10. An die Wand gestellt

Die Führungsriege von Daimler ist da. Eigentlich sind alle vom Automogul da, die sich um Nachhaltigkeit kümmern. Das sind trotzdem noch verhältnismäßig wenig, wenn man sich vorstellt, welche Tragweite das Thema für die Zukunft hat. Aber nicht alle sehen das so. Andreas sieht das schon seit annähernd zehn Jahren glasklar in den Daten vor sich, die sie seitdem mit GaBi gesammelt haben. Er ist von Tag 1 an die Triebfeder der GaBi. Heute ist es an ihm, die Ergebnisse der neuen Datenerhebung vor zu stellen und den Entscheidern im Konzern klar zu machen, dass Umdenken und entsprechendes Handeln nicht nur der Umwelt dient, sondern auch dem Geldbeutel. So jedenfalls sieht es Thomas, der seinen Kugelschreiber etwas nervös zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände hin- und herrollt. Andreas steht vorn am Overhead-Projektor und ist tief drin im Redefluss. Es ist ein warmer Mai in diesem Jahr 1996. Sieben Jahre begleitet ihn GaBi schon. Er hat maßgeblich das VW Projekt voran getrieben — ein Meilenstein, den keiner für möglich gehalten hatte, bis sie es doch gezeigt haben: die Ganzheitliche Bilanzierung eines gesamten Fahrzeugs. Doch das war erst der Anfang. Wirklich etwas ändern wird sich erst, wenn alle Hersteller begreifen, dass sie trotz des Wettbewerbs einen gemeinsamen Gegner haben, gegen den sie alle nichts ausrichten können: die Natur. Mit all den CO2 Emissionen sind sie maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Planet sich jährlich um 1,5 Grad erwärmt. Das alles wissen sie schon lange aus der Forschung. Neu ist, dass jetzt genau errechnet werden kann, welchen Beitrag Fahrzeugproduktion beispielsweise dazu leistet.

Andreas geht jedes der Balkendiagramme in der Präsentation im Detail und mit der nötigen Gewissenhaftigkeit durch. Nur ab und an blickt er in die Riege der Zuschauer. Da ist Dr. Schneider, der Chef der Entwicklungsabteilung. Da sind seine engsten Mitarbeiter, darunter auch eine Frau, Sybille Kunert, die gerade ihre Promotion abschließt, wie Andreas in einem Gespräch erfahren hat. Da sind auch einige typische Manager dabei, wie Andreas sie mittlerweile in den zahlreichen Gesprächen und Projekten so oft erlebt hat. Sie haben oft sehr wenig Ahnung von dem, was die GaBi-Leute wirklich machen. Aber immerhin sorgen sie dafür, dass die Projekte, so sie denn wirklich zustande kommen, auch durchgezogen werden. Neben den beiden Managern sitzt Christine, die als Hauptansprechpartnerin für die Software dabei ist, von der es mittlerweile die Version 2.0 gibt. Und daneben sitzt schon Thomas. Andreas nimmt aus dem Augenwinkel wahr, dass Thomas ungeduldig wirkt und mit trüber Miene nach vorn starrt. Für einen kurzen Augenblick treffen sich ihre Blicke exakt. Andreas lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er weiß, was er hier tut. Er kennt die Daten in und auswendig. Er hat sich vorgenommen, die Fakten hier genauso darzulegen, wie es die Analyse ergeben hat. Dann meldet sich Berger, einer der Manager: „Herr Dr. Künzel, wenn ich kurz einhaken darf. Ich kann sehr gut verstehen, dass all diese Zahlen, die Sie seit einer halben Stunde präsentieren, ihre Berechtigung haben. Aber wenn Sie uns jetzt vielleicht ein kurzes Zwischenfazit liefern könnten, was das jetzt genau heißt für die C-Klasse beispielsweise.“ Andreas rückt die Folie auf dem Overhead-Projektor kurz zurecht und schaut zu Berger. „Ich kann verstehen, dass Sie jetzt bereits ein Zwischenfazit wünschen. Ich bin mir bewusst, dass es viel Datenmaterial ist. Dennoch ist es an dieser Stelle noch etwas früh, Ihnen eine solche Schlussfolgerung zu liefern. Lassen Sie mich gerade noch die letzten wichtigen Informationen durchgehen und dann gehe ich auf Ihre Frage ein.“ Andreas schaut kurz hinter sich auf die Wand, um zu sehen, ob die Diagramme weiter scharf zu sehen sind. Dann nimmt er Anlauf, um fort zu fahren. „Andreas, tschuldigung, Andreas, bitte. Einen Augenblick,“ hört er Thomass Einwurf. „Das geht so nicht. Ich bin ja bei Dir, dass wir die ganzen Daten anschauen müssen, aber Du hast doch eben die Zahlen der C-Klasse gezeigt. Da sieht man doch eindeutig, dass man insbesondere bei den Kunststoffen einen so enormen Energieverbrauch hat, dass völlig klar ist, wie der Ersatz durch Alternativen das Ergebnis verändern würde. Nichts anderes wollte doch Herr Berger gerade erfahren, wenn ich das richtig verstanden habe. Kannst Du nicht langsam mal zur Empfehlung kommen, die wir auf Basis der Daten und der Software machen würden?“ Kaum hat Thomas das gesagt, beugt er sich demonstrativ vor und breitet die Handflächen auf dem Tisch aus. Er schaut Andreas provokativ in die Augen. Die ganze Daimler-Runde schaut zunächst auf Thomas, dann schwenken alle Augen auf Andreas. Spätestens jetzt ist allen hier am Konferenztisch am neuen Sitz des Instituts klar, dass es hier um mehr geht als nur eine Präsentation. „Thomas, danke für den Einwand. Wie ich sagte, ich möchte gern die Faktenpräsentation noch abschließen und im Übrigen kann ich die von Dir als so eindeutig abgeleitete „Empfehlung“ mit dem Ersatzmaterial nicht so unterstützen. In dem Moment scheint Thomas zu kochen. Er schaut in die Luft, verschränkt die Arme vor dem Bauch, streckt die Füße unterm Tisch aggressiv nach vorne. „Herrschaftszeiten, Andreas, wir sind doch hier nicht beim Doktorandencolloquium. Wenn Du hier Erbsenzählerei machen willst, kannst Du ja gern zu den Kollegen von den anderen Instituten hier gehen. Die sind da Weltmeister drin. Meine Güte, die GaBi ist doch genau deshalb, was sie ist, weil wir nicht nur reden, sondern machen. Ohne die Empfehlungen, die aus der Analyse folgen, hat doch keiner was davon. Hab ich recht, meine Herren? Sie sind doch hier, weil Sie was fürs Geschäft davon haben wollen? Wir sind doch da auf einer Wellenlänge. Es geht um die Umwelt, aber nicht aus illusionärem Denken heraus, sondern mit dem Anspruch, eine nachhaltige wirtschaftliche Grundlage zu haben.“ Dr. Schneider und die anderen aus der Daimler-Runde nicken kurz. Einzig Sybille Kunert hält sich mit Gesten zurück. Sie lenkt den Blick auf Andreas. Die anderen tun es ihr gleich. Sie wollen hier nicht zur Meute werden, die mithilft, den Leiter der GaBi-Abteilung auf die Schlachtbank zu führen. Offensichtlich ist es das, was sich hier gerade abspielt. Andreas zeigt sich äußerlich weiter unbeeindruckt. Innerlich jedoch spürt er, dass nun auch ihm bald der Kragen platzt. „Na gut,“ nimmt er Anlauf. „Thomas, Du willst es so. Dann sage ich es hier vor versammelter Mannschaft. Die Daten erzählen aus meiner Perspektive erstens eine andere Geschichte, als Du sie hier so abgekürzt darstellst. Es gibt meiner Ansicht nach noch ganz andere Hebel, die bislang noch keiner berücksichtigt hat und zu denen unsere GaBi, bei aller Begeisterung, auch noch nicht viel sagen kann. Und, zweitens, sehe ich meine Rolle nicht darin, hier eindeutige „Empfehlungen“ an das Management zu geben. Ich bin kein Manager, sondern Wissenschaftler. Ja, wir arbeiten hier beratend während der Datengenerierung bei unseren Kunden. Es ist aber nicht an mir, Entscheidungen vorweg zu nehmen, zumal ich diese, wie eben erläutert, auch nicht aus den Fakten ableiten kann.“

Noch bevor Andreas seinen letzten Satz beendet hat, springt Thomas auf und tigert zum Fenster. Er hat eine Faust geballt und schaut hinaus über die Dächer des Industriegebiets. Er weiß, dass er aktuell nicht in allerbester Verfassung ist, um nicht zu sagen, es geht ihm nicht gut. Das weiß auch Andreas. Sie sind in den vielen Jahren Freunde geworden, auch wenn Andreas viele Jahre jünger ist und sein ehemaliger Student. Er weiß auch, dass Andreas für GaBi brennt und hier nichts ohne ihn heute so wäre, wie es ist. Aber eines kann er zunehmend nicht hinnehmen, dass Andreas nicht versteht, dass es hier ums Machen geht, um Entscheidungen, und um eine klare Sprache. Das ist es eigentlich, was ihn am meisten stört. Er könnte aus der Haut fahren, wenn er Andreas da stundenlang seine Tabellen erklären hört. Das ist genau das, wofür er und GaBi nicht stehen. Andreas schafft es einfach auch nach all den Jahren nicht, den Punkt rüber zu bringen. Man muss den Leuten eine Geschichte erzählen, die hängen bleibt. Man muss ihnen auch klarmachen, dass sie es mit ihrer Entscheidung in der Hand haben, ob sich was beim Thema Nachhaltigkeit ändert oder nicht. Und dafür muss man auch verdammt noch mal den Arsch in der Hose haben, hier aus seinem wissenschaftlichen Schneckenhaus heraus zu kriechen und klare Handlungsempfehlungen zu machen. Zumal die Fakten nun wirklich auf dem Tisch liegen. Thomas dreht sich herum, lehnt sich mit dem Rücken ans Fenster und stützt sich hinten mit den Händen auf der Heizung auf, um nicht Gefahr zu laufen, tatsächlich mit geballten Fäusten weiter zu sprechen. „Andreas, noch einmal: Wir haben hier doch alle keine Zeit zu verlieren. Kannst Du jetzt einmal bitte nur den einen Satz sagen, dass wir zumindest was die Datenlage angeht, davon ausgehen, dass der Einsatz von Polymeren an dieser Stelle nicht nur umweltlich schädigend sondern auch nicht ökonomisch ist? Ist das wenigstens mal möglich, um hier jetzt mal voran zu kommen in der Debatte?“

Andreas hat mittlerweile den Overhead Projektor ausgemacht. Er hat das Gefühl, dass es hier schon lange nicht mehr um die Präsentation und um die Folien geht. Offensichtlich geht es Thomas um einen Showdown. Warum der ausgerechnet hier und heute stattfinden muss, versteht Andreas nicht. Genauso wenig versteht er, wie das alles so hat kommen können. Aber dass es kommen würde, das hat er schon länger gespürt. Seit vielen Monaten gibt es Reibereien. Die PE greift Aufträge ab, die eigentlich der GaBi-Abteilung an der Uni zustünden. Ein Keil geht durch die beiden Teams. Thomas verhält sich mehr wie ein Platzhirsch als ein Wissenschaftler, dem es wirklich um wissenschaftliche Erkenntnisse geht. Er vermarktet GaBi mehr als er sie hinterfragt. Wenn das überhaupt noch einer verstehen kann im GaBi Team, dann ist es Holger. Aber er hat das hier schneller erkannt als Andreas. Er ist von sich aus gegangen. Er konnte mit dem ganzen Macho-Gehabe hier nichts anfangen. Am Anfang konnte Andreas seine Kritik selbst nicht verstehen. Jetzt sieht er es eindeutig vor sich. Ihm geht es gerade genauso. Hier geht es nicht nur oder vielleicht gar nicht um die Sache. Hier geht es um Werte. Hier geht es gerade darum, dass ein paar Leute ihr Ego ausleben wollen und die wissenschaftlichen Fakten nur zu etwas gebrauchen, dass ihrem Geschäftssinn in die Hände spielt. Hier geht es darum, dass die GaBi-Software auf jeden Fall erfolgreich verkauft werden soll. Ja, sie alle wollen einen Bewusstseinswandel in den Unternehmen und in den Köpfen der Menschen. Daran besteht kein Zweifel. Aber mit der Zeit haben sich hier Muster und Denkweisen eingeschlichen, die offensichtlich nicht dem entsprechen, was Andreas als wissenschaftlich vertretbar und fair empfindet. Und vor allen Dingen hätte er es für undenkbar gehalten, dass sein eigener Chef hier solch einen Machtkampf aufführt vor einem der wichtigsten Partnerunternehmen. Es ist beschämend. Es ist unfair und vor allem anderen ist es inhaltlich, zumindest aus Andreas Sicht, auch einfach falsch.

Andreas nimmt sich einen Stuhl und setzt sich nun ebenfalls zum ersten Mal. Er rückt sich die Brille zurecht und schaut dann in die Runde. „Meine Damen und Herren. Es tut mir leid, wenn ich Sie gelangweilt haben sollte mit all den Zahlen. Wie Sie sehen, bin ich von den Daten überzeugt. Auch empfehle ich, sich ebenfalls noch die restlichen Daten anzuschauen. Diese stehen auch alle in dem Bericht, den ich Ihnen da hinten ausgedruckt habe und nach der heutigen Präsentation aushändigen wollte. Nun ist die Präsentation etwas kürzer ausgefallen. Ich bleibe inhaltlich bei allem, was ich Ihnen bis hierhin präsentiert habe. Ich schlage angesichts des Gesprächsverlaufs vor, dass wir hier für heute zum Abschluss kommen. Herr Schneider, wir haben ohnehin für kommenden Dienstag einen Termin. Ich stehe gern zur Verfügung, Ihre Detailfragen dann zu klären. Bis dahin gehe ich davon aus, werden Herr Reiter und ich unsere inhaltlichen Sichtweisen sicherlich noch einmal ausgetauscht haben. Thomas, sehe ich das recht?“ Andreas schaut nur kurz zu Thomas hinüber, der mit weit aufgerissenen Augen und völlig verschwitzt am anderen Ende der Tischrunde sitzt. Er antwortet ebenfalls ohne Andreas direkt anzuschauen. „Ist schon recht. Ist wohl das Beste.“ Dann herrscht für einen langen Moment Schweigen. Die Daimler-Mannschaft schaut ausnahmslos pickiert ins Leere auf die Tische vor sich. Schließlich ergreift Schneider das Wort. „Gut, dann, also, würde ich sagen, danken wir den Herrschaften recht herzlich für die Präsentation. Ich denke, der Vorschlag von Herrn Künzel hört sich vernünftig an. Wir sprechen also kommende Woche noch einmal. Bis dahin werden Sie sicherlich Zeit gefunden haben, intern eventuell etwas gegensätzliche Analyseperspektiven durchgesprochen zu haben. Ich bin sicher, wir kommen da alle gemeinsam doch zu einer Lösung, die uns, insbesondere dem Management, eine solide Entscheidungsgrundlage gibt.“

Die Konzerngäste stehen daraufhin alle im Gleichklang auf. Es werden kurz Hände geschüttelt. Einzig Christine bleibt noch einen Moment ziemlich betrübt dreinblickend sitzen. Dann steht auch sie auf. Im Vorbeigehen fasst sie noch kurz Andreas an die Schulter, bevor auch sie den Raum mit den anderen verlässt. Andreas geht, ohne Thomas auch nur eines Blickes zu würdigen, zurück vorne an den Rednertisch und packt die Folien zusammen. Thomas steht noch immer an der Fensterseite und schaut ihn nun provozierend an. Er scheint keinerlei Verständnis zu haben für das, was Andreas hier hatte präsentieren wollen. Noch empfindet er Wertschätzung. Im Gegenteil, die Stimmung in der Luft ist eine Mischung aus Wut, Aggression und absoluter Enttäuschung. Andreas nimmt die Papiere und macht sich zur Tür auf. „Andreas, so geht das nicht. Das geht so einfach nicht. Du musst lernen, den Leuten mal die Sachen so darzustellen, dass für sie auch was rauskommt. Ich kann das nicht mit ansehen. Du kannst froh sein, dass die nicht schon von sich aus gegangen sind. Du musst doch sehen, dass Du die GaBi so nicht weiterbringst, mal abseits von der Tatsache, dass Du hier offensichtlich Deine wissenschaftliche Kompetenz ein bisschen hoch hängst. Ich habe das Gefühl, das geht so nicht mehr, Andreas. Da muss was passieren.“ Andreas hört das alles, während er weiter auf die Tür zusteuert. Bevor er durch den Türrahmen tritt, hält er an und dreht sich noch einmal kurz um. „Du hast recht, Thomas. Das geht so einfach nicht. Und es ist schon genug passiert. Es muss nicht mehr passieren. Das hier heute war genug. Was Du hier eben gemacht hast, ist mir genug. Schon lange. Mach weiter mit Deinen Managern. Erzähl Ihnen Deine Geschichten. Ich bleibe bei den Daten. Die sind es, die die GaBi erfolgreich machen. Dafür habe ich gebrannt und werde es immer tun. Aber hier werde ich verbrannt. Das hat eben jeder gesehen. Es ist vorbei.“ „Du wirst Dir was Neues suchen?“ „Ja.“ „Gut, Du hast sechs Monate. Mehr sollten es nicht sein.“ Dann dreht sich Thomas wieder zum Fenster und Andreas verlässt den Raum. Zum ersten Mal fühlt er etwas, das er so noch nie gefühlt hat. Er bereut die viele Zeit, die er in diesen Wänden für GaBi geopfert hat. Er weiß aber auch, dass es Thomas irgendwann leid tun wird. Ehrlich leid tun. Auch wenn er es selbst heute nicht so sieht. Zumindest ist das Andreas Hoffnung. Wissen kann er es nicht. Er weiß nur, dass er ab heute einen neuen Weg einschlagen wird.

