20. Spanferkel-Spirit
Anke huscht über den breiten Flur des Fraunhofer Instituts für Bauphysik. Es ist weiterhin Corona in diesem Frühjahr 2022. Viele der Kolleginnen sind noch im Home Office. Flüchtig winkt sie Oliver zu, der durch die Scheibe des Nachbarbüros zu sehen ist und mit Kopfhörern lebhaft mit einem Projektpartner telefoniert. Heute hat sich eine Journalistin angekündigt. Sie schreibt ein Sachbuch zur Geschichte der Nachhaltigkeit in Deutschland. „Schon komisch“, geht es Anke durch den Kopf, als sie sich in der Teeküche einen Kaffee macht. „Plötzlich wollen alle etwas über Nachhaltigkeit wissen. Dabei liegen die Ursprünge der GaBi, ja dieser Abteilung, schon länger als 30 Jahre zurück.“ Anke schaut in die kleinen Schaumbläschen des Kaffees. Im Studium bereits hat sie gelernt, jedes Ding gedanklich in seine Einzelteile zu zerlegen. Doch für einen ganzheitlichen Blick auf die Welt reicht das nicht. Sie weiß, dass dazu immer noch viele andere Faktoren gehören, die man nur schwer messen kann, die aber mitgedacht werden müssen. Welche Reise hat dieser Kaffee schon hinter sich? Wie wurde er transportiert? Wie könnte man die Verpackung nachhaltiger gestalten? Dann muss Anke schnell in sich hinein grinsen. Wenn sie diese Gedanken jetzt laut äußern würde, dann würde ihre Mutter sie wieder schelmisch „Frau Professor“ nennen. Denn häufig macht sie sich Gedanken über Themen, die viele weniger interessieren. Das war schon in der Kindheit so.
Anke nimmt die Tasse und geht zurück ins Büro. Sie winkt auf dem Weg noch schnell Lukas, Karsten und Conny zu, die jeweils in ihren Büros in die Bildschirme vor ihnen vertieft sind. Sie sollen nachher auch bei dem Gespräch mit der Journalistin dabei sein. Ob wohl auch Professor Reiter dabei sein wird bei dem Gespräch? Sie hatte von ihrem Chef, Thilo, so etwas gehört. Es würde sie freuen. Sie hat Reiter zum ersten Mal im letzten Jahr bei der großen Life Cycle Management Konferenz kennen gelernt. Am Anfang fühlte sie sich fast etwas fehl am Platze. Die alten „GaBianer“ kannten sich untereinander alle. Aber sie als Doktorandin und die ganz neuen wissenschaftlichen Mitarbeiter sind dann schon eine neue Generation, zumindest irgendwie. Andererseits findet Anke, dass sie trotzdem viel verbindet. Man kann das kaum in Worte fassen, aber da ist ein Band zwischen allen, die etwas mit GaBi zu tun haben. Man versteht sich auf Anhieb. Man hat gemeinsame Werte. Man spricht eine gemeinsame Sprache. Und man lacht unglaublich viel. Ja, die Stimmung ist etwas, das man kaum in Worte fassen, aber deutlich spüren kann.
