Thomas hält das Lenkrad in beiden Händen und schaut konzentriert auf die Fahrbahn während hinten auf der Rückbank Mona, Felix und Thomas, ein Junge aus der Nachbarschaft, noch ganz aufgedreht über ihre Erlebnisse sprechen. „Weißt Du noch, wie der Pirat plötzlich in der Geisterbahn vor unserem Kopf runtergefallen ist?” fragt Mona ihren Bruder. „Da hast Du Dich ganz doll erschreckt und geschrien, ich hab es genau gesehen.“ „Ach, Quatsch mit Sauce, stimmt gar nicht“, gibt Thomas zurück. „Aber Du hast voll Angst gehabt in der Achterbahn.“ Dann schon schaltet sich Felix ein und schwärmt geradezu von der Wildwasserbahn und dem Karussell. Bettina schmunzelt auf dem Beifahrersitzt. Ihr tun die Füße weh vom Herumgelaufe auf dem großen Freizeitparkgelände. Von morgens 9:00 Uhr bis zur Schließung des Parks waren sie nun in Tripsdrill. Das hatte sich Felix zum Geburtstag gewünscht. Thomas hatte sie morgens hingefahren. „Was schaust Du denn so grimmig, Thomas? Bist Du heute nicht mit der Arbeit voran gekommen?“ fragt sie ihren Mann. „Was, ich? Doch, doch, doch, passt schon“, antwortet er kurz, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Rückbank zuwendet. „Sagt mal, Kinder, wisst Ihr eigentlich auch, wie so eine Achterbahn funktioniert? Ich meine, wie der Wagen da hoch kommt und dann nicht aus der Kurve fliegt?“ Felix und die anderen haben die Frage offensichtlich überhaupt nicht gehört. Sie sind so laut am Schwärmen und voller Eindrücke, dass sie nichts und niemand gedanklich aus der phantastischen Abenteuerwelt reißen kann. Dann schließlich fällt Mona doch ein, dass morgen schon Montag ist. „Mama, müssen wir morgen zur ersten Stunde in die Schule? Ich bin doch jetzt sooooo müde.“ Bettina schmunzelt. „Ja, Mona, morgen ist erste Stunde angesagt, wie immer. Aber Du kannst Dich doch drauf freuen, den anderen zu erzählen, wie es war. Und Du hast doch mit Lisa und Thomas auch die Stofftiere bei der Verlosung gewonnen. Die möchtest Du ihnen doch sicher so schnell wie möglich bringen, stimmt es?“ lenkt Bettina vom eigentlichen Thema ab. Bettina dreht sich kurz um und sieht, dass Mona verträumt aus dem Fenster in die Baumwelt neben der Autobahn schaut. „Ja, stimmt, hast schon recht. Auf die anderen freue ich mich schon, aber Mathe ist so langweilig bei Herrn Meyer. Da schlafe ich bestimmt ein.“ In dem Moment fängt Thomas an zu lachen und haut kurz aufs Lenkrad. „Siehst Du, Bettina, das genau ist es doch. Das ist das Problem. Da fahren die Kinder einen ganzen Tag lang Karussell und Achterbahn und haben einen Heidenspaß. Aber gelernt haben sie nichts. Und in der Schule sind sie zum Lernen, aber haben absolut keinen Spaß daran. Und dann wundern wir uns, warum wir keine Studenten mehr in den Natur- und Technikwissenschaften haben, wenn da so eine Schnarchnase von Meyer schon in der Mittelstufe alles an Motivation und Interesse zunichte macht. Das darf doch nicht sein. Man müsste ein bisschen Tripsdrill in Schule und Uni bringen, damit Lernen wieder Freude macht.“