9. Reiß Dich zusammen

Es ist Dienstagmorgen, 7:00 Uhr. Reiter sitzt bereits seit einer halben Stunde in seinem kleinen Ford-Fiesta. Normalerweise telefoniert er im Auto viel, führt Personalgespräche. Aber so früh am Morgen ist dafür noch nicht die Zeit. Er ist wie jeden zweiten Tag auf dem Weg von Karlsruhe nach Stuttgart an sein Uni-Institut. Bald wird GaBi aus den aktuellen Räumlichkeiten in der Böblinger Straße ausziehen müssen, denkt er. Sie sind ja bereits zweimal in den vergangenen zwei Jahren umgezogen, aber wenn das Projekt so weiterwächst, muss der nächste Umzug erneut Luft schaffen. Wie es überhaupt weitergehen soll, das weiß Reiter auch nicht. Auf der Strecke ist schon wieder Stau, aber er hat das eingeplant. Überhaupt plant er jeden Schritt des Tages genau durch. Ohne diese enge Taktung würde er das ganze Pensum überhaupt nicht schaffen. Er leitet nun zwei Institute, das Fraunhofer ICT in Karlsruhe und das Uni-Institut in Stuttgart, dazu natürlich der normale Betrieb mit Vorlesungen und Seminaren, Personalverantwortung für 60 Mitarbeiter, sowie Hochschulgremien und Verwaltung. Am Anfang, 1993 war klar, dass er dazu nicht nein sagen würde. Der Fraunhofer-Vorstand gab ihm den Auftrag für die Neugestaltung eines Institutes. Als das Konzept gefiel, fragte man ihn, ob er das ICT in Nebentätigkeit zur Uni in Stuttgart zu einem Turnaround führen könnte. Doch was er sich da eingehandelt hat, das wird ihm jetzt erst Anfang 1994 richtig klar. Natürlich dürfen das die Jungen nicht mitkriegen, aber er kämpft. Und zwar nicht nur mit der Uni-Verwaltung und dem Wettbewerb um Ökobilanzen. Er kämpft auch mit sich, der eigenen Gesundheit.

Vor drei Monaten ging es los. Daran erinnert er sich noch gut. Es war vor einem Vortrag mit Industriepartnern. Er hatte an dem ganzen Tag noch so gut wie nichts gegessen oder getrunken. Eine Verpflichtung jagte die nächste — da ein Telefonat, da ein Treffen, da Korrespondenz, ein Diktat, eine Diplomarbeitsbesprechung… Ein ganz normaler Tag eben. Noch vor Kurzem hatte er über den Unterschied zwischen dem Tagesablauf bei Professoren und Managern in der Industrie in seinem Buch „Spurwechsel“ geschrieben, das bald fertig werden soll. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass auch der Professorentag kein Zuckerschlecken ist. Wobei man natürlich sagen muss, dass Reiter sich mindestens das dreifache Pensum eines „normalen“ Professors aufgehalst hat. Aber er kann nicht anders. Das weiß er. Es ist nicht so, dass er nicht manchmal auch gern anders wäre, mehr Freizeit hätte, mehr Zeit für die Familie. Aber er kann nicht aus seiner Haut. Und das wissen auch die Frau und die Kinder, auch wenn es nicht einfach ist. Überhaupt nichts ist gerade einfach. Aber Sorge macht ihm, was sich eben vor wenigen Monaten ereignet hat, und seitdem immer wieder. Er war also gerade auf dem Weg zu einem abendlichen Vortrag im Institut, bei dem auch wichtige Industriepartner von GaBi dabei waren, da gingen die Lichter aus. So beschreibt er es heute im Rückblick. Er ist nicht komplett umgefallen, aber fast. Er erinnert sich noch daran, dass ihm auf dem Weg zum Hörsaal plötzlich der Schweiß über die Stirn lief. Sein ganzes Hemd klebte an ihm. Gleichzeitig war ihm kalt. Sein Sichtfeld verengte sich. Plötzlich sah er alles verschwommen. Er hielt sich an der Wand fest und schaffte es irgendwie ein paar Meter zurück, um in die Toiletten zu torkeln. Dort schloss er sich erst mal ein und setzte sich auf den Klodeckel. Der Schwindel nahm zu und kurz war ihm, als würde er komplett bewusstlos. Alles war schwarz um ihn. Er spürte nur, wie der Schweiß weiter seinen Rücken und seine Hände hinunter lief. Er lehnte den Kopf seitlich an die Trennwand an, die die Toilette von den Pissoirs trennte. Er hörte, wie jemand zum Pinkeln hereinkam. Er hatte aber keine Kraft, die Aktentasche zu halten, die vor ihm auf dem Boden stand und von außen zu sehen sein musste. Er hatte überhaupt keine Kraft mehr in dem Moment.

Eyerer, Peter. Spurwechsel, 103–105.

Nach einigen Augenblicken, die Reiter vorkamen wie Stunden, war der Spuk vorbei. Er konnte wieder besser sehen. Der Schweiß ließ nach. Reiter schaute zuerst auf die Uhr: 18:20. Vor fünf Minuten hätte sein Vortrag anfangen sollen. Aber Aufstehen ging einfach noch nicht. Er wartete noch einige Minuten, bis er sicher wieder auf den Beinen stand. Offensichtlich war draußen keiner. Er öffnete die Tür und warf sich am Waschbecken Wasser ins Gesicht. Er war noch kreidebleich. Dann richtete er sich die Krawatte, setzte die Brille wieder auf, nahm die Aktentasche und steuerte auf den Hörsaal zu. „Entschuldigen Sie meine verehrten Damen und Herren, ich wurde kurz aufgehalten“, begrüßte er die Anwesenden im Vorbeigehen. Dann nahm er die Overheadfolien aus der Tasche und seine Notizen und begann zu reden als wäre nichts gewesen. Er versprühte Begeisterung und Entschlossenheit, so wie man ihn kannte. Die Zuhörer waren fasziniert vom Fortschritt des Gabi-Projektes und vom kontinuierlichen Wachstum der Datenbank. Wie es in ihm drin aussah, das konnte hier keiner ahnen — das sollte niemals jemand ahnen. Dann wäre er erledigt. Dann wäre auch die GaBi in Gefahr. Natürlich hatte er gute Leute, auf die 100% Verlass war. Aber sie brauchten ihn noch. Sie standen noch immer am Anfang. Keiner wusste so recht, wie es genau weitergehen würde, ob GaBi wirklich dauerhaft mehr sein würde als nur eine Forschungsmethode, also ein richtiges tragfähiges Produkt.

Das alles geht ihm nun im Kopf herum, als er vor sich auf die roten Bremslichter im Stau vor Stuttgart schaut. Damals hatte er gehofft, dass dies ein Einzelfall war, eine kleine gesundheitliche Eskapade. Er hatte sich am Tag danach auch gleich zum Hausarzt begeben. Der überwies ihn an einen Kardiologen. Der machte alle möglichen Tests, aber er fand nichts. „Sie sollten weniger arbeiten“, hatte er nur gesagt. Dafür erntete er bei Reiter nur ein müdes Lächeln. Er war überzeugt, dass da mehr dahinter steckte. Vielleicht war es ein unentdeckter Herzinfarkt oder ein Schlaganfall. Er hatte schon alle möglichen Fälle von Fehldiagnosen und nicht erkannten Erkrankungen gehört. Aber auch die anderen Ärzte fanden nichts. Doch das änderte nichts an den plötzlich auftretenden Attacken. Sie wurden immer schlimmer, kamen immer öfter. Und selbst in diesem Moment hier im Auto, wenn er nur daran denkt, merkt er, wie sich sein Hals zuschnürt. „Jetzt reiß Dich mal zusammen“, sagt er laut zu sich selbst. Im Auto kann ihn schließlich niemand hören und auch nicht für verrückt erklären. Aber bedenklich ist es schon. Er will sich jetzt aber konzentrieren. Nachher steht ein Treffen mit einem Automobilkunden und Andreas an. Offensichtlich gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen zu einer Studie. Da muss er alle sieben Sinne beisammen haben, um hier zu einer Lösung zu kommen, damit das Projekt weitergehen kann.

8. Sie sind raus

„Ja, Thomas, genau. Du kommst bitte zur Filiale der Sparkasse Stuttgart um 11:00 Uhr morgen, wenn das irgendwie geht. Es geht um die Zukunft der PE bzw. dessen, was noch zu retten ist. Mehr kann ich Dir gerade nicht sagen dazu.“ Franks Stimme am anderen Ende der Leitung klingt teils zerknirscht, teils in Eile. „Ist schon recht, Frank“, erwidert Thomas ebenso kurz und bündig. „Ich werde da sein. Soll ich noch was mitbringen, irgendwelche Unterlagen?“ „Nein, brauchst Du nicht, es liegt alles vor.“ „Ok, danke. Bis morgen“. Thomas legt den Hörer auf und starrt noch einen langen Moment über die Schreibtischkante hinaus ins Leere. So recht glauben, kann er die Ereignisse der letzten Monate noch immer nicht. Alles ging so schnell und doch fragt er sich, ob er zu lange nicht hat sehen wollen, wie alles anfing. Thomas will aufstehen, aber seine Beine fühlen sich an wie Blei. Er ist bekannt als der Macher, dem immer alles gelingt. Er ist derjenige, der immer ein gutes Händchen fürs Personal hat, der den Menschen vertraut, die ihm vertrauen. Und nun das. Die PE ist am Ende. Und er kann nicht sagen, dass er dafür gar nichts kann.

Alles ging schleichend los. Er hatte schon lange gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte zwischen der PE und dem IKP. Dabei fing alles so gut an. Nach den Anfängen der PE am heimischen Küchentisch kam Auftrag über Auftrag rein. Bald gab es genug Kapital, um eine kleine Wohnung im gleichen Haus anzumieten, die fortan an als Büro dienen würde. Bald reichte auch die Mitarbeit in Form von selbstständiger Tätigkeit durch die Studierenden und Doktoranden nicht mehr. Es mussten Leute eingestellt werden und vor allen Dingen konnte Bettina bei aller Leidenschaft und Arbeit, die sie investierte, alles nicht mehr allein stemmen. Es musste ein Geschäftsführer her. Jens Buchholz bot sich hierfür an. Der smarte und talentierte Nachwuchswissenschaftler war Thomas schon in den Lehrveranstaltungen aufgefallen. Er war nicht nur akademisch gut, er war ein Macher, und zwar auch und gerade im unternehmerischen Sinne. „Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht am Institut sind, Herr Buchholz?“, hatte ihn Thomas eines Nachmittags nach der Vorlesung gefragt. „Ich habe bereits eine eigene kleine Firma, die Dienstleistungen im Bereich Energieeffizienz und Verfahrenstechnik anbietet, Herr Professor“, war seine Antwort. Daraufhin hatte Thomas ihn auf GaBi aufmerksam gemacht. Buchholz war interessiert, leistungsfähig und er brachte GaBi voran. Letztlich lag es auf der Hand, ihn zum Geschäftsführer der PE zu machen, zumindest nach einer ersten Zeit der Bewährung.. Alle anderen in der Abteilung waren zwar auch Macher, aber keiner hatte bislang Erfahrung in der Geschäftsführung. Und zu Anfang lief auch alles in der Zusammenarbeit gut, bildete sich Thomas zumindest ein. Ob er das heute noch so sehen würde, ist eine andere Frage.

Bald bemerkte er dann aber, dass Spannungen entstanden. Buchholz wurde überambitioniert. Nein, er wurde ganz und gar wettbewerbsorientiert und die Grundhaltung von Kooperation, die Thomas immer in den Vordergrund gestellt hatte, kam abhanden. Buchholz wollte die PE mit seiner zielstrebigen Art voran bringen, keine Frage, aber er tat das schließlich auf Kosten der GaBi-Abteilung am IKP. Das ging nicht und das ließ Thomas ihn auch immer öfter wissen, wenn die Stimmung mal wieder angespannt war. „Jens, Du kannst nicht noch einen Antrag bei der EU einreichen im Wettbewerb zum IKP. Ihr tretet doch in direkte Konkurrenz. Kümmere Dich um die Industrie, da gibt es genug zu holen“, hatte Thomas ihm immer und immer wieder geraten. „Was soll das, Du bremst doch den Erfolg der PE? Soll die EU doch entscheide, wer von uns den Job besser machen kann und zu welchem Preis“, gab der zurück. „Jens, kannst Du Dich bitte mal am Riemen reißen? Es sollte Dir doch klar sein, dass sie PE ohne die Forschungsgrundlagen des IKP keine Chancen hätte, ja, noch nicht mal existieren würde. Thomas wurde zunehmend ungeduldiger und aufbrausender in diesen Diskussionen, die sich seit 1993 schon zu häufen begannen. Da gab es das Projekt GaBi noch ncht einmal fünf Jahre. „Natürlich sehe ich die Forschung als Alleinstellungsmerkmal, Thomas, aber die Software gehört der PE. Und die Software ist für den Kunden interessant. Ohne die kann er mit GaBi nichts anfangen, vergiss das nicht. Das war schließlich Deinem Weitblick zu verdanken, das überhaupt so früh mit Software anzugehen.“ Mit solchen Sätzen versuchte Buchholz Thomas immer Honig ums Maul zu schmieren. Damit kam er aber nicht durch. „Jens, ich sage es Dir jetzt noch einmal. Es gibt eine Regel, die besagt, dass die PE 1/3 öffentliche Projekte und 2/3 Industrie zu machen hat und das IKP umgekehrt. Dabei bleibt es. Und wenn Du Dich daran nicht hältst, dann wird das den Graben zwischen IKP und PE in einer Weise vertiefen, die ich nicht verantworten kann.“

Thomas steht vom Schreibtisch auf und geht zum Fenster, um den Blick über die anderen Bürogebäude schweifen zu lassen. Diese Diskussion gab es zuhauf. Wenn es um Verantwortung geht, dann hat Thomas das Wort immer besonders ernst genommen. Aber scheinbar hat er die Verantwortung einer seiner engsten Mitarbeiter überschätzt. Aber so einfach schwarz/weiß kann man es auch nicht sehen, findet er. Es gab genügend objektive Kriterien, die Buchholz für die Position ausgezeichnet haben. Auch menschlich schien er rein zu passen und akademisch sowieso. Aber er wollte einfach zu viel. Vielleicht hatten sie das gemeinsam. Thomas wollte auch immer sehr viel — vielleicht zu viel. Nun kamen zu viele schlechte Nachrichten in zu kurzer Zeit. Erst missbrauchte ein enger Mitarbeiter des Instituts sein Vertrauen, indem er Gelder veruntreute. Nun drohte die Geschäftsführung von Jens und seine komplexen Firmenverflechtungen, das ganze GaBi-Projekt aufs Spiel zu setzen. „Siehst Du nicht, dass das nicht der Richtige für uns ist? Zieht sich erst mal ein fettes Mercedes Cabrio auf Geschäftskosten, um hier einen auf dicken Maxe zu machen?“, hatte ihn Frank erst vor einigen Wochen gewarnt. Aber Thomas hatte nicht hören wollen, nicht sehen wollen. Vielleicht hatte er sich auch einfach nicht eingestehen wollen, dass er diesmal falsch lag. Er hat sich geirrt. Sind Fehler nicht menschlich? Wieso gestand er anderen immer Fehler ein aber sich selbst nicht?

Es ist 10:50 Uhr als Thomas am Tag danach in die Tiefgarage der Sparkasse fährt. Er ist bewusst nicht viel früher eingetroffen. Er möchte diesen Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen und auch davor möglichst wenigen Leuten begegnen. Überhaupt weiß er gar nicht genau, was eigentlich gleich besprochen wird. Neben ihm parkt ein weiteres Auto ein. Simon Leder springt aus der Fahrerseite und erkennt natürlich Thomas Auto. Thomas öffnet die Tür und steigt aus. „Guten Morgen, Thomas“, grüßt Leder und ist sichtlich um Normalität bemüht. „Weißt Du, Simon, was da jetzt genau besprochen wird? Ich will das wissen. Habe keine Lust auf Geheimniskrämerei.“ Simon und er gehen gemeinsam auf den Aufzug zu, der sie direkt in die Vorhalle der Bank bringen wird. „Thomas, warte einfach noch die paar Minuten, dann wird der Typ von der Bank alles erklären. Ich kann es Dir nicht allein erklären. Wir hatten bereits einige Gespräche mit denen und jetzt scheint zumindest eine Lösung gefunden, wie wir noch was retten können. Schau mal, Frank und Paul sind auch schon da.“ Die Männer schütteln sich flüchtig die Hand. Dann kommt auch ein mit steifem Kragen und braunem Anzug gekleideter Banker dazu, der sich mit Müller vorstellt. „Meine Herren, bringen wir es hinter uns“, fordert er die Gruppe mit eine Geste auf, in das Besprechungszimmer zu treten. Darin stehen hölzerne Tische in einem U geformt. Auf jedem Tisch sind kleine Wasserfläschchen und Gläser positioniert. Thomas wird keines anrühren. Er möchte hier eigentlich nur noch weg.