Mittlerweile zeigt die Uhr schon 9:30. Eigentlich hat Anke schon um 10:00 Uhr einen Termin online. Es geht um das neue Projekt. Eigentlich wäre Anke schon gern dabei bei dem Interview. Sie ist schon gespannt, was die ganz neuen Mitarbeiter über die Arbeit erzählen. Im Grunde nimmt man sich viel zu wenig Zeit, um diese Gespräche zu führen, die über die Projekte hinaus gehen. Anke setzt sich an den Rechner und öffnet noch mal einen GaBi-Ordner, der Fotos von ihrer Anfangszeit enthält. Einer trägt den Titel „Weihnachtsfeiern“. Anke muss sofort lachen. „Das habe ich schon fast vergessen“, denkt sie bei sich, während sie nicht anders kann als den Ordner anzuklicken. Sie flippt durch die Fotostrecke, die lauter strahlende Gesichter zeigt. Da sind Simon, Paul und Frank zu sehen. Auch Christine ist dabei, wie sie den anderen zuprostet. Sie alle stehen mit dicken Winterjacken im Freien, umzingelt von Unmengen an Alkohol und sind in eine dicke Rauchwolke gehüllt. Anke steigt sofort der Geruch des brennenden Holzes wieder ins Gedächtnis. „Das war wirklich unmöglich. So was würde sich heute wahrscheinlich keiner mehr trauen.“
Damals hatte Anke gerade ihren Abschluss im Maschinenbau gemacht. Klar, Maschinenbau war nicht das „typische“ Mädchenstudium, das man so kannte. Aber in ihrer Familie kannte ohnehin niemand Studieren. Ankes Mutter hat sie immer zur Selbstständigkeit erzogen. Ihr war immer wichtig, dass Anke etwas macht, das ihr Spaß macht. Der Onkel war bei einem großen Maschinenhersteller. So lernte sie, wie spannend Technik sein kann. Am Ende war es dann eine Doku im Fernsehen, die den Ausschlag gab. Da ging es um Brennstoffzellen. „Mein erstes Auto wird mal ein Brennstoffzellenwagen“, sagte sich Anke damals. Als sie sich jetzt an die alten Jugendspinnereien erinnert, muss sie erneut grinsen. Doch so gesponnen waren die gar nicht. Schließlich war schon damals abzusehen, wo es mit der Zerstörung der Erde durch den Menschen und den benötigten Maßnahmen und Technologien hingehen würde. Ankes Interesse vertiefte sich. Als sie sich dann nach passenden Studiengängen umsah, fiel die Wahl nicht schwer. Umweltschutztechnik hatte alles, was ihr Herz begehrte — Technik, Naturwissenschaften, eine gesellschaftliche Komponente. Anke wurde eine „Uschi“, nur wusste sie da natürlich noch nicht, dass schon viele zuvor diesen Weg gegangen waren und letztlich bei GaBi landeten. Doch, dass das eine so eingeschworene Truppe sein würde, das wurde Anke erst bei der besagten Weihnachtsfeier klar.
Anke war gerade einige Monate bei GaBi als HiWi. Sie teilte mit den anderen 10 das HiWi-Büro. Hier wurde viel gelacht, aber auch viel konzentriert gearbeitet. Dann stand die Weihnachtsfeier an und Anke sollte „beim Aufbau“ helfen. Das klang erst mal nicht ungewöhnlich. Die Feier sollte in den Räumlichkeiten der damaligen PE stattfinden. Als sie dort ankam, drückte ihr Simon erst mal ein Bier in die Hand. Es war kurz vor Weihnachten. Die Luft in Stuttgart war kalt und feucht. Die Uhr zeigte gerade mal kurz nach 14:00 Uhr. Das sollte ja was werden. „Komm, mir nach“, sagte Simon und spurtete vor ihr die Treppe hinauf. Hier oben war es noch kälter als auf der unteren Ebene und es zog. Als Simon vor ihr herlief auf eine offene Terrassentür zu, wurde ihr auch allmählich klar, warum es so kalt war. Draußen standen bereits weitere aus dem GaBi Gründerteam. Simon stellte sie mit seinem unnachahmlich schwäbischen Singsang und einem Klaps auf die Schulter: „Desch isch die Anke. S’isch ihre erschte Woinachtsfeier mit der GaBi.“ Während ihr dann alle freundlich zuprosteten, sah sie hinten an der Wand, warum es hier so furchtbar nach Rauch roch. Auf einem überdimensionalen Grill räucherte ein riesiges Spanferkel samt Kopf und prallem Hinterteil vor sich hin. Anke traute ihren Augen kaum…