Bettina schaut ihrem Mann zu, wie er diese Worte in seiner gewohnt energischen Art rüberbringt. Dann schaut sie wieder geradeaus auf die Fahrbahn. Irgendwie glaubt sie zu meinen, dass dieser letzte Satz nicht nur eine bloße Assoziation von Thomas war. Schon folgt auch der nächste Gedanke ihres Mannes. „Bettina, was denkst Du. Meinst Du, mir würde jemand abnehmen, wenn ich eine neue Lernmethode erfinde? Ich bin doch kein Pädagoge oder Lehrer. Aber ich glaube, ich weiß genau, was es braucht, um wieder Schüler für das Studium der Technikwissenschaften zu begeistern. Schließlich mache ich es ja schon immer in meinen Vorlesungen. Aber das ist nicht genug. Da ist es schon zu spät. Der Nachwuchs muss ja erst mal in die Uni finden. Wir brauchen eine neue Lernmethode mit Theorie und Praxis, mit der Lernen Spaß macht. Und da müssen Unternehmen dazu. So ähnlich wie bei GaBi. Wir brauchen ja Geldgeber aber vor allen Dingen den Kontakt mit den innovativen Organisationen, die guten Nachwuchs brauchen. Es muss doch möglich sein, dass Lernen wieder Spaß macht. Da werde ich verrückt, wenn ich höre, dass den ganzen Tag dumm im Kreis herum Karussell zu fahren den Kindern mehr Spaß macht, als ihren Kopf zu betätigen. Dabei macht beides zusammen so viel mehr Sinn.” Bettina hört aufmerksam zu und nickt mit dem Kopf. „Ich glaube schon, dass man Dir das abnimmt, warum denn nicht? Du bist doch schließlich schon lange genug Professor und Deine Studenten lieben die Vorlesungen. Und sicher kannst Du die GaBi auch als eine Art Vorlage nehmen, ich meine, die Art und Weise wie es sich entwickelt hat mit dem Unternehmen.“ „Ja, genau, genau das ist es. Die beiden Dinge hängen schon miteinander zusammen“, fährt Thomas fort. „Aber es sind schon zwei getrennte Sachen. Das darf man nicht vermischen. Die didaktische Methode muss erst mal an die Schulen. Aber der Unternehmergeist von GaBi, der gehört definitiv dazu.“

Während des Gesprächs geht langsam die Sonne draußen unter. Thomas schaltet das Licht ein und schaut in den Rückspiegel. Auf der Rückbank ist es plötzlich still geworden. Alle drei Abenteurer scheinen sich voller Aufregung in den Schlaf geredet zu haben. Mit leuchtenden Wangen hängen sie in ihren Kindersitzen und schlafen jetzt friedlich vor sich hin. Thomas schmunzelt. Er hatte sich gesträubt, den ganzen Tag mit den Kindern im Park zu verbringen. Zu viel Arbeit lag auf dem Schreibtisch und überhaupt hat er eine Abneigung gegen Freizeitaktivitäten, die offensichtlich Massen anlocken, aber mit Bildung herzlich wenig zu tun haben. Er war froh, dass Bettina kein Problem damit hatte, die Rasselbande den Tag allein zu betreuen, sofern Thomas den Fahrdienst übernehmen konnte. Nun ist Thomas froh, dass er das gemacht hat. Ja, er muss diese Idee einfach verfolgen. Es braucht dringend neue Zugänge zum Lernen. Anders wird man das Problem nicht in den Griff bekommen, dass schon jetzt die Hörsäle in den Anfangssemestern gähnend leer bleiben. Früher gab es Hunderte, die sich im Maschinenbau eingeschrieben haben. Heute gibt es manchmal nur 20. Das kann einfach nicht sein. Wie soll da die deutsche Industrie wachsen und Innovationen hervorbringen, wenn die klugen Köpfe der Zukunft fehlen? „Sag, Bettina, was hältst Du von dem Arbeitstitel „TheoPrax Werkstatt“?, fragt Thomas Bettina. Die denkt nur einen kurzen Moment nach. „Also TheoPrax klingt ganz wunderbar“, gibt sie zurück. „Das “Werkstatt” brauchst Du nicht. Eine Werkstatt kann ja trotzdem Teil davon sein. TheoPrax an sich reicht. Da versteht man sofort, dass es um Theorie und Praxis geht.“ Thomas nickt energisch. Sein Strahlen wird immer breiter.