„Meine Herren, ich freue mich, dass Sie alle so kurzfristig erscheinen konnten“, leitet Müller das Gespräch ein und öffnet vor sich eine grüne Laufmappe voller Eselsohren. Darin steckt ein Stapel, auf dem Thomas schräg von der gegenüberliegenden Seite der Konferenztische nur das Logo der PE erkennen kann und einige Stempel. Müller schaut in die Runde, als wolle er Frank oder Simon auffordern, etwas zu sagen. Schließlich fasst sich Paul ein Herz: „Also Thomas, wir danken Dir nochmals, dass Du so schnell zu einem Gespräch bereit warst. Herr Müller und wir, die Gruppe von acht GaBianern, haben in den letzten Wochen oft und lange zusammen gesessen. Wir sind alle Unterlagen durch, die es zum Geschäft der PE und den beiden Gesellschaften von Jens gibt. Wir haben jeden Stein umgedreht und die Bank war ein sehr kooperativer Partner.“ Thomas fährt bei diesem Satz innerlich fast aus der Haut. Wie kann eine Bank ein kooperativer Partner sein, wenn eine Insolvenz in vollem Gange ist, fragt er sich. Aber er hält an sich. Zwingt sich, Paul weiter zuzuhören. „Schließlich sind wir zu einer Lösung gekommen, die für alle die Beste scheint. Das wird Dir Herr Müller jetzt erklären. Bitte Herr Müller.“

Müller zutzelt sich noch einmal die Krawatte zurecht und ordnet noch einmal die Unterlagen vor sich, bevor er zu sprechen beginnt. „Danke, Herr Werner, für die wertschätzenden Worte zu Eingang. In der Tat ist es so, dass wir ebenso an einer Lösung interessiert sind. Um die Ausgangslage noch einmal so kurz wie möglich zusammen zu fassen: Die drei von Jens Buchholz als Geschäftsführer geleiteten Gesellschaften Sinis 1, Sinis 2 und PE sind insolvent. Grund hierfür ist allem voran die Nichterfüllung eines Großauftrags seitens der Sinis 1 für den Heizungskunden Suredub AG. Hierdurch ist ein Schaden in Höhe von 200.000 D-Mark entstanden, die die Sinis nun zurückzahlen muss. Da die Gesellschaft allerdings bereits im Vorfeld finanzielle Einbußen hatte und die PE im Verbund ebenfalls haftet, betrifft der Schaden alle Gesellschaften. Sinis 1 und Sinis 2 haben keine finanziellen Ressourcen. Der Schaden wirkt sich also auf alle Gesellschaften aus. Sprich, alle drei Zweige sind zahlungsunfähig. Unsere Experten haben daraufhin eingehend analysiert, welche Geschäftszweige noch die Chance haben, im Falle von Investitionen seitens unserer Bank oder weiterer Investoren, sich wieder aus der Krise heraus zu entwickeln. Hierbei ist einzig und allein die PE zukunftsfähig, so jedenfalls unsere Einschätzung auf Basis der Zahlenlage. Die PE verfügt über ein hohes Auftragsvolumen und ein tragfähiges Geschäftsmodell. Sie ist aufgrund der unglücklichen organisatorischen und finanziellen Verzahnung der Gesellschaften, ebenfalls maßgeblich verschuldet durch den bisherigen Geschäftsführer, unverschuldet in diese Situation hinein gezogen worden. Wir sehen hier aber Wege und Möglichkeiten, sie noch zu retten.

Thomas hat während Müller sprach keine Miene verzogen. Er hat Müller nur starr in die Augen geblickt und manchmal den Blick über die GaBi-Gruppe schweifen lassen. Die wichen ihm aus. Nun schaut er auf den Bleistift hinunter, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hin und herrollt. Es herrscht Schweigen. „Gibt es hierzu erst einmal Fragen?“, gibt Müller in die Runde. „Ja, das ist ja alles schön und gut, aber was heißt das jetzt? Ich entnehme daraus, dass es mit der PE trotz aller Schwierigkeiten weitergehen kann, Herr Müller. Ist das richtig?“, will Thomas wissen. Müller nickt kurz, verzieht daraufhin aber auch gleich wieder das Gesicht. Zu einer klaren Antwort, wie sie Thomas fordert, scheint er nicht bereit zu sein. Er schaut rüber zu Leder und Frank. Letzterer fasst sich ein Herz. „Thomas, ja, das stimmt, aber so einfach wie vorher weitermachen geht es nicht. Es gibt ja die ganzen Schulden. Also, was wir uns daher überlegt haben, also wir acht aus dem GaBi-Kernteam, dass wir an die PE glauben und sie weiterführen wollen. Das heißt auch, so ist es mit Herrn Müller und der Bank abgesprochen, dass wir die Schulden übernehmen. Das heißt jeder von uns springt mit einem höheren Geldbetrag in die Bräsche. Dafür gibt uns die Bank Kredite. Dann gehört die PE uns.“

Thomas schaut zunächst den anderen um den Tisch in die Augen, dann zurück zu Müller. „Ja, kann mir dann mal bitte einer sagen, warum hier jetzt alle schauen wie auf einer Beerdigung. Habt Ihr das Geld nicht zusammen? Oder ist ein Haken dran? Was soll das jetzt hier? Ihr wisst doch, dass ich der Letzte bin, der die PE aufgeben würde. Natürlich finde ich das toll, dass Ihr das machen wollt. Ich glaube an die GaBi und wir haben ja Geschäft. Dass ich mich im Buchholz getäuscht habe und der seine ganzen Firmen nicht unter einen Hut gebracht hat, das habe ich ja zugegeben, das tut mir leid. Da kann ich nichts mehr dran ändern. Meinen Segen habt Ihr, das Steuer wieder rum zu reißen, das machen wir gemeinsam, ist doch klar.“ Thomas beendet den Satz und wartet auf ein Echo. Aber es kommt erst einmal nichts. Dann fasst sich Stefan ein Herz. Er hatte bislang noch überhaupt nichts gesagt. „Thomas, genau das ist der Punkt. Das mit dem „gemeinsam“, das wird nicht gehen. Du bist raus.“ Jetzt herrscht betretenes Schweigen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Irgendwo draußen auf dem Flur gluckert eine Kaffeemaschine. Draußen auf dem Parkplatz schreit ein Kind. Thomas nimmt all diese Eindrücke wahr, aber im Kopf ist nur Leere. Er nimmt all seine Kraft zusammen, um ruhig zu klingen. „Was heißt das „raus“?“

Müller, der dem Gespräch in den letzten Minuten nur gefolgt ist, macht sich bereit zu einer Antwort. Das scheint wieder sein Part zu sein. Wann immer es ums Geld und Paragraphenreiterei geht, ist er gut vorbereitet. „Nun, Herr Reiter. Gut, dass Sie so konkret fragen. Wir Ihre Kollegen bereits zusammengefasst haben, sind wir bereit, den Neustart der PE mit zu tragen, sofern die Schulden der insolventen Gesellschaften beglichen werden. Was Ihr Kollege mit „raus“ meint, ist, dass als Gesellschafter keine Kosten auf Sie zukommen. Sie brauchen nichts zu bezahlen. Allerdings ist das noch nicht alles. Die PE kann mit neuen Inhabern nur weitergeführt werden, wenn die alten Gesellschafter raus sind. Damit meine ich — ganz raus. Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie als Gründer der PE das wahrscheinlich nicht gern hören. Aber so sind die Regeln.“ Thomas lässt nochmals Revue passieren, was ihm gerade eröffnet wurde. Blitzschnell fahren ihm all die Bilder aus den vergangenen Jahren durch den Kopf, die Treffen in der alten Wohnung, Bettinas Engagement, die vielen Durchbrüche. Er hat die PE immer als ein Erfolg aller Mitarbeiter betrachtet, keine Frage. Und doch war es auch sein Baby. Es war seine Lösung, um die Mitarbeiter anständig zu bezahlen, und zwar nicht zu einem Hungerlohn wie in der Uni. Und nun das. Nun schmeißen ihn im Prinzip genau diese Mitarbeiter aus der eigenen Firma. Thomas weiß, dass das unter den gegebenen Umständen ungerecht klingt, aber so fühlt es sich an.

Müller öffnet die kleine Wasserflasche und schenkt sich etwas ein. Dann schaut er rüber zur GaBi-Gruppe. Er erwartet, dass einer der anderen noch etwas sagen möchte. Aber da kommt nichts. Dann schaut er erneut rüber zu Thomas. Der starrt nach unten auf den Notizblock vor sich. Man kann in diesem Moment schwer in ihn hinein schauen. Schließlich setzt Müller an, das Treffen zu einer Entscheidung zu führen. „Herr Reiter, worum es nun geht, ist im Prinzip einfach: Wir benötigen lediglich…“ In diesem Moment unterbricht Thomas, allerdings mit sehr gefasster und ruhiger Stimme. „Herr Müller, wir können das abkürzen. Sie wollen mir jetzt sagen, dass Sie meine Zustimmung auf dem Blatt Papier brauchen, dass da aus Ihrer Mappe lugt. Ist das richtig?“ Müller nickt. „Gut, das können wir abkürzen. Sie, ihr, habt meine Zustimmung unter einer Bedingung. Ich möchte, dass TheoPrax, d.h., die Stiftung, eine Spende von 10.000 Mark erhält, von allen von euch gemeinsam. Ihr könnt es in mehreren Raten über mehrere Jahre zahlen. Ich möchte euch nicht belasten. Ich möchte auch nichts für mich, nur für die Stiftung. Das ist meine einzige Bedingung. Dann bin ich raus. Ich sehe, es gibt keinen anderen Weg. Ich hätte mich zwar gefreut, wenn ich vorher eingebunden gewesen wäre, aber anscheinend ist das nicht gewünscht gewesen oder nicht üblich. Was auch immer. Es ändert am Ergebnis nichts. Lasst es uns abschließen.“

Die letzten Minuten des Treffens vergehen in Stille. Papiere werden über die Tische geschoben, Unterschriften geleistet, am Ende betreten Hände geschüttelt. Als alle sich erheben, möchte Frank für einen Moment gern Thomas umarmen und ihm sagen, wie leid ihm das alles tue, es aber das Beste für die Firma sei. Aber er tut es nicht. Es scheint hier nicht der richtige Ort. Allen war eben die Überraschung anzumerken, wie schnell es nun gegangen sei. Eigentlich hatten sie damit gerechnet, dass Thomas mehr Fragen stellen würde oder auch gar nicht einverstanden sein würde. Aber es war anders gekommen, im Grunde leichter. Aber leicht fühlt sich das alles wahrlich nicht an. Vor allem auf ihnen, den neuen Gesellschaftern, lastet nun alles. Sie haben mit einem Schlag Schulden im fünfstelligen Bereich. Ja, sie glauben an GaBi, an den gemeinsamen Erfolg. Sie kennen ihre Stärken. Sie wollen etwas erreichen und sie wissen, dass sie für etwas Großes arbeiten, nämlich nichts weniger zu tun, als die Verschmutzung des Planeten zu stoppen. Aber einfach wird das nicht. Und einfach ist es auch nicht, Thomas nun zu sehen, wie er mit hängenden Schultern Richtung Aufzug geht. Nicht einmal 20 Minuten hat das alles hier gedauert, auch wenn es ihnen teils vorkam wie eine Ewigkeit. Dieses Treffen werden alle Anwesenden niemals vergessen, da sind sie sicher. Sie hoffen nur, dass sich die Verantwortung, die damit einhergeht, irgendwann auszahlen wird.

7. VW-Golf Bilanz — ein Meilenstein

Andreas sitzt seit Tagen im Büro vor dem Computer. Die anderen fangen schon an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. „Andreas, nun lass doch auch mal gut sein, Du bist schon so verbissen geworden,“ sagt Christine, als sie sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten macht. Auch Paul schaut leicht besorgt und nicht mit der üblichen Ironie vom Schreibtisch gegenüber. „Das sagt die Richtige“, gibt Andreas zurück. „Du musst Dich mal sehen, wenn Du an GaBi programmierst. Da bist Du auch nicht gerade ein Tischfeuerwerk an Gelassenheit. Außerdem geht es hier nicht um irgendeine Werkstoffbilanz. Es geht um die größte und bahnbrechendste Bilanz, die wir bislang gemacht haben.“ Andreas schaut kaum vom Bildschirm hoch als er das sagt. Fast scheint es, er würde das alles mehr sich selbst erzählen als den Kollegen im Raum. Doch das ändert nichts daran, dass jedes Wort davon richtig ist. Sie alle haben schon unzählige Werkstoffe bilanziert. Doch am Beispiel des VW Golf können sie erstmals an einem ganzen Produkt, das auch noch jeder in Deutschland kennt und etwa acht Millionen Deutsche vor der Tür stehen haben, zeigen, was so ein Auto wirklich „kostet“ — und zwar von der Produktion bis zur Entsorgung. Das hat in Deutschland noch keiner gemacht und es ist der Beweis, dass das, woran sie seit über vier Jahren arbeiten, der Schritt in die Zukunft der Nachhaltigkeit ist. „Ist Markus schon zurück mit den Lackdaten?

Wo steckt der denn? Herrgott noch mal, kann hier auch einmal jemand seine Arbeit gewissenhaft machen und sich an Absprachen halten? Verflucht noch mal.“ Andreas haut noch viel härter in die Tasten während er das sagt. Er hat gar nicht bemerkt, dass Christine bereits wieder mit Kaffee zurück ist. Sie stellt die Tasse neben ihn auf den Tisch, allerdings mit gehörigem Abstand zur Tastatur. Sie will verhindern, dass Andreas in der erhitzten Stimmung die Tasse umwirft. „Du hast auch schon mal danke gesagt,“ erinnert Christine Andreas als sie zurück an ihren Platz läuft, um sich wieder der GaBi-Software zu widmen. „Was?“ Andreas schaut kurz hoch zu ihr und bemerkt den dampfenden Kaffeebecher neben sich. “Ach so, ja, danke”, grummelt er. “Weißt Du, wo der Müller ist? Das gibt es doch gar nicht. Er wollte mir doch längst die Lackdaten gegeben haben.“ Christine nimmt die Finger von ihrer Tastatur und atmet kurz durch. Dann schaut sie auf ihre Armbanduhr. „Andreas.“ Keine Reaktion. „Andreas, kannst Du mir bitte mal eine Minute gerade zuhören?“ Andreas fährt zunächst mit dem Tippen seines Papiers fort. Dann wird er doch von der Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme abgelenkt. Er unterbricht und schaut sie fragend an. „Andreas, es ist jetzt 20:41 Uhr. Markus ist heute schon bis nach 19:00 Uhr geblieben. Er fängt jeden Tag hier oft noch vor 6:00 Uhr an, damit er am späten Nachmittag seine Kinder wenigstens noch eine Stunde sieht. Das hat er von Anfang an so gesagt und das hast Du auch immer für richtig gehalten. Andreas, wenn Du Dich hier ins Grab arbeiten willst, dann ist das Deine Entscheidung. Und ja, wir alle machen da meist auch mit. Denn das ist unsere Entscheidung und allen hier macht es ja auch Spaß. Aber wenn Du Dir mal die Jüngeren anschaust, dann weiß ich nicht, ob das auf Dauer die Lösung sein kann, dass wir hier gemeinsam mit unserem Workaholictum alle überfordern und Du sie dann auch noch anschnautzt, obwohl sie schon bei Weitem über ihre Grenzen gehen.“ Andreas hat während Christines Worten den Blick nie vom Bildschirm gleiten lassen. Man merkt ihm aber an, dass die Worte gesessen haben.

Für den Rest des Abends herrscht, wie man es kaum kennt bei GaBi, eisernes Schweigen. Gegen 22:00 Uhr fährt Christine den Rechner herunter. Da ist Andreas schon bei weit über der Hälfte des Aufsatzes angekommen, den er heute wie ein Besessener zur VW-Bilanz vorangetrieben hat. Und er ist noch lange nicht fertig. Noch einige Male blitzen Christines Worte von vorhin auf. Doch er weiß, was er tut und er weiß auch, dass bislang jeder Fortschritt bei GaBi mit harter Arbeit verbunden war. So wird es auch bleiben und die VW-Bilanz ist ein maßgeblicher Schritt in die Zukunft. Als sie vor mehr als drei Jahren mit der Datenbank begannen und das erste Kotflügelprojekt an Land zogen, hätte niemand für möglich gehalten, das solch eine komplexe Bilanz bis heute möglich wäre. Andreas hat schnell daran geglaubt, als er das Potenzial sah, das insbesondere durch die Software ins Spiel kam. Zunächst war GaBi ja gar nicht als Produkt für Kunden konzipiert gewesen. Sie brauchten das Instrument, um die Bilanzen zu erstellen. Als dann die ersten Automobilhersteller Interesse an der Software zeigten, war der Wert der Software als maßgebliche Säule der Beratungsarbeit bestätigt. Nach wie vor würde es aber immer darauf ankommen, dass GaBi nicht ohne wissenschaftliche Beratung funktioniert. Nicht umsonst hat Andreas viele Jahre das Handwerk des Ingenieurswesen verbunden mit all den naturwissenschaftlichen und mathematischen Grundlagen erlernt und vertieft. All das fließt jetzt in dieses Papier, das Teil seiner Dissertation werden wird.

Als Andreas die letzte Zeile getippt hat, ist die Sonne über Stuttgart bereits aufgegangen. Die Uhr über der Tür zeigt 6:23. „Die Zusammenfassung und das Literaturverzeichnis mache ich morgen“, sagt er sich. Um ihn herum stehen unzählige Kaffeebecher. Andreas steht auf, um die Deckenleuchte auszumachen, die ihm geholfen hat, die Nacht zum Tag zu machen. Als er die Becher einsammelt und sich auf den Weg zur Teeküche macht, begegnet ihm bereits Markus auf dem Flur. „Andreas, guten Morgen, bist ja auch schon da“, begrüßt er ihn. „Hmmm“, gibt Andreas zurück. „Bin noch da.“ Markus geht ins Büro und fährt den Rechner hoch, wie er es eigentlich jeden Tag noch allein hier tut. In diesen frühen Morgenstunden gehört das Büro meist ihm allein. Er hat sich von Beginn an entschieden, das GaBi-Workaholic-Dasein nicht abfärben zu lassen. Das würde ihm seine Frau nie verzeihen. Aber vor allem würde er es sich selbst nie verzeihen. Die Kinder sind nur einmal klein. Und verlorene Zeit mit den Menschen, für die man arbeiten geht, kann man nicht wiedergutmachen. Das war für ihn immer klar. Er versteht, dass die anderen im GaBi-Team dafür manchmal wenig Verständnis haben. Aber die meisten von ihnen haben auch noch keine Familie. Markus dreht sich kurz im Bürostuhl um und blickt auf die drei Fotos von Max, Luisa, und seiner Frau Beate, die hinter ihm auf dem Aktenregal stehen.