„Anke? Anke“. Markus steht im Türrahmen und reißt Anke aus ihren Weihnachtserinnerungen. „Träumst Du? Die Journalistin ist endlich da. Aber Du kannst jetzt nicht gleich, richtig?“ Anke lässt den Blick auf die Uhr im Display des Rechners schweifen. Die Uhr zeigt 10:25. „Shit“, fährt es ihr durch den Kopf. „Ich muss gleich in den Termin. Aber ich sage kurz „hallo“. In dem Moment schiebt sich schon ein zweiter Kopf durch die Tür. Es ist Prof. Reiter. „Hi, Anke, gut, Dich wieder zu sehen. Wir hatten doch alle bei der Konferenz „du“ gesagt, oder erinnere ich mich nicht?“ Anke springt auf und grüßt Reiter mit dem nun in Corona bekannt gewordenen Fausthieb. „Ja, hallo Thomas, wir waren per „Du“. Auch die Journalistin in seinem Schlepptau grüßt freundlich und fragt, ob Anke auch Zeit hätte später. „Ich habe jetzt einen Termin,“ erklärt sie, „aber später komme ich dazu.“ Anke nimmt schnell das Headset vom Halter und wählt sich in das Meeting ein. Das neue Projekt ist einfach wahnsinnig spannend. Es geht um Plastikmüll im Meer. Ankes Aufgabe ist es, die bestehenden Datensätze noch einmal zu prüfen. Trotzdem würde sie gern Mäuschen spielen, was sich nun im Konferenzraum drei Zimmer weiter abspielt. Bestimmt gibt es noch viele Anekdoten, die ihre eigene Begegnung mit dem Spanferkel noch toppen.
Vertiefung: Ganzheitliche Bilanzierung: Ökologie, Ökonomie, Soziales, Technik und Data Science (Daniel Wehner, Matthias Fischer)
Die Mission der Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung ist es seit jeher, wissenschaftliche exzellente Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit von Technologien, Produkten und Dienstleistungen zu gewinnen und genau dort verfügbar zu machen, wo die Weichen für eine nachhaltige Zukunft gestellt werden. Das sind die vielfältigen Entscheidungen, die von uns allen in unseren verschiedenen Rollen täglich getroffen werden, ob als Privatperson oder in unserer beruflichen Tätigkeit als Entwickler, Unternehmensstrateg/in, Politiker/in oder Berater/in. Praktisch ist dafür seit der Abteilungsgründung bis heute die Verbindung der Expertise aus den Bereichen Ökologie, Ökonomie, Soziales und Technik ein entscheidender Erfolgsfaktor des GaBi-Teams, seit einigen Jahren gezielt ergänzt durch Expertise im Bereich Data Science.
Aus mehr Daten effizient bessere Nachhaltigkeitserkenntnisse gewinnen und effektiv kommunizieren
In der letzten Dekade hat sich nicht nur die Datenverfügbarkeit und damit der Rohstoff für belastbare Nachhaltigkeitserkenntnisse enorm verbessert. Auch die Werkzeuge und Methoden, um mit großen Datenmengen zu arbeiten, sind performanter leistungsstärker und nutzerfreundlicher geworden. So lassen sich heute die Arbeitsschritte der Ganzheitlichen Bilanzierung so stark automatisieren, dass auch große Produktportfolios von mehreren hunderttausend Einzelprodukten kosteneffizient analysiert und die Ergebnisse mit wenigen Klicks als Softwareanwendung passend für individuelle Rollen und Aufgaben verschiedener Unternehmensbereiche verfügbar gemacht werden können. Aber wie lassen sich solche stark automatisierten Systeme aufbauen, einsetzen und managen? Antworten liefert der „Sustainability Data Science Life Cycle“ [1], ein von der Abteilung Ganzheitliche Bilanzierung auf Basis praktischer Erfahrung aus zahlreichen Anwendungsprojekten entwickelte Standardprozess für Workflow-Automatisierung im Nachhaltigkeitsbereich.