Nachdem sie noch Thomas bei den Nachbarn abgeliefert haben, tragen Thomas und Bettina die schlaftrunkenen Kinder ins Bett. Es ist mittlerweile schon weit nach 21:00 Uhr. Aber Bettina ahnt schon, was Thomas noch vor hat. Sie geht schnell in die Küche, um ein paar Brote zu schmieren. Als sie sich umdreht, um das Essen an den Esstisch zu bringen, sitzt Thomas schon mit Stift und Papier in der Hand versunken an allerhand Notizen. „Schau, Bettina, wir müssen irgendeine Anfangsaktion finden, damit wir Schulen zum Mitmachen gewinnen. Und die Unternehmen müssen auch mit rein. Es muss etwas Motivierendes sein. Ein Wettbewerb vielleicht. Aber nicht so etwas wie “Jugend forscht”, nicht so arg wissenschaftlich. Etwas Praktisches muss es sein, mit Projektcharakter.” Bettina setzt sich und schiebt Thomas das Brett mit den Schinkenbroten herüber. „Nun iss erst mal noch was“, fordert sie ihn auf, während sie über die Notizen liest. „Was ist mit einem Ideenwettbewerb?“ kommt es ihr. „Man könnte doch eine Ausschreibung machen, wo sich Schulen beteiligten, wahrscheinlich eher nur auf Oberstufenebene.“ „Gute Idee“, gibt Thomas noch mit vollem Mund zurück, „prima! Ja, eine Ausschreibung brauchen wir. Aber Ideenwettbewerb klingt ein bisschen zu allgemein, da fällt uns noch ein griffigerer Titel ein. Aber das Prinzip stimmt. Nur muss es sich auf Produkte beziehen. Es müssen Ideen sein, die sich auch verkaufen lassen. Sonst haben die Jugendlichen keinen Ansporn. Sie sollen ja sehen, dass aus ihren Ideen auch was werden kann — nicht nur Geld, aber eben auch, sonst ist es ja nur keine Fiktion und hat mit Wirtschaft gar nichts zu tun.“ „Na, dann lade doch die Unternehmen ein, dass sie sich die Ideen anhören und dann mit den Schülern umsetzen. Das könnte doch klappen. Du kennst doch selbst von Deiner Industriearbeit und durch GaBi genug. Da machen bestimmt einige mit, auch wenn es erst mal ein Pilot ist“, denkt Bettina weiter. „Prima, Bettina, ja, das denke ich auch, das kriegen wir hin. Fehlt nur noch eine geeignete Schule. Dort muss es Lehrer geben, die auch mitmachen und die Schüler begeistern, nicht solche Schlaftabletten wie der Mathe-Meyer von Monas Schule. Aber das finden wir bestimmt, da bin ich sicher.“

Mittlerweile sind die Brote alle und Bettina und Thomas räumen den Tisch ab. Nun ist es weit nach Mitternacht geworden. Überall liegen Zettel mit Notizen und Zeichnungen auf dem Tisch verstreut. Bettina weiß überhaupt nicht, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Auch sie ist von dem ganzen Herumlaufen des Tages todmüde. Aber wenn Thomas diese Ideen hat, dann ist er nicht zu bremsen. Und ihr selbst macht es auch viel Spaß. Sie ist sicher, dass TheoPrax, wenn es bei dem Namen bleibt, ein Erfolg wird. Die anfänglichen Zweifel von Thomas, dass er als Ingenieur und Nicht-Pädagoge nicht für voll genommen werden würde, scheinen sich auch bei ihm verflüchtigt zu haben. Sie weiß aber auch, dass die Bedenken bestehen bleiben werden. Doch der Erfolg wird ihm recht geben, da ist sie sich sicher, schließlich ist sie es, die täglich die Hausaufgaben der Kinder betreut und sich oft fragt, wie man eigentlich ganz spannende Inhalte so realitätsfern unterrichten kann. „Meinst Du, das Markgrafengymnasium hier in Karlsruhe könnte ein geeigneter Partner für den Piloten sein?“ fällt es Thomas ein, als sie endlich müde die Treppe hinauf Richtung Schlafzimmer wandeln. „Ja, warum nicht, da geht doch auch der Marco, der ältere Freund vom Felix, hin. Da kann ich die Mutter kommende Woche mal ansprechen.“ „Prima, Bettina. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: „Schüler als Erfinder“. Bei diesem Projekt müssen wir ganz besonders darauf achten, dass es in die Zeitungen kommt, damit lokal und regional die Eltern das lesen und ihren Kindern von TheoPrax erzählen.“

Durlacher Blatt, 27.11.1997