Mittlerweile ist Andreas zurück mit einer frischen Tasse Kaffee und hat auch Markus eine mitgebracht. „Du, Markus“, beginnt er in einem Ton, der irgendwo zwischen gezwungener Gelassenheit und Entschuldigung liegt. „Ich, hm, also ich wollte Dir noch was sagen.“ Markus blickt Andreas erwartungsvoll an, während er an der heißen Kaffeetasse pustet. „Ja, was gibt es?“ „Also, Markus…“. Andreas hält inne. „Christine hat gestern…“ „Ja, was hat Christine gestern gesagt oder gemacht?“ Andreas schaut kurz aus dem Fenster, dann dreht er sich wieder um zu Markus und fährt in seiner üblichen professionellen Tonlage fort, die eben ganz aus den Fugen geraten zu sein schien. „Ach, nichts, ich wollte Dich einfach nur nach den Daten für die Lackierung fragen. Die müssen noch in den Aufsatz, den ich gerade fertiggestellt habe. Beziehungsweise habe ich jetzt die vorläufigen Daten rein genommen, aber ich drucke es einfach gerade aus und dann kannst Du handschriftlich durchgehen und korrigieren, wenn das nicht die aktuellen sind.“ Markus nickt. Für einen Moment hätte er schwören können, dass Andreas etwas ganz anderes sagen wollte. Aber da schien er sich geirrt zu haben. „Klar, mache ich. Die Daten überprüfe ich heute Morgen eh noch mal und mache noch letzte Rechnungen mit GaBi.“, gibt Markus zur Antwort. „Willst Du jetzt nicht erst mal nach Hause gehen, wenn Du die ganze Nacht gemacht hast, Andreas?“ Andreas stiert kurz auf den Bildschirm, wo in der Textdatei noch der Aufsatz geöffnet ist. „Ja, ist vielleicht keine schlechte Idee. Ich gehe kurz heim und mache mich frisch. Mona ist bestimmt auch nicht unerfreut, wenn sie mich mal wieder bei Tageslicht sieht.“ Dann drückt Andreas auf den Drucken Button und schaltet danach den Rechner aus. Beide hören, wie der Nadeldrucker im Nebenzimmer seine Arbeit beginnt. „Tschüs, bis später“, verabschiedet sich Andreas.

Als er schon fast aus der Tür ist, dreht er sich noch mal um. „Sag mal, Markus. Wenn Du Deine Diss. rum hast. Kannst Du Dir dann auch was anderes als GaBi vorstellen? Ich meine, nicht, dass ich jemals jemanden motivieren würde, hier weg zu gehen. Aber ich meine einfach so aus Interesse und Perspektiven.“ Markus lässt den Bleistift sinken, mit dem er bis eben die Zeilen und Spalten einer Berechnung durchgegangen ist. Solch eine Frage hat er von Andreas noch nie gehört. Aber die Antwort fällt ihm nicht schwer. „Klar, habe ich, Andreas. Ich denke schon, ich weiß, wohin mein Weg führt. Ich kann mir nichts anderes als GaBi vorstellen, aber mein Weg wird nicht in die PE führen. Ich lebe nicht, um zu arbeiten. Ich arbeite, um eine gute Balance aus dem zu haben, was mir Freude macht und dem, was mich als Vater und Ehemann bin. Ich habe mir schon oft überlegt, wie das wäre, wenn ich meinen eigenen Laden aufmachen würde und selbstständig bin. Ich glaube, das passt zu mir und sobald meine Diss. soweit ist und mein Vertrag hier ausläuft, gehe ich das an. Das ist nicht ‚gegen‘ das Team hier, Andreas, das weißt Du. Es ist einfach, weil ich andere Prioritäten im Leben setze und privat eben auch schon ein bisschen gebundener bin als die meisten von Euch.“ Andreas hat während der ganzen Worte trotz der Müdigkeit, die seinen Körper bis in jede Faser durchzieht, aufmerksam zugehört. Er nickt wohlwollend und sagt nur. „Ich weiß, Markus, danke für Deine Ehrlichkeit. Ich kann mir Dich gut als Selbstständiger mit GaBi vorstellen.“ Dann dreht er sich um und sagt noch. „Wenn mich jemand sucht, ich bin spätestens um 11:00 Uhr wieder da zu dem Termin mit BASF.“ Als er später im Auto sitzt, das er schon vor einigen Jahren gegen die studentische Vespa eingetauscht hat, klingen die Worte von Markus noch nach. Ein bisschen beneidet er ihn. Er wüsste auch gern, wohin das hier für ihn alles fühlt. Und trotz der Begeisterung schleicht sich immer mehr das Gefühl ein, dass auch sein Weg vielleicht nicht immer hier an der Uni weitergehen wird.

Vertiefung: Stark gekürzter Auszug einer wissenschaftlichen Publikation zur Golf-Bilanz (Manfred Schuckert)

Sachbilanz eines Golf

1 Einleitung

Die individuelle Mobilität ist ein Eckpfeiler unserer modernen Industriegesellschaft. Sie wird heute mit einer großen Zahl vom Automobilen aufrecht erhalten. Das Auto ist ein von Kun­den besonders begehrtes Produkt, weil es speziell auf die Bewegungsfreiheit des Einzelnen zugeschnitten ist.

Wegen der großen Zahl interessieren sich Hersteller, Halter und Staat für die vielfältigen Umwelteinflüsse von Automobilen. Ein typisches Merkmal nicht nur vom Auto, sondern auch von anderen Industrieprodukten ist, daß sich deren Umwelteinflüsse aus einer Vielzahl kleiner Komponenten an den unterschiedlichsten Orten zusammen setzen und kumulieren. Das beginnt bei der Gewinnung der Rohstoffe und endet mit der Deponie der unvermeidlichen Reste.

Die Ökobilanz eines Produktes besteht laut ISO 14040 aus 3 Abschnitten:

– Sachbilanz, in der möglichst alle benötigten Stoffarten und -mengen, sowie die einge­setzten Energiearten und -mengen für die Herstellung, Nutzung und Entsorgung eines Produktes registriert werden. Die Herstellung des Produktes schließt die Gewinnung der Rohstoffe und deren Weiterverarbeitung ein. Weil für die Herstellung, Nutzung und Ent­sorgung zusätzliche Produkte und Anlagen erforderlich sind, muß eine Grenze vereinbart werden. Diese Grenze legt fest, was dem betrachteten Produkt noch zugerechnet wird und was nicht. Sie wird mit Systemgrenze oder Bilanzrahmen bezeichnet.

– Wirkungsabschätzung, in der Umwelteinflußkategorien vereinbart werden, darunter Treibhauseffekt, Bodenversauerung, Bodeneutrophierung (Überdüngung), Bodenversie­gelung, etc. Zusätzlich werden den, in der Sachbilanz registrierten Stoffe Wirkungspo­tentiale zugeordnet. Die Summe von Wirkungspotential x Stoffmenge liefert die Wirkung des betrachteten Industrieproduktes in der jeweiligen Umweltkategorie.

– Auswertung, in der mit mehr oder weniger subjektiven Kriterien, d.h. Bewertungsfakto­ren, die aus der Wirkungsabschätzung erhaltenen einzelnen Umwelteinflüsse relativ zu ein­ander bewertet werden. Hier können auch verschiedene Industrieprodukte hinsichtlich ihrer Umwelteinflüsse verglichen werden.

Die Volkswagen-Forschung will wissen, ob das Instrument “Sachbilanz” geeignet ist, Kennt­nisse über die stoffliche Zusammensetzung der Autos zu erlangen und ob es tauglich für Entscheidungen bei der Werkstoffauswahl ist. Wissend, daß die Ökobilanz eines Autos sehr aufwendig ist, soll zunächst nur eine Sachbilanz durchgeführt werden.

Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoff­kunde (IKP) der Universität Stuttgart wird, mit den Methoden der ganzheitlichen Bilanzie­rung, ein Pkw der Mittelklasse untersucht. Die Studie wurde 1992 begonnen. Das IKP erstellt den Arbeitsplan und trägt die Daten zusammen, VW stellt seine Erfahrung im Auto­mobilbau und eigenen Daten bereit. Die Sachbilanz wird gemeinsam erstellt und beurteilt.

Sowohl die VW-Forschung, als auch das IKP wollen eine möglichst detaillierte Studie mit größtmöglicher Datentiefe erstellen. Dabei zeigt sich sehr schnell, daß in einigen Bereichen die Datenmenge den Rahmen der Studie sprengen können, in anderen auf Ersatzdaten von älteren Modellen zurückgegriffen werden muß.

Die Gestaltung der nun folgenden Absätze richtet sich nach dem Konzept der ISO 14040 und der DIN 33926. Darin vorkommende Begriffe sind kursiv gekennzeichnet.

2 Allgemeine Angaben

Das Bilanzobjekt ist ein Pkw der Golf-Klasse. Sofern möglich werden Daten für einen Golf, Modelljahr 1994, 4 Türen, 1,8 l Ottomotor, 55 kW und 5 Gang Schaltgetriebe eingesetzt.

Die Zielgruppe ist das Management der F&E von VW. In der vorliegenden Veröffentlichung wird auf die Darstellung vieler Details, insbesondere auf umfangreiche Prozeßpläne und Stücklisten verzichtet.

Der Bilanzrahmen ist eng gesteckt, es werden nur die dem Produkt “Auto” direkt zugeord­neten Prozesse berücksichtigt. Darin enthalten sind die Vorproduktketten und die Fertigung des Endproduktes, jedoch keine Herstellung von Anlagen. Bild 1 veranschaulicht dieses Konzept.

Der Detaillierungsgrad ist innerhalb der VW-Werke am höchsten, es werden Einzelteile, die mindestens 1 g wiegen berücksichtigt. Werkstoffe und Strom werden in der Form von ferti­gen Modulen in getrennten Projekten erstellt. Nicht limitierte Bestandteile im Motorabgas werden möglichst bis zur meßtechnischen Nachweisgrenze hinzu genommen.

Die Aufteilung (Allokation) von Ein- und Ausgangsströmen (Ressourcen und Emissionen) bei der Koppelproduktion wird fallweise unterschiedlich durchgeführt. Die Aufteilung von Primärenergie und Emissionen auf Strom und Wärme aus Kraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung wird kalorisch, d.h. nach der abgegebenen Energie durchgeführt. In der Raffine­rie wird nach Masse, im Automobilwerk nach Stückzahl aufgeteilt.

3 Methode und Begriffe

Zunächst werden Übersichtspläne erstellt, deren Elemente Einzel-Prozesse und weitere Pläne sind. EDV-technische Definitionen befinden sich am Ende dieses Kapitels. Der oberste Plan, Bild 2, stellt lediglich die 3 Phasen im Lebenszyklus eines Autos dar. Zwischen den einzelnen Phasen fließen das jeweilige Hauptprodukt, z.B. Pkw (neu), und Produktgruppen, z.B. die “Betriebsstoffe” bestehend aus Benzin, Motoröl, Kühlmittel, etc. Die Herstellung bezieht sich nicht nur auf den Pkw, sondern auch auf die Betriebsstoffe, insbesondere das Benzin und Ersatzteile, die später bei der Nutzung benötigt werden.

4 Datenerhebung

Die Daten werden den Prozeßplänen entsprechend erhoben. Die anfänglichen Daten füh­ren in der Regel zur Korrektur und Verfeinerung der Prozeßpläne und damit zur Aktualisie­rung bestehender und Erhebung weiterer Daten. Es handelt sich hier also nicht um ein Projekt, sondern um einen kontinuierlichen Prozeß.

In der Herstellungsphase konzentriert sich die Datenerhebung auf die Werk- und Betriebs­stoffe, deren Gewinnung und Weiterverarbeitung. In der Nutzungsphase werden Daten zum Kraftstoffverbrauch und Emissionen erhoben. Darüber hinaus werden Pflege und Wartung berücksichtigt. Die Entsorgung, schließlich, besteht aus der teilweisen Zerlegung der Altautos, Shreddern der Wracks und Recycling der Metallfraktion.

4.1 Herstellungsphase
 

Eine der wichtigsten Informationsquellen ist die Entwicklungs-Stückliste. Aus ihr werden die Werkstoffe und Gewichte, aus denen das zu untersuchende Fahrzeugmodell besteht, er­mittelt. Die vielen hundert Werkstoffe werden für Übersichten in Gruppen zusammengefaßt, Tabelle 2. Die Mengen der Werkstoffe mit den zugehörigen Rohstoffen, Legierungsantei­len, Mischungskomponenten, etc., werden aus der Werkstoffbezeichnung, z.B. Stahl 54SiCr6, Aluminium AlSi12, Kupferlegierung CuZn27Mn3Al2, Kunststoff PA 6.6 30% GF, und dem Gewicht (Auflösung = 1 g) der Einzelteile berechnet. Daten über die Herstellung der Rohstoffe werden vom IKP in separaten Projekten erarbeitet und, wo nötig, durch Literaturdaten ergänzt.

Die Stückliste enthält keine Angaben über den Aufwand zur Herstellung der Einzelteile und deren Zusammenbau zum fertigen Auto. Um diesen Aufwand abzuschätzen, werden Daten von Zulieferern und aus den einzelnen VW-Werken, Tabelle 3, zusammengetragen. Dabei zeigt sich, daß moderne Anlagen mit vielen Meßzählern ausgestattet sind und genügend Daten für eine Sachbilanz liefern können, ein Beispiel ist die Lackiererei. Ältere Anlagen verfügen nur über wenige Zähler und können deshalb nur Übersichtsdaten liefern. Die Abluft von Montagehallen wird wegen der geringe Schadstoffemissionen nicht analysiert. Der Transport zwischen den Werken wird berücksichtigt.4.2 Nutzungsphase

Die Nutzungsphase beginnt mit dem Transport des Fahrzeugs zum Händler und dem Entfernen der Wachs-Konservierung. Anschließend setzt der Verbrauch von Benzin und Motoröl, aber auch der von Kühlmittel, Bremsflüssigkeit, Scheibenreinigungsmittel, sowie Reifen ein. Bei der Wartung werden Verschleißteile ausgetauscht, darunter Zündkerzen, Ölfilter, Batterie, etc.

Der Benzinverbrauch und die damit verbundenen Schadstoffemissionen eines Pkw hängen von der Fahrweise ab. Der Gesetzgeber hat Fahrzyklen zur Messung des Verbrauchs und der Abgas-Emissionen vorgeschrieben, z.B. der Europäische Abgasfahrzyklus ab Juli 1992 MVEG-A (Motor Vehicle Emission Group, case A), US-City und Highway Driving Cycle in den USA. Einige Institutionen, darunter der Allgemeine Deutsche Automobil Club (ADAC), meinen, daß diese Fahrzyklen nicht repräsentativ sind und benutzen eigenen Fahrzyklen zur Bestimmung des Verbrauchs. Ein Maß für die Spannweite von Verbrauchswerten auf­grund der Fahrprofile verdeutlichen folgende 3 Werte:

US-City 7,3 l/100 km

MVEG-A 8,1 l/100 km

ADAC 9,1 l/100 km

In der Bilanz wird der MVEG-A Testverbrauch verwendet.

4.3 Entsorgungsphase

Die heute typischen Entsorgungswege zeigt Bild 9. Die Entsorgung ins Ausland wird nicht berücksichtigt. Es werden Schrotthändler, Betreiber von Shredderanlagen, sowie Altauto­verwertungszentren befragt. Der Restwert eines Altautos bestimmt den Entsorgungsweg. Es lohnt sich nicht alle Altautos komplett zu zerlegen, weil der Markt die Teile nicht abnimmt. Die meisten Altautos werden nur trockengelegt und dann geshreddert. Deshalb werden in der Bilanz Shredder-Daten eingesetzt.

Das Shredder-Material geht in einen Markt für Sekundär-Rohstoffe. Diese werden nur zum Teil den Primär-Rohstoffen für den Automobilbau zugeführt. Der größere Teil geht in Bran­chen mit geringeren Werkstoff-Anforderungen, z. B. Stahl für die Bauindustrie. Das ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ökologisch sinnvoll, weil bei der Wiederaufbereitung Ener­gie verbraucht und Emissionen in Luft und Wasser erzeugt werden.

Gutschriften für Sekundär-Rohstoffe, die in andere Branchen fließen, werden nicht berück­sichtigt.

Entsorgung der Altfahrzeuge. Diese laufen noch überwiegend über die Verbindung “Trockenlegen” — “Shreddern”. Ein paar wenige Ausbauteile lassen sich wiederver­wenden. Altreifen werden zunehmend verbrannt.

5 Ergebnisse
 
Diese Sachbilanz deckt spezifische Merkmale eines Pkw auf. Dazu gehören:
– Die Vielfalt der speziell für den Automobilbau entwickelten Werkstoffe.
– Die große Anzahl von Einzelteilen, aus denen ein Pkw zusammen gebaut wird.
– Die Gewichtsverteilung der Einzelteile.
– Der Energieverbrauch geschieht überwiegend in der Nutzungsphase.
– Die hohe Recycling-Rate.
 
Die kumulative Gewichtsverteilung der Einzelteile, Bild 10, berechnet aus den Daten in der Entwicklungs-Stückliste, zeigt, daß die 70–80 schwersten Einzelteile erst das halbe Auto­gewicht ausmachen. Das schwerste “Teil” ist der Kraftstoff im Tank, gefolgt vom Zylinder-Kurbelgehäuse. Die letzten 3% des Gesamtgewichtes bestehen aus mehreren tausend Einzelteilen, darunter Schrauben, Stifte, Clips, Federn, Stecker, Dichtungen, etc. Ein bevorzugter Werkstoff ist weder unter den großen noch unter den kleinen Teilen erkennbar. Insgesamt dominiert die Werkstoffgruppe Stahl und Eisen, Bild 11. Die große Anzahl der Stahlsorten ist ein Maß für die Spezialisierung dieses Werkstoffes. Das zeigen auch die vielen Untergruppen in Tabelle 2. In der zweiten Gruppe, die der Kunststoffe, besteht ein Definitionsproblem: Kunststoffe sind zum großen Anteil Mischstoffe, z.B. Glasfaser verstärktes Polyamid PA 6.6–30% GF, oder PVC — Plastisol bestehend aus 25% Binder (PVC), 30% Weichmacher (DINP) und 45% Fül­ler (Kreide). Für die Gewichtsklassierung wird keine Trennung der Kunststoffkomponenten vorgenommen, d.h. die Plastisole und Glasfaser verstärkte Kunststoffe werden der Gruppe Kunststoffe zugeordnet. Kabel, Elektromotoren, Schalter, Sicherungen, etc. werden in eine Werkstoffgruppe zusam­mengefaßt, um den Anteil dieses Fachbereiches darzustellen.
 
Kumulative Gewichtsverteilung der Pkw-Teile, nach Größe sortiert.
Die schwersten Einzelteile sind 41 kg Benzin
34 kg Zylinder-Kurbelgehäuse
26 kg Reifen
Gesamte Primär-Energiebedarf eines Golf (540 GJ = 150 MWh). Für Fahrleistung sind 150 000 km in 10 Jahren, für Verbrauch 8,1 l/100 km angesetzt.

Der elektrische Stromverbrauch wird von einer großen Zahl kleiner Maschinen bestimmt. Bild 13 zeigt eines der verwendeten Strom-Module mit den zugehörigen Ein- und Ausgän­gen. Die auf eine Fabrik spezialisierten Kraftwerke, darunter die VW-Kraftwerke in Kassel und Wolfsburg, erzeugen den Strom mit weniger Ressourcen und weniger Emissionen, weil ein Teil der Abwärme (Kraft-Wärme-Kopplung) in Form von Prozeß- und Raumwärme genutzt wird. Die 3 Kraftwerke in Wolfsburg erzeugen im Jahr (1994) 1900 GWhel Strom, davon nimmt VW 800 GWhel ab, der Rest geht ins öffentliche Netz. Zusätzlich nimmt VW 900 GWhWärme ab.

Der Primärenergieverbrauch, Bild 12, ergibt sich im wesentlichen aus dem Benzinverbrauch während der 10 jährigen Nutzungsphase des Pkw. Faßt man Benzin-Herstellung und -Ver­brauch zusammen, so kommt man auf 90% des gesamten Primärenergiebedarfs. Daraus ergibt sich die große Bedeutung aller Maßnahmen zur Senkung des Benzin-Verbrauchs.

Der elektrische Stromverbrauch wird von einer großen Zahl kleiner Maschinen bestimmt. Bild 13 zeigt eines der verwendeten Strom-Module mit den zugehörigen Ein- und Ausgän­gen. Die auf eine Fabrik spezialisierten Kraftwerke, darunter die VW-Kraftwerke in Kassel und Wolfsburg, erzeugen den Strom mit weniger Ressourcen und weniger Emissionen, weil ein Teil der Abwärme (Kraft-Wärme-Kopplung) in Form von Prozeß- und Raumwärme genutzt wird. Die 3 Kraftwerke in Wolfsburg erzeugen im Jahr (1994) 1900 GWhel Strom, davon nimmt VW 800 GWhel ab, der Rest geht ins öffentliche Netz. Zusätzlich nimmt VW 900 GWhWärme ab.

6 Diskussion der Ergebnisse

Das Hauptergebnis dieser Sachbilanz ist, daß der wesentliche Energieverbrauch in der Nutzungsphase liegt. Rund 10% der gesamten Energie wird für die Herstellung des Fahr­zeuges, weitere 10% für die Bereitstellung des Benzins benötigt. Der Rest, 80%, steckt im Heizwert des Benzins, das während der 150 000 km Fahrstrecke verbrannt wird. Neu ist die Erkenntnis, wie wenig Energie für die Herstellung des Fahrzeuges benötigt wird, und daß der Energie-Anteil für die Gewinnung der Werkstoffe größer als der für die Fertigung des Fahrzeuges ist. Diese Erkenntnis ist überraschend und bisher nicht öffentlich diskutiert.

In der Nutzungsphase dominieren nur einige atmosphärische Emissionen, darunter die an den Energieverbrauch gekoppelte CO2 -, aber auch die CO — Emission. Erstaunlich ist, daß viele andere Emissionen in der Herstellungsphase überwiegen. So treten bei der Herstel­lung und Verteilung vom Benzin die meisten Kohlenwasserstoff-, Schwefel- und Stickoxid-Emissionen auf. Bei der Gewinnung der Rohstoffe entstehen die wesentlichen Metall- und Chlor — Emissionen.

Die Metallmengen in den Erzen sind kleiner als die im Fahrzeug verbauten Mengen. Das ist eine Folge des Metall-Recycling. Im Pkw wird im wesentlichen Stahl aus frischen Erzen ver­baut, das recyclierte Eisen wird in anderen Stahlbranchen verwendet. Das im Automobilbau verwendete Leichtmetall enthält einen größeren Anteil Sekundär-Aluminium.

Der Wasserverbrauch ist am größten bei der Gewinnung der Rohstoffe. Die Fahrzeugwä­sche trägt mit 28 m³ immerhin mit über 20% zum gesamten Wasserverbrauch bei. Das Abwasser aus der Fahrzeugwäsche ist relativ wenig belastet. Es führt hier zu einer Problemverlagerung, denn aufgenommene Luft- und Bodenverunreinigungen gelangen ins Abwasser.

Das Automobil ist der Konsumartikel mit der höchsten Recycling-Rate. Diese ist noch höher als bei Papier. Der Grund ist, daß ein Auto nicht einfach in den Müll geworfen werden kann, und daß die Metallverwertung einen hohen Standard erreicht hat. Bei den Altkunststoffen zeichnet sich eine zunehmende thermische Verwertung ab.

Einige Daten in der Sachbilanz sind alt. Das liegt an der großen Datenmenge, für deren Erhebung einige Jahre benötigt werden. In dieser Zeit wird eine Vielzahl von Prozessen modernisiert, für eine Aktualisierung der Bilanzdaten fehlt die Zeit.

Viele unsichere Daten werden hier mit aufgenommen, obwohl den Autoren die großen Meßfehler bewußt sind. Das soll einen Ansporn für die Bereitstellung besserer Daten sein.

Die Beurteilung der Zahlen fällt schwer. Es fehlen Vergleichsmaßstäbe. Sind die 28 m³ Wasser, die während der 10 jährigen Nutzungsphase verbraucht werden, nun viel oder wenig. Hier könnte der Wasserverbrauch von einem Ein-Familienhaushalt als Vergleich benutzt werden: ca. 40 m³ pro Person und Jahr.

Die Emissionen in Wasser, darunter der chemische (CSB) und biologische (BSB) Sauerstoffbedarf, sowie der gesamte Stickstoffeintrag (Nitrit, Nitrat, Ammonium, Ammoniak) sind so niedrig, weil es sich um bereits geklärte Abwasser handelt. Zum Vergleich sei hier der BSB Richtwert für ungegklärte kommunale Abwasser genannt: 60 g pro Tag und Ein­wohner.

Nach der Durchführung der Bilanz und dem Hinterfragen der Zahlenwerte wird deutlich, daß die Schwankungsbreite der Daten wesentlich größer ist als typische Fehler im technischen Meß­wesen. Die Ursachen sind systematischer Natur, sie liegen in nicht genau definierbaren Grenzen des Bilanzrahmens, im gleichzeitigen Bestehen von alten und modernen Produk­tionsanlagen, in den statistisch nicht genau faßbaren Verhalten der Autofahrer, etc.

Auf der Grundlage dieser Sachbilanz können nun Aussagen zu anderen Fahrzeugmodellen der gleichen Klasse getroffen werden, durch hinzuziehen einfacher Kennzahlen, wie Fahrzeug-Gewicht und Testverbrauch. Eine eigenen ganzheitliche Betrachtung für jedes Fahrzeugmodell lohnt sich sicherlich nicht.

Dennoch möchten wir auf die vorliegende Art von sehr detaillierten Sachbilanzen nicht mehr verzichten, weil Entscheidungen über Werkstoffe und den damit verbundenen Konstruk­tionskonzepten in einem erweiterten Rahmen getroffen werden können. Als Beispiel sei der Werkstoff Aluminium genannt. Es muß viel Aluminium eingesetzt werden, falls damit merk­lich leichtere Autos gebaut werden sollen. Die Konsequenzen sind weitreichend.

Mit jeder Sachbilanz entstehen neue zusätzliche Module. Es entstehen auch neue Verbin­dungen zwischen vorhandenen Datenbanken in den Werken. Die Bestrebungen zur Schaffung gemeinsamer Datenbanken in der Automobilindustrie, einschließlich der Zulieferer werden gefördert. Die hier durchgeführte Sachbilanz hat gezeigt, daß spezielles Know How von beteiligten Firmen zwar verwendet, aber nicht offen gelegt werden muß. Befürchtungen in dieser Richtung haben sich als unbegründet erwiesen.

Als Andreas die letzte Zeile getippt hat, ist die Sonne über Stuttgart bereits aufgegangen. Die Uhr über der Tür zeigt 6:23. „Die Zusammenfassung und das Literaturverzeichnis mache ich morgen“, sagt er sich. Um ihn herum stehen unzählige Kaffeebecher. Andreas steht auf, um die Deckenleuchte auszumachen, die ihm geholfen hat, die Nacht zum Tag zu machen. Als er die Becher einsammelt und sich auf den Weg zur Teeküche macht, begegnet ihm bereits Markus auf dem Flur. „Andreas, guten Morgen, bist ja auch schon da“, begrüßt er ihn. „Hmmm“, gibt Andreas zurück. „Bin noch da.“ Markus geht ins Büro und fährt den Rechner hoch, wie er es eigentlich jeden Tag noch allein hier tut. In diesen frühen Morgenstunden gehört das Büro meist ihm allein. Er hat sich von Beginn an entschieden, das GaBi-Workaholic-Dasein nicht abfärben zu lassen. Das würde ihm seine Frau nie verzeihen. Aber vor allem würde er es sich selbst nie verzeihen. Die Kinder sind nur einmal klein. Und verlorene Zeit mit den Menschen, für die man arbeiten geht, kann man nicht wiedergutmachen. Das war für ihn immer klar. Er versteht, dass die anderen im GaBi-Team dafür manchmal wenig Verständnis haben. Aber die meisten von ihnen haben auch noch keine Familie. Markus dreht sich kurz im Bürostuhl um und blickt auf die drei Fotos von Max, Luisa, und seiner Frau Beate, die hinter ihm auf dem Aktenregal stehen.

Mittlerweile ist Andreas zurück mit einer frischen Tasse Kaffee und hat auch Markus eine mitgebracht. „Du, Markus“, beginnt er in einem Ton, der irgendwo zwischen gezwungener Gelassenheit und Entschuldigung liegt. „Ich, hm, also ich wollte Dir noch was sagen.“ Markus blickt Andreas erwartungsvoll an, während er an der heißen Kaffeetasse pustet. „Ja, was gibt es?“ „Also, Markus…“. Andreas hält inne. „Christine hat gestern…“ „Ja, was hat Christine gestern gesagt oder gemacht?“ Andreas schaut kurz aus dem Fenster, dann dreht er sich wieder um zu Markus und fährt in seiner üblichen professionellen Tonlage fort, die eben ganz aus den Fugen geraten zu sein schien. „Ach, nichts, ich wollte Dich einfach nur nach den Daten für die Lackierung fragen. Die müssen noch in den Aufsatz, den ich gerade fertiggestellt habe. Beziehungsweise habe ich jetzt die vorläufigen Daten rein genommen, aber ich drucke es einfach gerade aus und dann kannst Du handschriftlich durchgehen und korrigieren, wenn das nicht die aktuellen sind.“ Markus nickt. Für einen Moment hätte er schwören können, dass Andreas etwas ganz anderes sagen wollte. Aber da schien er sich geirrt zu haben. „Klar, mache ich. Die Daten überprüfe ich heute Morgen eh noch mal und mache noch letzte Rechnungen mit GaBi.“, gibt Markus zur Antwort. „Willst Du jetzt nicht erst mal nach Hause gehen, wenn Du die ganze Nacht gemacht hast, Andreas?“ Andreas stiert kurz auf den Bildschirm, wo in der Textdatei noch der Aufsatz geöffnet ist. „Ja, ist vielleicht keine schlechte Idee. Ich gehe kurz heim und mache mich frisch. Mona ist bestimmt auch nicht unerfreut, wenn sie mich mal wieder bei Tageslicht sieht.“ Dann drückt Andreas auf den Drucken Button und schaltet danach den Rechner aus. Beide hören, wie der Nadeldrucker im Nebenzimmer seine Arbeit beginnt. „Tschüs, bis später“, verabschiedet sich Andreas.

Als er schon fast aus der Tür ist, dreht er sich noch mal um. „Sag mal, Markus. Wenn Du Deine Diss. rum hast. Kannst Du Dir dann auch was anderes als GaBi vorstellen? Ich meine, nicht, dass ich jemals jemanden motivieren würde, hier weg zu gehen. Aber ich meine einfach so aus Interesse und Perspektiven.“ Markus lässt den Bleistift sinken, mit dem er bis eben die Zeilen und Spalten einer Berechnung durchgegangen ist. Solch eine Frage hat er von Andreas noch nie gehört. Aber die Antwort fällt ihm nicht schwer. „Klar, habe ich, Andreas. Ich denke schon, ich weiß, wohin mein Weg führt. Ich kann mir nichts anderes als GaBi vorstellen, aber mein Weg wird nicht in die PE führen. Ich lebe nicht, um zu arbeiten. Ich arbeite, um eine gute Balance aus dem zu haben, was mir Freude macht und dem, was mich als Vater und Ehemann bin. Ich habe mir schon oft überlegt, wie das wäre, wenn ich meinen eigenen Laden aufmachen würde und selbstständig bin. Ich glaube, das passt zu mir und sobald meine Diss. soweit ist und mein Vertrag hier ausläuft, gehe ich das an. Das ist nicht ‚gegen‘ das Team hier, Andreas, das weißt Du. Es ist einfach, weil ich andere Prioritäten im Leben setze und privat eben auch schon ein bisschen gebundener bin als die meisten von Euch.“ Andreas hat während der ganzen Worte trotz der Müdigkeit, die seinen Körper bis in jede Faser durchzieht, aufmerksam zugehört. Er nickt wohlwollend und sagt nur. „Ich weiß, Markus, danke für Deine Ehrlichkeit. Ich kann mir Dich gut als Selbstständiger mit GaBi vorstellen.“ Dann dreht er sich um und sagt noch. „Wenn mich jemand sucht, ich bin spätestens um 11:00 Uhr wieder da zu dem Termin mit BASF.“ Als er später im Auto sitzt, das er schon vor einigen Jahren gegen die studentische Vespa eingetauscht hat, klingen die Worte von Markus noch nach. Ein bisschen beneidet er ihn. Er wüsste auch gern, wohin das hier für ihn alles fühlt. Und trotz der Begeisterung schleicht sich immer mehr das Gefühl ein, dass auch sein Weg vielleicht nicht immer hier an der Uni weitergehen wird.

6. Der bleibt bei uns

Frank läuft den langen Flur im Turm des IKP entlang. Er soll hier heute seinen neuen HiWi-Job antreten. Na ja, zumindest hofft er, dass es ein Job wird. Er braucht Arbeit und hat keine Lust bei Aldi Regale zu putzen. „Komm rein,“ winkt ihn Andreas herein. Er kennt ihn aus dem Studium. Das Studium, das er nur durch Zufall gewählt hat. Eigentlich hatte er Geologie studieren wollen. Aber was man damit wohl später machen könnte, war selbst ihm schleierhaft. Irgendetwas mit Umwelt und Technik wäre super gewesen. Dann ging er den Katalog mit dem Studienangebot der Uni Stuttgart wie ein Daumenkino durch. Darin fand er die Abteilung „Kunststoffe und Umwelt“. Das war es. Dass das eigentlich ein Fehler der Univerwaltung war, die das Kurslehrverzeichnis nicht aktualisiert hatte, wusste er damals nicht. Aber gut war die Entscheidung trotzdem, findet er jetzt. Nur muss er eben endlich fertig werden und dafür braucht es noch ein bisschen Geld.

„Siehst Du die Ordner da drüben,“ grüßt ihn der andere Mann im Boot des GaBi-Teams an diesem Nachmittag. Frank schaut hinüber auf eine ganze Wand voller Aktenordner. Aus einigen hängen Papierfetzen heraus. Die meisten haben gar keine Beschriftung. Andere haben eine Beschriftung, aber Frank wird sehr genau hinschauen müssen, um zu verstehen, welcher Inhalt sich darin verbirgt. „Maler, jetzt bist Du gefragt. Die müssen alle katalogisiert werden. Na, was schaust Du denn so?“ Frank versucht schnell einen anderen Blick aufzulegen. „Nein, nein, alles gut, ist kein Problem, kann ich machen“, rettet er sich. „Mach Dir keinen Kopf, das sieht meist bei uns schlimmer aus als es dann ist. Du musst wissen, wir arbeiten hier nach dem Motto ‚form follows function bei der GaBi. Da ist Ordnung in den Ordnern erst wichtig, wenn man eben Ordnung in den Daten braucht. Verstehst Du?“ „Ja, ja, klar, kein Problem, kriege ich hin.“

Frank zieht sich schnell die blaue Sportjacke aus und hängt sie über einen Stuhl der in der Ecke des Büros steht. Andreas und Paul sind derweil schon wieder in ein Gespräch vertieft. Sie scheinen eine Werkstoffbilanz errechnet zu haben, doch irgendetwas stimmt nicht. Bzw. zweifelt Künzel an, dass das Ergebnis der Software den Tatsachen entspricht. Frank zwingt sich, den beiden nicht zu viel Aufmerksam zu schenken und sich auf die vor ihm liegenden Aktenmeter zu konzentrieren. Michael hatte recht: So schlimm ist es gar nicht. Nach den ersten fünf Ordnern meint er, ein System erkannt zu haben, nachdem sie hier nach und nach im Laufe der bearbeiteten Projekte abgelegt wurden. Zwar gibt es zwischendrin auch immer mal wieder Irrläufer, aber innerhalb der Ordnung sind die vielen Materialdaten sauber geordnet. Er hat gar nicht mehr auf die Zeit geachtet, da ruft plötzlich Andreas mit einem Bleistift hinters Ohr geklemmt rüber: „Na, Maler, wie läuft es denn? Alles gut?“ „Ja, geht. Habe schon die Hälfte durch, würde ich sagen.“ „Super, das hört man gern“, kommt von Frank zurück. „Sag mal, wie lange kannst Du heute eigentlich?“ Maler überlegt nicht lange. Er überlegt eigentlich gar nicht. „Unendlich“, ist seine Antwort. Da dreht sich Paul schnell im Drehstuhl um und sagt nur: „Prima, bist eingestellt.“

Diese Episode des Ordner Inventarisierens bleibt auch die einzige klassische Praktikantentätigkeit, die Frank in den kommenden Wochen und Monaten erlebt. Er fühlt sich sofort wohl im Team, das täglich wächst. Noch ist er mit einem befristeten HiWi-Vertrag angestellt, aber das sollte sich bald ändern. Er arbeitet gemeinsam mit Andreas an einer ganzheitlichen Finanzierung Bilanzierung für ein Auto. Dies soll die erste Studie überhaupt werden, die in der Lage ist, ein ganzes komplexes Auto zu bilanzieren. Frank mag die Arbeit, er mag das Team. Er hat vom ersten Tag an selten auf die Arbeitszeit geschaut. Alle arbeiten hier irgendwie immer und dauernd. Das gilt auch für die Computer. Wenn Rechnungen laufen, dann braucht die Software meist die ganze Nacht, um die Ergebnisse zu produzieren. Dann herrscht hier Schichtbetrieb. Aber andererseits weiß Frank auch nicht, ob das mit GaBi auf Dauer sein soll. Schließlich wäre es sicher mal gut, auch etwas anderes zu sehen. Er hat schon mal einige Zeit als Studi bei IBM gearbeitet. Und letzte Woche hat jemand von Daimler angerufen. Es ging um die Weiterarbeit an einem vorherigen GaBi-Projekt. Franks Gedanken schweifen ab. Dagegen steht ein neues Projekt bei GaBi hier am Institut, bei dem es um die Bilanzierung von Pizza-Kartons geht. Das ist auch sauspannend, denkt er sich. Aber Pizza ist ein gutes Stichwort. Er entscheidet, erst mal kurz Pause zu machen und sich am Automaten unten ein Sandwich zu ziehen.

Unten in der Halle läuft er am Büro von Mark vorbei, einem Kollegen, der nichts mit GaBi zu tun hat, aber auch Industrieprojekte bearbeitet. Er hat die Tür angelehnt und winkt wild, als Frank sich nähert. Kurz deckt der die Sprechmuschel des Hörers ab und ruft, „Frank, komm mal schnell rüber, Christian von Daimler will Dich sprechen.“ Frank ändert seinen Kurs und hechtet zu Mark an den Schreibtisch. „Christian, Frank ist gerade hier bei mir, ich geb ihn Dir mal.“ Frank ergreift den Hörer und Christian meldet sich mit einem kurzen Winken und der Geste, dass er Kaffee holen wird, ab. Als er sich herumdreht und gerade losgehen möchte, stößt er fast mit Andreas zusammen. Der wirft einen kurzen Blick in das Büro hinter Mark, wo Frank nun offensichtlich angeregt mit jemand über ein Energiebilanzthema spricht. Andreas schaut Mark mit einem fragenden Blick an. „Sag mal, mit wem spricht er denn da?“ Mark zieht die Tür etwas zu, damit Frank drin nicht vom Gespräch draußen gestört wird. „Da ist Christian am anderen Ende, Du weißt schon, der von Daimler. Die wollen eine Studie machen und suchen gute Leute. Ich glaube, er macht Frank gerade ein Angebot und….“

Mark hat den Satz noch nicht beendet, da macht Andreas einen energischen Schritt auf ihn zu und schiebt ihn beiseite, um im nächsten Moment die Tür weit aufzureißen. Er macht drei große Schritte auf den Schreibtisch zu. Noch ehe Frank begreift, was eigentlich los ist, reißt Andreas ihm den Hörer aus der Hand. „Müller, hier Künzel. Nur, dass das klar ist: Vergessen Sie es. Der Maler bleibt bei uns. Wiederhören.“ Krach. Der Hörer knallt auf die Gabel. Frank starrt zunächst verdattert das Telefon an. Dann schaut er zu Andreas, der noch immer halb über den Schreibtisch gebeugt ist und sich mit einer Hand vor Franks Gesicht aufstützt. „Was schaust Du so, Frank?“ fragt Künzel mit aufgesetzt lockerem Ton. „Glaubst ja wohl nicht, dass wir Dich hier gehen lassen. Kennst Du nicht den Film „Das Boot“? Da gibt es eine Szene, da liegt das Boot auf Grund und Prochnow liegt am Boden, ist fast am Ende. Dann sagt er den Satz zu einem seiner Männer: „Gute Leute muss man haben… gute Leute.“ So machen wir das bei GaBi auch. Verstanden?“ Franks Gesichtszüge entspannen sich. Vor ein paar Minuten war er noch drauf und dran, seinem Chef eine rein zu hauen. „Was fällt dem ein?“, hatte er sich gedacht. Aber nun, nachdem auch Andreas breit und wohlwollend grinst, sieht er, dass dieser jedes Wort ernst meint. „Aber mein HiWi-Vertrag läuft doch bald aus, Andreas,“ wendet Frank ein. Daraufhin beendet Andreas seine gestützte Haltung auf dem Tisch und stellt sich zum Gehen hin. „Frank, Du weißt doch, was Reiter immer sagt: „Wünsche werden selbst erfüllt. Das kriegen wir schon hin.“

5. Windelbilanz

Bettina setzt Filterkaffee auf in der kleinen Küche der Wohnung am Stuttgarter Stadtrand. Hinter ihr am Tisch sitzt Felix im Hochstuhl und schleudert wild mit einer Plastikrassel. Er möchte auch sein Frühstück haben. Ein Jahr ist er jetzt alt, fast so alt wie die GaBi-Idee, die Thomas täglich mit neuem Elan vorantreibt. Im Frühjahr hatten sie mit dem Kinderwagen einen langen Spaziergang gemacht. Da kam die Idee zum ersten Mal auf. „Bettina“, sagte Thomas, „wir müssen eine Firma gründen, damit wir mehr Projekte mit Industrieunternehmen annehmen können und meine Leute anständig bezahlt werden. Es geht nicht anders. Die Uni-Bürokratie erlaubt keine Grenzgänge. Wir müssen das alles ganz sauber und ordentlich angehen, aber meine Studenten und Doktoranden müssen für die viele Arbeit, die sie darüber hinaus in die spannenden Projekte stecken, auch anständig honoriert werden. Das geht über normale Uni-Verträge nicht. Sie brauchen einen Platz für Nebentätigkeiten, wo sie eng mit der Praxis arbeiten und Geld nebenbei verdienen können.“

Seit dieser ersten Idee ist viel passiert. Bettina geht rüber zum Küchenschrank und holt die kleinen Teller und Untertassen heraus, um den Tisch zu decken. Felix neben ihr wird immer ungeduldiger. Der Große ist schon vor einer halben Stunde in die Schule aufgebrochen. Verena ist mal wieder spät dran. Sie hat in der ersten Stunde Deutsch, was sie gar nicht mag. Sie ist mittlerweile schon in der zweiten Klasse. „Mona, bist Du fertig?“ ruft Bettina rüber Richtung Bad. Die kleine 3-Zimmerwohnung hat wenigstens den Vorteil, dass man hier keinen aus den Augen verliert. „Ja, Mama, ich bin schon weg.“ „Magst Du nicht noch frühstücken? Nimm wenigstens Deine Brote mit.“ Mona stürmt zu ihrer Mutter in die Küche, hält ihren Ranzen auf und Bettina packt ihr die Tupperware mit einem frischen Salami-Brot und einem Apfel ein. Dann gibt sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und Mona drückt kurz den kleinen Bruder, der das offensichtlich heute Morgen gar nicht mag. Er quiekt und haut mit dem kleinen Plastiklöffel um sich. „Mach’s gut, Du hast dann um 12:15 Uhr Schluss heute nach der 5. Stunde ja? Ich hole Dich ab.“ „Ja, Mama, tschüs.“ Und schon knallt die Tür und Bettina hört sie die Treppen herunterspringen. „Was Verena wohl später mal machen wird“, geht es Bettina kurz durch den Kopf. Sie ist so anders vom Naturell her als die beiden Jungs.

Bettina deckt den Tisch fertig und setzt sich neben Felix, um ihn zu füttern. Da kommt Thomas in die Küche. Er ist schon fertig in Anzug und Krawatte. Man könnte meinen, er würde gleich zu einem Vortrag aufbrechen, dabei finden die wichtigen Treffen für die PE GmbH seit einigen Monaten immer hier statt. PE steht für Polymer Engineering. Das ist der Name, auf den sie sich damals noch beim Spaziergang nach einem kleinen Brainstorming geeinigt hatten. Thomas wollte gern seine Initialen im Firmennamen haben, aber trotzdem sollte das Geschäft sich hauptsächlich um die Sache drehen. „Wie wäre es mit Polymer Engineering, das passt doch? Ist doch mein Forschungsgebiet“, fiel es Thomas dann ein. „Das passt, klingt gut“, gab Bettina zurück. Dann war es wie immer, wenn Thomas eine Idee hat. Sie wird umgesetzt. Er reichte beim Finanzamt die Gründungsunterlagen ein und natürlich musste er sich bei der Uni alles genehmigen lassen, um dieser Nebentätigkeit ordnungsgemäß nachgehen zu können. Nur hatten sie natürlich kein Kapital, um irgendwo teure Büroräume anzumieten. GaBi gab es ja schließlich erst seit etwas über einem Jahr. Aber seitdem kamen immer neue Ideen dazu und neue Firmen wurden darauf aufmerksam. „Ich sage Dir, Bettina, das mit der ganzheitlichen Herangehensweise an die Bilanzierung wird sich irgendwann durchsetzen“, sagte Thomas immer. „Es muss so sein. Wir brauchen neue Methoden, um zu zeigen, dass sich der Schutz der Umwelt nicht nur für die Menschheit auszahlt, sondern auch für die Unternehmen ganz konkret.“

Bettina glaubt daran, wenn Thomas das sagt. Sie weiß auch nicht, woher genau ihm immer diese tausend Ideen kommen. Aber bereits in der Vergangenheit hat sie gelernt, dass sie meistens in Erfolgen münden. Thomas hat diese Weitsicht, Dinge zu erkennen, lange bevor sie von anderen gesehen werden. Das ist nicht immer einfach, da es für viele Entwicklungen zu früh ist, also noch kaum direkte Nachfrage herrscht. Aber Thomas hat diese unnachahmliche Art die Menschen zu begeistern. Er weiß, dass er allein gar nichts bewirken kann. Es braucht immer die Kooperation mit anderen, seien es nun seine Studenten oder eben die Firmenbosse, die hier nun regelmäßig ihre Treffen mit Thomas beim Frühstück und Besprechungen im Wohnzimmer haben. „Holst Du noch geschwind die Brötchen und Brezeln ab, die ich beim Bäcker vorbestellt habe, Thomas?“ „Ja, mache ich sofort, dann ist alles rechtzeitig fertig, wenn die Herren um 9:00 Uhr kommen“, gibt Thomas zurück und nimmt den Hausschlüssel von der Kommode im Flur, um dann in Richtung Bäcker aufzubrechen. Bettina versorgt derweil weiter Felix, der freudig mit den Händen in seinem Brei herumpatscht. Ob er wohl auch mal die Begeisterung für das Bauen und Konstruieren von seinem Vater übernehmen wird?

Eine halbe Stunde später sitzen Dr. Hoffmann, Thomas und Bettina beim Frühstück. Felix sitzt im Laufstall daneben und beschäftigt sich. Die Diskussion war von Minute 1 an voll im Gange. Es geht um die neue Bilanz von Windeln. Die Firma Hoffmann ist einer der größten Windelproduzenten in Deutschland. Ziel des Projektes ist eine ganzheitliche Bilanzierung für die Standard-Windel zu erstellen, um damit Empfehlungen zu geben, wie Hoffmann die Windelproduktion mit neuen Materialien noch nachhaltiger weiterentwickeln kann. Bettina führt Protokoll und hört gespannt zu, ob Hoffmann sich auf das Projekt einlassen wird. „Herr Reiter, ich habe Sie ja verstanden und ich denke auch, dass wir das brauchen. Für mich ist nur das Problem, dass ich damit ein hohes Risiko eingehe, verstehen Sie? Ich vertraue Ihrer neuen Methode und mich stört es auch nicht, dass sie erst in der Entwicklung ist und natürlich noch optimiert werden muss. Ich kenne ja einige Ihrer Mitarbeiter schon und sehe, dass Sie eine tolle Mannschaft haben. Auch da mache ich mir keine Sorgen, dass die vor Ort bei uns um Betrieb sensibel vorgehen und mit den Mitarbeitern gut zurecht kommen. Das Problem ist nur, dass ich Schiss habe“, um es mal salopp zu formulieren.“ Thomas hat jedem einzelnen Wort von Hoffmann genau zugehört. Er findet es beeindruckend, wie ehrlich und offen Hoffmann hier gleich zur Sache kommt. „Wovor genau haben Sie Schiss, Herr Hoffmann? Hier gibt es doch nur zu gewinnen für alle Seiten — für Ihren Betrieb und für die Umwelt“, fragt Thomas nach. „Was ist, wenn Sie herauskriegen, dass in unseren Windeln irgendetwas ist, dass schädlich ist? Nicht, dass ich davon ausgehe oder jemals auch nur einen Schritt getan hätte, um so etwas zu riskieren. Aber mit neuen wissenschaftlichen Methoden wachsen doch auch manchmal Erkenntnisse, die eben zuvor nicht möglich waren. Und wenn das bei den Windeln passiert, dann sind wir doch geliefert. Oder würden Sie für Ihren Kleinen hier im Laufstall noch eine einzige Windel kaufen, bei der ein Stoff gefunden wird, der womöglich nicht nur schädlich für die Umwelt sondern direkt für das Kind ist?“ Hoffmann zeigt auf Felix während er das sagt. Der hat gespürt, dass hier eine hitzige Diskussion in Gang ist und verzieht das Gesicht. Bettina legt das Protokoll zur Seite und nimmt ihn auf den Arm.

Thomas hat dieses Argument schon oft gehört. Er versteht die Sorgen von Hoffmann. Er weiß aber auch, dass es ihm und den GaBis nicht darum geht, Skandale aufzudecken oder Sündenböcke zu finden. Sie sind ja keine Investigativjournalisten oder die Umweltpolizei. Vielmehr geht es ihnen nur um eines: Wissen generieren, und zwar auf umfassender Datenbasis. Diese Daten hat bisher keiner auf der Welt. Ja, es gibt zwei „Konkurrenten“ wenn es um Ökobilanzen geht. Eine Gesellschaft sitzt in Frankreich, die andere in Holland. Welche Daten genau die haben, weiß Thomas gar nicht genau. Aber sicher ist er sich, dass es riesiges Potenzial gibt. Alles steht und fällt aber eben mit der Bereitschaft der Firmen, ihre Daten auch offen zu legen bzw. dem GaBi-Team im Projekt zur Verfügung zu stellen. Ohne Daten keine Studie und damit auch kein Vorankommen für die ganzheitliche Bilanzierung. „Ich verstehe Sie, Herr Hoffmann. Ich kann Ihnen ja auch nur immer wieder versichern, dass es uns darum nicht geht. Wir wollen Ihnen nichts Böses. Wir wollen nur helfen das, was es gibt, im Sinne der Umwelt noch besser zu machen. Aber ich verstehe, welche Risiken das trotzdem für Sie birgt, keine Frage. Ich war ja selbst vor meiner Unitätigkeit lange in der Industrie und später auch wieder vor wenigen Jahren. Ich weiß, unter welchem Druck Sie stehen. Also ist mein Vorschlag, dass wir eine andere Lösung finden müssen. Eine, die es erlaubt, dass Sie Ihre Daten zur Verfügung stellen in einer Weise, dass wir damit etwas anfangen können. Andererseits muss sichergestellt sein, dass Ihnen daraus kein Strick gedreht werden kann.“ „Genau, Herr Reiter, genau das ist es. Es ist ein Dilemma, aber dahinter steht, dass wir beide die gleichen Ziele verfolgen. Ich gehör ja zu den Innovativen, schon immer, seitdem mein Vater die Firma gegründet hat, waren wir vorne dabei. Ich sehe das riesige Potenzial an GaBi. Ich weiß nur auch keine Lösung im Moment.

Originalpublikation

Thomas steht auf und geht kurz in die Küche, um noch heißen Kaffee nachzuholen. Bettina hat währenddessen Felix im Kinderzimmer zum Vormittagsschlaf gebracht. Mittlerweile ist es schon kurz vor 11:00 Uhr geworden. Die Zeit vergeht. Aber Bettina findet gerade dieses Projekt außerordentlich spannend. Sie ist ja selbst keine Ingenieurin und kennt sich mit Technik auch kaum aus. Sie hat vorher bei einer amerikanischen Computerfirma in der Assistenz gearbeitet. Bislang haben sich die meisten GaBi-Projekte um Kunststoffe in Verpackungen oder Autoteilen gedreht. Das waren nie Produkte, zu denen Bettina einen Bezug hatte. Aber bei den Windeln jetzt wird ihr zum ersten Mal die richtige Tragweite der Methode klar. Es ist so leicht, sich vorzustellen, welchen Lebenszyklus eine Windel von der Produktion bis in den Müll und dann zur Entsorgung durchläuft. Man muss sich nur vorstellen, wie viele Windeln sie allein jeden Tag zur Tonne trägt. Bettina gesellt sich wieder zu den beiden Männern im Wohnzimmer und notiert noch kurz die Gesprächsfetzen, die sie eben aufgeschnappt hat, um das Protokoll zu vervollständigen. Dann kommt ihr eine Idee: „Sagt mal, also ich bin ja nicht in den ganzen Datenprozessen drin, aber was ist, wenn man die Daten z.B. nicht nur von einer Firma wie von Herrn Hoffmann sammelt, sondern von fünf Windelfirmen oder mehr. Dann hat man sogar mehr und man kann sie mitteln. Dann weiß man nicht mehr genau, von welchem Einzelnen was kommt, aber trotzdem ist alles auf einer soliden Basis.“

Dr. Hoffmann schaut erst Bettina an, als sie den Satz beendet hat. Dann schaut er zu Thomas. Der braucht kaum etwas zu sagen. Seine Augen verraten, wie begeistert er ist. „Bettina, das ist es, so machen wir es. Das ist einfach und einfach ist meist nicht die schlechteste Lösung. Was meinen Sie, Herr Dr. Hoffmann?“ „Ich stimme zu, Herr Reiter. Ihre Frau hat da einen Punkt. Das könnte gehen. Natürlich setzt es aber voraus, dass wir mit Firmen kooperieren, zumindest in gewisser Weise, die eigentlich unsere Konkurrenten sind. Aber am Ende haben alle mehr davon, das sehe ich auch. Wir können so alle zeigen, dass wir uns für das Thema einsetzen und alles dafür tun, dass unsere Kunden und vor allen deren Kinder auch in Zukunft noch gesund leben. Ich denke, das ist es. Das kann ich in der Unternehmensleitung bei meinen Führungskräften durchkriegen. Mir ist daran gelegen, das hier nicht als Agenda vom Chef durchzuführen, sondern so, dass Ihr Team auch die wirkliche Unterstützung meiner Mitarbeiter hat. Das ist so gegeben. Die Frage ist dann nur: Wer sind die anderen Partner?

Thomas rückt etwas auf dem Stuhl nach vorne und schiebt die Kaffeetasse ein Stück beiseite, so dass die beiden nichts voneinander trennt. „Herr Dr. Hoffmann, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Mein Gefühl ist, dass wir heute den ersten Schritt zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gemacht haben. Das ist das Wichtigste. Wie ich zu meinen Mitarbeitern immer sage: „Wünsche werden selbst erfüllt.“ Ich schlage vor, Sie machen gleich mit Bettina einen Termin aus zu einem Treffen, bei dem wir unsere Mitarbeiter zusammen bringen, damit alle an der Idee weiterarbeiten, wie wir weitere Partner gewinnen und dann auch die Berechnungen so durchführen, dass alle davon etwas haben. Die Umwelt und unsere nachfolgenden Generationen werden es uns danken. Dann schütteln sich die beiden Männer die Hände. Bettina beobachtet den Abschluss des Gesprächs von der Seite. Sie notiert die Vereinbarung und greift danach zum Kalender, um schon einmal ein paar Terminoptionen heraus zu suchen. Hoffmann wendet sich ihr zu. „Danke für Ihre Mitarbeit. Ohne Sie wären wir heute nicht so schnell voran gekommen. Ich muss jetzt leider ganz schnell los, aber meine Sekretärin wird Sie anrufen wegen des Termins. Das Frühstück war übrigens hervorragend, danke.“

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4. Die Multi-Client-Studie

Es ist früher Nachmittag. Mittlerweile ist es eine Woche her, dass Christine den ersten Anlauf gestartet hat, um sich den beiden GaBi-Mitarbeitern zu unterhalten. Vielleicht hat sie heute mehr Glück, wenn sie mit Reiter noch einmal direkt spricht. Sie glaubt sich zu erinnern, dass mittwochs hier immer ein Team-Treffen stattfindet. Sie öffnet die dicke Glastür am Institut für Ingenieurswesen. Hier sind die großen Hörsäle und Büros der Professoren. An der Wand fallen ihr direkt Zettel mit Pfeilen auf. Hier muss wohl heute noch irgendetwas los sein, denkt sie sich. Sie läuft in Richtung Reiters Büro, das ganz am Ende des Ganges auf der rechten Seite liegt. Die Wände hier sind karg und „typisch Uni“, wie ein Vortragsgast aus der Industrie mal gesagt hat, den sie zum Hörsaal begleiten sollte. Plötzlich springt die Tür neben Reiters Büro auf und Helga Sauer, die Sekretärin, hetzt heraus mit einem Stapel Overhead-Folien in der Hand. Fast prallen sie gegeneinander. „Ach, Frau Müller, na endlich,“ ruft sie voller Erleichterung mit tief schwäbischem Akzent aus. „Na kommen’s, aber ganz rasch, was ham Sie sich denn Zeit g’lassen? Alle Herrschaften sind schon drin und warten bestimmt.“

Christine kann so schnell gar nicht reagieren, da hat sie Frau Sauer schon energisch am Arm gepackt und führt beide Richtung Hörsaal 1. Sie öffnet leise die Tür, schiebt Christine rasch hinein und drückt ihr noch die Folien mit einem Wink gen Pult in die Hand. Schon ist die Tür auch wieder zu. Christine steht zunächst wie angewurzelt am Eingang. Ihr Blick fällt zunächst auf Reiter, der vorn am Pult steht. An die Wand ist in großen Buchstaben „GaBi-Multi-Client Kickoff“ projiziert. Reiters Blick fällt sofort auf sie. „Ach, da ist ist sie auch schon und sie hat auch die restlichen Folien mitgebracht. Meine Damen und Herren, wir können anfangen.“ Plötzlich ist Oliver neben ihr, schnappt sich die Folien, die sie noch immer fast unbewusst in der linken Hand hält. „Wo warst Du denn?“ zischt er sie leise von der Seite und rennt dann vor zum Professor, um ihm die Folien zu geben. Christine setzt sich in einen der unteren Plätze im abgestuften Auditorium, lässt aber zuvor den Blick noch einmal möglichst unauffällig über die Reihen schweifen. Sie erkennt keinen der Teilnehmer, es müssen so um die 30 sein, persönlich. Aber die meisten sind ungefähr zwischen 40 und 50 alt, würde sie schätzen, tragen akkurate Anzüge und schauen gebannt nach vorn, wo soeben der Vortrag beginnt. Christine sieht als erste Folie an der Wand eine Graphik, die später als das “Eierstockdiagramm” in die GaBi-Geschichte eingehen wird.

„Meine Damen und Herren, im Namen des gesamten GaBi-Teams begrüßen wir Sie heute. Wir, das sind die Mitarbeiter der neu gegründeten GaBi-Abteilung. Sie werden nachher auch noch mal direkt zu Ihnen sprechen. Da haben wir Oliver Dietrichs, der gerade seine Promotion zur Werkstoffbilanzierung begonnen hat. Daneben sitzt Andreas Künzel. Er befindet sich in der Endphase seiner Diplomarbeit und wird, sofern sich unsere Arbeit bewährt, ebenfalls bald seine Promotion angehen. Und schließlich Christine Müller, sie wird die GaBi-Software entwickeln. Aber zunächst der Reihe nach, meine Damen und Herren. Ich möchte Ihnen nun zunächst herzlich danken, dass Sie sich heute hier eingefunden haben, um nicht nur Zeugen, sondern aktive Förderer und Mitgestalter einer der wichtigsten Innovationen zu werden, die es im Bereich der Nachhaltigkeit in Deutschland, ja, man muss sagen, in der Welt, zu bestaunen gibt. Seien Sie gespannt, was wir Ihnen heute hier präsentieren können, bevor wir dann konkret in die Gespräche zum geplanten Projektablauf gehen.“ Reiter atmet kurz durch und zieht flugs die erste Folie aus dem Stapel. Hier ist eine Zeichnung von einem Kotflügel zu sehen, daneben einige Zahlen und eine lange Rechnung. „Schauen Sie, meine Herren. Ich bin kein Freund von langer Theorie, deshalb steigen wir gleich mit einem konkreten Beispiel ein — Verpackungen.“

Christine schaut zunächst genau auf die Folie. Sie kennt dieses Beispiel aus der Vorlesung. Dann lässt sie den Blick im Raum wandern. Nun weiß sie also, dass diese ganzen Gäste hier die Manager der Firmen sind, die sie noch vor einer Woche auf der Liste im Büro gesehen hat. Sie alle schauen gebannt vorn auf die Folien. Mittlerweile liegt dort schon die nächste auf, die zeigt, was GaBi leisten soll, um zu berechnen, welche Umweltbelastung das Material für den Kotflügel im gesamten Lebenszyklus bewirken wird. „Schauen Sie, liebe Gäste, in der alten Welt war man froh, wenn man errechnen konnte, wie man den Materialverbrauch senkt und optimiert, damit die Kasse stimmt. Unser Argument ist aber ganz einfach und genau deshalb revolutionär: Wir behaupten, dass es sich am Ende nicht rechnen wird, solange Sie nur das Geld im Blick haben. Sie brauchen drei Dimensionen: Die 1) Wirtschaftlichkeit, 2) die Technologie und 3) die Ökologie. Das sind die Faktoren, die das ausmachen, was wir ganzheitliche Bilanzierung nennen — GaBi.“

Ein leichtes Raunen geht durch das Publikum. Einige fangen an, mit ihrem Nachbarn zu tuscheln. Manche scheinen begeistert, manche scheinen nicht ganz zu glauben, dass die besagte GaBi irgendeinen Wert schafft für sie. Reiter scheint das auch zu sehen von seinem Platz am Pult. „Ja, meine Damen und Herren, das klingt zunächst komplex und nicht machbar. Ich weiß genau, wovon Sie sprechen bzw. was Sie mit Ihren kritischen Blicken ausdrücken. Ich selbst habe wiederholt und zuletzt in den Jahren 1985 bis 1988 in der Industrie gearbeitet. Ich weiß genau, welchem Druck Sie ausgesetzt sind. Sie denken sich vielleicht: „Schön und gut, aber rechnet sich nicht, schon gar nicht für unsere Kunden“. Ein Lachen geht durch die Runde. Reiter lacht ebenfalls kurz. Dann wird er wieder ernst und konzentriert. „Genau aus diesem Grunde ist die GaBi so konzipiert, dass sie Einfachheit, Klarheit und neuste wissenschaftliche Erkenntnis verbindet, um konkret im Unternehmen bei Ihnen Wert zu schaffen. Es geht nicht darum, Luftschlösser zu bauen oder mit Demonstrationen ganz Deutschland davon zu überzeugen, dass wir weniger Auto fahren sollen. Nein, mir und meinem Team geht es darum, eine Methode zu entwickeln, die es Ihnen erlaubt, ökologischer zu denken und zu handeln und damit mehr anstatt weniger Geld in der Kasse zu haben, mehr anstatt weniger zufriedene Kunden zu haben. Das ist das Ziel. Dafür stehe ich heute hier und dahinter steht auch das Team, das gerade am Wachsen ist.“

Christine beobachtet, wie sich die Gesichter der Zuhörer verändern. Waren sie eben noch ungläubig, scheinen sie nun wirklich offen für die Idee zu sein. Reiters Worte klingen auch so überzeugend, dass man kaum anders kann. Mittlerweile hat der Professor das Wort an Andreas gegeben, der nun einige erste Ergebnisse aus einer Datenerhebung an einem weiteren Beispiel vorstellt. Christine schaut genau auf die Daten, die durchaus vielversprechend aussehen. Sie hat es im Studium immer geliebt, Erkenntnisse, die sie zwar intuitiv abgeleitet hatte, mit entsprechenden Daten belegen zu können. Das scheint sie mit Andreas und Oliver und auch mit Reiter gemeinsam zu haben. Offensichtlich brennen hier alle im Raum für das Thema, aber sie hantieren in jeder Minute auch mit Zahlen, Daten und Fakten, um ihren Worten Gewicht und Realitätssinn zu verleihen. Das kommt offensichtlich an beim Publikum. „Und das, meine verehrten Zuhörer, ist eine Skizze der Datenbank, die wir gerade aufbauen,“ hört Christine dann den nächsten Satz. „Unsere geschätzte Kollegin Frau Christine Müller, sie sitzt da hinten, wird diese erweitern und zur Grundlage einer Software machen, die Sie dann alle in ihren Unternehmen zum Einsatz bringen werden. In nur einem Jahr wird es den ersten Piloten geben, so unser Ziel,“ fährt Andreas fort.

Christine zuckt in diesem Moment etwas zusammen. „Aha,“ denkt sie sich. „Das ist ja interessant. Schön, dass ich das auch schon erfahre…“ Noch im gleichen Moment lächelt sie in sich hinein. Die Szene von vor einer Woche im Büro der beiden kommt ihr wieder in Erinnerung. Irgendwie entspricht das alles hier ganz dem Chaos, das sie dort schon erlebt hatte. Dieses steht in krassem Gegensatz zu der klaren Struktur und dem Anspruch des Projektes, das da vorne soeben skizziert wird. Und irgendwie fasziniert sie diese Mischung bereits jetzt. Wie hatte Reiter ihr noch bei ihrem ersten Gespräch vor wenigen Wochen gesagt: „Wünsche werden selbst erfüllt, Frau Müller.“ Dabei ging es um ihre zukünftigen beruflichen Pläne und ihren Wunsch, sich tiefer in die IT hinein zu arbeiten, auch wenn sie kein Informatik studiert hatte. „Können Sie haben, Frau Müller, ich habe da die Gelegenheit,“ hatte Reiter das Projekt eingeleitet und sie dann ziemlich schnell überzeugt, dass es eine tolle Chance sein würde. Nur war ihr nicht klar, dass es so schnell zur Realität werden würde. Und vor allem war ihr nicht klar, dass sie als Einzige verantwortlich für die Software sein würde. Aber warum nicht, denkt sie sich, als sie weiter dem Vortrag vorn lauscht.

Die ganze Präsentation dauert nicht länger als eine Dreiviertelstunde. Dann kommen auch schon viele Fragen aus dem Publikum. „Wie soll das denn genau ablaufen mit der Datengewinnung? Was Sie da eben gezeigt haben, das haben wir ja noch nie gemessen“ fragt einer. Ein anderer will wissen, ob das alles nicht viel teurer werden wird als ursprünglich im schriftlichen Konzept angekündigt. Ein weiterer scheint richtig schlechte Laune zu haben. Anscheinend hat ihn sein Chef hierhin geschickt und ihm aufgetragen, dass er eine Spitze gegen die Konkurrenz loslassen solle. „Woher sollen wir denn wissen, dass die ganzen Partner hier in der Runde auch am selben Strang ziehen? Wir sind doch hier nicht bei ‚Wünsch Dir was‘. Wir sind doch Konkurrenten. Warum sollten wir denn bei was mitmachen, das die Konkurrenz dann gleich auch verkauft? Sie erzählen was von Industriekompetenz, dabei denken Sie offensichtlich kein bisschen wirtschaftlich.“ Reiter nimmt diese und andere Fragen zunächst einmal ganz nüchtern auf und arbeitet dann jede nacheinander ab. Christine ist ein bisschen überrascht, wie gelassen aber trotzdem energisch er die Antworten formuliert. Sie hat ihn durchaus auch schon mal aufbrausend erlebt in den Vorlesungen. Aber hier scheint es, als könnte er auch die Kritiker mit seiner entschlossenen Art und den dazugehörigen wissenschaftlichen Fakten davon überzeugen, dass GaBi die Zukunft ist. „Es ist doch ganz einfach, meine Damen und Herren. Natürlich können Sie sich beispielsweise fragen, wieviel Metall Sie in das Auto bauen, damit es leichter ist und Sprit spart. Wir gehen da anders ran. Wir fragen direkt, ob Metall überhaupt noch in das Autoteil soll. Und wir gehen noch einen Schritt weiter: Wir fragen uns sogar, ob Sie in 20 Jahren überhaupt noch ein solches Auto verkaufen werden, da dann keiner mehr damit fährt, weil die Umweltkatastrophe längst voran geschritten ist und die Politik diese Autos verbieten wird. So viel zum Thema Zukunftsfähigkeit, wenn Sie mir diese Zwischenbemerkung mal erlauben. Die Japaner und die Amerikaner sind da schon ein bisschen weiter, das kann ich Ihnen definitiv sagen.“

Das hat offensichtlich gesessen. Plötzlich ist es ganz still im Raum. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. „Zukunftsfähigkeit“ ist etwas, das alle hier offensichtlich beschäftigt. Und die Konkurrenz aus dem Ausland schläft nicht. Christine hat sich nie so für BWL interessiert. Aber natürlich hat sie einige Vorlesungen besucht und informiert sich in der Zeitung. Auch Reiter bringt entsprechende Themen oft in der Vorlesung. Gerade hat er ein neues Buch geschrieben, in dem er ebenfalls Zahlen zur Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland präsentiert hat und der Rolle der Uni. Sie hat es nicht ganz gelesen, nur kurz durchgeblättert, als sie letztens in seinem Büro war. Rosig sah das wirklich nicht aus.

Was ist eine Ökobilanz (Life Cycle Assessment)?

Ökobilanzen (Life Cycle Assessments) ermöglichen die Analyse der Lebenszyklen von Produkten im Hinblick auf deren Umweltauswirkungen sowie eine transparente Darstellung der daraus resultierenden Ergebnisse. Dies geschieht mittels Beratung vor Ort und Software. Im Gegensatz zu konventionellen Ökobilanzen, die lediglich den Materialverbrauch bei der Produktion über den Lebenszyklus hinweg berücksichtigen, verfolgt die Ganzheitliche Bilanzierung (GaBi) eine Berechnung der Faktoren 1) Ökologie, 2) Ökonomie, 3) Technik, und 4) Soziales.

Schließlich wird Christine vom lauten Klatschen aller Anwesenden aus den Gedanken gerissen. Der Vortrag und die Diskussion scheinen zum Abschluss gekommen zu sein. „Haben Sie vielen herzlichen Dank, meine Damen und Herren,“ beendet Reiter die Runde. Wir freuen uns darauf, dieses Projekt gemeinsam mit Ihnen in den kommenden drei Jahren voran zu treiben. Sie werden es nicht bereuen.“

3. Klinken putzen

„Ja, Herr Spengler, genau, Dietrichs mein Name, Ganzheitliche Bilanzierung, Uni Stuttgart…. Richtig, genau, Herr Professor Reiter hatte meinen Anruf angekündigt. Es geht um die Pilotstudie… Bitte?…. Nein, es geht um den gesamten Lebenszyklus des Materials…. Ja, das ist richtig, es gibt einige wenige Anbieter auf dem Markt, aber unsere GaBi, die ganzheitliche Bilanzierung, kann mehr…. Ja, genau, das haben Sie richtig verstanden, es gibt auch bald eine Software…. Ja darüber wollten wir mit Ihnen sprechen, Herr Spengler, es geht um das große Kickoff aller Projektpartner. Der Herr… Bitte?… Ach, Sie hatten dem Kollegen schon mitgeteilt, dass Sie nicht dabei sein können. Wie Schade, Herr Spengler. Darf ich fragen… tuuuuuuut, tuuuuut, tuuuuuut.“

Oliver lässt den Hörer des grauen Drehscheibentelefons laut krachend auf die Gabel fallen. „Hey, sag mal, dass muss doch nicht sein, oder?“ ruft ihm Andreas mahnend vom gegenüberstehenden Schreibtisch zu. „Das Telefon kann auch nichts dafür.“ „Es ist aber auch echt manchmal nicht leicht mit diesen Konzerntypen,“ entgegnet Oliver. „Da hat uns der Professor schon so weit die Tür aufgemacht und dann kommt doch nichts bei rum. Ich verstehe das nicht. Ich hatte ja noch nicht mal die Chance, zu erklären, was genau die GaBi eigentlich kann.“ Oliver schaut teils ratlos, teils wütend aus dem kleinen Fenster des Büros im Dachstuhl. Hier in der Innenstadt im roten Backsteingebäude ist das Institut für Kybernetik ausgelagert. Oliver kann kaum glauben, was in den letzten paar Wochen geschehen ist. Soeben war er noch Student und das einzige Ziel war, die Diplomarbeit endlich zu Ende zu bringen. Nun ist er Doktorand und Mitarbeiter der GaBi-Abteilung. Jeden Tag wählt er sich die Finger wund, um etwas zu verkaufen, was es eigentlich noch gar nicht gibt. Und viel schlimmer noch: Er ist mitverantwortlich, dass es die GaBi überhaupt jemals geben wird. „Du hast es gut, ruft er Andreas rüber, der gerade auch schon wieder den Telefonhörer in der Hand hat und die Wählscheibe kreisen lässt.“

Noch nicht einmal zwei Wochen ist es her, da lernten sich beide auf dem Flur vor Reiters Büro kennen. Er hatte sie beide zur gleichen Zeit genau an diese Stelle geladen und sich einige Minuten verspätet. Er und Andreas waren sich schon einige Male während des Studiums begegnet, aber hatten nie so viel miteinander zu tun gehabt. Nun sitzen sie quasi nonstop mindestens acht Stunden hier gemeinsam in dem winzigen Büro und arbeiten an etwas, das zum jetzigen Zeitpunkt nicht mal mehr als eine fixe Idee ist. „Eine Dissertation und die Diplomarbeit, mehr wird daraus erst mal nicht werden, denke ich.“ Das genau hatte Reiter in dem Gespräch gesagt, nachdem er mit etwas Verspätung ins Büro kam und sie mit den Worten grüßte: „Na, haben Sie sich schon etwas miteinander bekannt gemacht?“ So recht wusste man bei Reiter nie so genau, ob das nun geplant war oder einfach nur Zufall, dass die beiden sich vor der Tür schon etwas beschnuppert hatten. Aber Spekulationen sind weder Reiters noch Olivers Sache. Oliver weiß nur, dass ihm das Herumtelefonieren trotz aller Frusterlebnisse Spaß macht. Und klar ist auch, dass Reiter Hoffnung und Vertrauen in sie setzt. Sonst hätte er ihnen wohl kaum für die kommenden Monate zunächst diese Stelle angeboten. Klopf. Klopf. „Hallo?“

Oliver wird aus seinen Gedanken gerissen. Offensichtlich steht Besuch vor der Tür. Da klingelt auch schon wieder das Telefon. Oliver nimmt ab und ruft zuvor mit einer winkenden Geste noch ein schnelles „herein“ gen Tür, während Andreas auf der anderen Seite ebenfalls wieder in ein Gespräch vertieft ist und wild Notizen aufs Papier kritzelt. Während Oliver spricht, tritt eine junge Frau, Anfang 20, mit einem langen T-Shirt, Jeans und Turnschuhen in den Raum. Es scheint, als ob die beiden jungen Männer sie gar nicht wahrnehmen. „Ja, GaBi, Uni Stuttgart, grüße Sie….“ Die junge Frau schaut sich im Zimmer um. Es gibt keinen weiteren Stuhl, auf dem sie Platz nehmen könnte. Auch scheint sich so recht niemand für ihre Anwesenheit zu interessieren. Sie lässt ihren Blick im Zimmer schweifen und entdeckt eine Pyramide aus Bierdosen auf dem Regal neben der Tür. Der Papierkorb schein seit Wochen nicht geleert worden zu sein. Die beiden Jungs scheinen sich weiter nicht für sie zu interessieren. An der Wand entdeckt sie eine großes Blatt Papier mit lauter Firmennamen und Ansprechpartnern dahinter. Daimler, Bosch, BASF… All diese Namen kennt sie aus dem Studium, wenn es auch nicht ganz ihre Branchen sind. Christine hat Ingenieurswesen mit Schwerpunkt Umwelttechnik studiert und sich früh für IT interessiert. Ihr Vater war bereits Techniker und hat sie ermutigt, ihren Weg in ein handfestes Fach zu gehen. Nun hat sie den Abschluss in der Tasche und wollte eigentlich in wenigen Wochen ihren ersten Job beginnen.

„Was können wir für Dich tun?“ Aus heiterem Himmel spricht sie einer der beiden direkt an. Er scheint sein Gespräch mit der Maschinenbaufirma beendet zu haben. Christine hat nur Bruchstücke aufnehmen können. Aber an dem zufriedenen und energiegeladenen Gesicht ihres Gegenübers ist abzulesen, dass es ein erfolgreiches Gespräch war. Noch bevor Christine den Mund aufmachen kann, steht Oliver auf, nimmt einen dicken Filzstift und macht einen Haken hinter eine der Zeilen auf dem großen Blatt auf der Wand. Dann dreht er sich blitzschnell um und wiederholt. „Na, was schaust Du so? Ich hatte doch was gefragt?“ Er sagt das in so einem freundlichen und aufmunternden Ton, dass sich Christine ein wenig darüber aufregt, dass sie soeben ja schon antworten wollte. Im Gegenteil, irgendwie findet sie das quirlige Treiben hier sehr amüsant und gleichzeitig entspannt. „Ich bin Christine, Professor Reiter sagte mir, dass ich mich hier bei Euch melden sollte.“ Oliver wirft einen fragenden Blick hinüber zu Andreas, der bereits wieder den Hörer für den nächsten Anruf in der Hand hält. Er zeigt mit einer Geste hinüber auf Christine. Andreas antwortet mit einem kurzen Achselzucken und vertieft sich dann direkt in das Gespräch mit dem Zuhörer am anderen Ende der Leitung.

Oliver kennt Christine ebenfalls vom Sehen. Aber gesprochen haben sie noch nie miteinander. Und er kann sich auch nicht vorstellen, was sie hier gerade soll. Christine macht einen neuen Anlauf. „Also Professor Reiter müsste euch eigentlich erzählt haben, dass er mich gefragt hat, ob ich mich um die GaBi-Software kümmere.“ Software, da ist es, das Wort, das Oliver durchaus an ein Gespräch mit Reiter erinnert. Ja, der Professor hatte angeregt, dass es für GaBi ein Programm geben sollte. Davon war durchaus die Rede gewesen. Aber keiner wusste, wer das machen sollte. Sie sind ja alle Ingenieure. Und außerdem muss es ja erst einmal überhaupt eine GaBi geben, bevor man sich an Software macht. Aber das scheint Reiter irgendwie nicht so zu sehen. Oliver hat schon wieder das scheppernde Telefon vor sich. „Moment, Christine. Tut mir leid, dass es gerade so chaotisch ist. Wir bereiten gerade eine große Veranstaltung vor. Gib mir ein paar Minuten, ja, dann sprechen wir. Nur noch dieses Telefonat. Ich warte schon die ganze Zeit auf einen Rückruf von DuPont. … „Ja, ah, das sind Sie, herzlichen Dank für den Rückruf… Genau…“

Christine ist nun doch etwas ratlos. Aber das Zuhören bei den Telefonaten ist durchaus informativ. Es scheint den beiden um die Gewinnung von Partnern zu gehen, damit GaBi bei einer Reihe von Unternehmen zum Einsatz kommt bzw. mit ihnen entwickelt wird. Davon erzählte Reiter ihr ja. Und diese Kunden würden dafür bezahlen, dass sie alle hier das Projekt machen dürften. Soweit sie es verstanden hat, gibt es noch gar keine richtige Finanzierung für GaBi. Aber genau das scheint wohl gerade das Ziel der Telefonaktion zu sein. Christine schaut auf die Uhr. Sie ist nun schon fast 20 Minuten hier und es ist noch kein Gespräch aufgekommen. In genau 15 Minuten muss sie im Wartezimmer des Zahnarztes sitzen, zu dem sie mit dem Fahrrad noch mindestens fünf Minuten fahren muss. Es vergehen weitere Minuten. Christine hört aufmerksam zu, wie Oliver und Andreas GaBi beschreiben. Es macht wirklich nicht den Eindruck als täten sie das hier nur, weil es ihnen eben angeboten wurde. Beide erklären die GaBi-Methode mit so viel Selbstbewusstsein als gäbe es sie schon seit Jahren. Fast hat es den Anschein als könne man damit die Welt retten, zumindest ein bisschen. Schließlich entscheidet Christine, dass sie genug gehört hat und es wohl einfach nicht der richtige Zeitpunkt war. Sie nimmt sich entschlossen einen der kleinen Klebezettel auf der Schreibtischseite von Andreas und einen angekauten Bleichstift, der direkt daneben liegt, und notiert eine kurze Nachricht. „Hat mich gefreut, Euch angetroffen zu haben. Komme die Tage wieder. Gruß, Christine“. Den legt sie neben das Telefon von Oliver, zeigt kurz auf ihre Armbanduhr und verabschiedet sich dann mit einem Kopfnicken. Oliver und Andreas schauen kurz auf und winken etwas pikiert, während sie mit den Gedanken weiter in ihre Telefonate vertieft sind. Es dauert noch mehr als eine halbe Stunde bis beide wieder den Hörer zeitgleich mal nicht in der Hand haben. „Weißt Du, was die wollte?“ wirft schließlich Andreas Oliver zu. „Nö, keine Ahnung. Irgendwas mit Software. Aber ich weiß, dass sie gar kein IT studiert. Vielleicht hat sie sich auch einfach geirrt.“ Andreas nickt. „Hm, wird schon wiederkommen wenn es wichtig war. Lass uns weiter machen. Wer fehlt noch für das große Treffen? Soweit ich sehe, haben wir 18, richtig?“

2. Sie wollen doch promovieren?

Es ist Mittwochmorgen in der Fakultät. Oliver hastet mit langen schlacksigen Schritten zum Seminarraum. Er ist in den Endzügen seiner Diplomarbeit. Es geht um Kunststoffe. Eigentlich ein langweiliges Thema, denkt jedenfalls sein Vater. Oliver ärgert sich manches Mal darüber, wie despektierlich sein Vater über die Uni und seine Professoren redet. Er ist Unternehmer aus Leib und Seele, hat die eigene Maschinenbaufabrik für Fahrzeugteile mit eigenen Händen über 20 Jahre aufgebaut. Studiert hat er auch mal, aber das ist lange her. „Hauptsache, Du bekommst ein Stück Papier, wo drauf steht, dass Du nicht auf den Kopf gefallen bist,“ sagt er immer. Oliver sieht das ein bisschen so und auch ein bisschen anders. Er hat schon viel gelernt im Studium. Aber oft muss er seinem Vater auch recht geben. Viel von dem Rechnen und Planen hier wird nie irgendwo in der Industrie angewendet. Und natürlich fragt man sich da, warum man es dann überhaupt lernen soll.

Oliver hat die ausgeleierten Jeans an, die er gern trägt. Sie haben ihn durch das ganze Studium begleitet. Er ist eher ein kleiner Mann, hat eine seiner Freundinnen mal gesagt. Wuschelige blonde Haare machen ihn unverkennbar und ein verschmitztes Lächeln. Nun ist er endlich bald mit dem Studium fertig. Die Diplomarbeit hat er vor einigen Wochen abgegeben. Nun muss er noch die restlichen Bücher abgeben, die sich auf dem Schreibtisch seit Wochen gestapelt haben, um der Leihfristverletzung zu entgehen. Wenn er sich vorstellt, dass er das hier alles noch länger mitmachen müsste, um eine akademische Karriere anzustreben, wird ihm ganz schlecht. „Hey, Dietrichs, kommen Sie mal kurz her, bitte, ich habe was für Sie.“ Einen Moment lang fragt sich Oliver, woher überhaupt die Stimme kommt und ob er wirklich gemeint ist. Oliver dreht sich um und schaut in die offenen und energiegeladenen Augen des Mannes, dem die Stimme gehört. Es ist Professor Reiter, bei dem er die Diplomarbeit geschrieben hat. Oliver gefriert für einen Moment das Blut in den Adern. Oh, je, denkt er sich. Wahrscheinlich hat es doch nicht gereicht. Ich hätte mich einfach mehr ins Zeug legen sollen. „Ja, Herr Professor Reiter, was gibt es?“ versucht er möglichst lässig zu wirken. „Also, Dietrichs, gestern hat sich eine interessante Sache ergeben. Da hat einer von Bosch einen Vortrag zur Ökobilanzierung eines Kotflügels gehalten. Und ich muss Ihnen sagen, Dietrichs, ich glaube stark, da kann man was machen, das kann man besser machen. Sie wollen doch promovieren, erinnere ich mich da richtig?“ Oliver weiß für einen Moment gar nicht, wie ihm geschieht. Kein Wort also zur Diplomarbeit. Stattdessen scheint Reiter eine Promotion im Sinn zu haben. Meint er damit wirklich ihn?

Reiter dreht den Schlüssel zu seinem Büro blitzschnell im Schloss herum, vor dem beide nun stehen. „Na, was ist jetzt, Dietrichs? Was schauen Sie so verdattert? Wollen Sie nicht promovieren? Verwechsle ich das? Sagen Sie es mir nur, ich habe auch nur ein Gedächtnis.“ „Nein, nein, Herr Professor, Sie erinnern das richtig, ich hatte ihnen davon ja mal erzählt“, fasst sich Oliver. Natürlich hat er ihm davon schon erzählt. Aber es ist eher Wunsch als Hoffnung, das auch schnell zu erreichen. Eigentlich hat er auch gar keine rechte Lust darauf, wieder hunderte Seiten zu lesen und diesmal noch mehr selbst zu schreiben. Er möchte schnell in die Firma seines Vaters einsteigen, aber genau da sind auch die Erwartungen hoch. Von den Männern in der Familie, inklusiv des Vaters und aller Brüder, haben alle promoviert. Sein Vater hat es noch selten ausgesprochen, aber es ist auch unausgesprochen ziemlich klar, dass nur ein Doktor Dietrichs die Firma jemals übernehmen wird. Und wenn er das sein will, dann muss er sich ranhalten. „Gut, Dietrichs. Also ich entnehme Ihrem neugierigen Blick, dass Sie das Thema interessiert? Ich meine, ich habe an Sie gedacht, da Sie ja durchaus etwas Ähnliches in Ihrer Diplomarbeit gemacht haben, die ich übrigens schon halb durchgearbeitet habe.“ „Ja, Herr Professor, ganz richtig, das stimmt. Und ja, ich interessiere mich für das, was Sie zu Bosch gesagt haben.“ Reiter hat mittlerweile die Tasche neben den Tisch gestellt, den 486er Computer hochgefahren, der hier mittlerweile ein fester Bestandteil der Ausstattung ist und sucht parallel einen Stapel von Papieren nach einem Ordner ab. „Wo hab ich sie denn hingelegt, die Berechnungen. Ah, da sind sie…“ Oliver verfolgt die Handgriffe ganz genau, weiß aber auch nicht, was er beisteuern könnte. Dann erlöst ihn Reiter. „Entschuldigen Sie, Dietrichs, es ist alles ein bisschen hektisch heute, wie Sie sehen. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen um 14:00 Uhr hier wieder. Dann können wir alles Nötige besprechen. Ich wollte ja nur hören, ob Sie Interesse haben. Der Rest wird sich finden.“

Als Oliver einige Stunden später an der Produktionshalle des Familienunternehmens entlang fährt, fragt er sich, wie es wohl sein würde, wenn er hier der Chef ist. „Herr Dr. Dietrichs“ — warum nicht? Es scheint jedenfalls ein gutes Omen zu sein, dass Reiter ihn direkt angesprochen hat, wo es doch bestimmt viele andere Kandidaten gäbe. Und wie Reiter ihm auch gesagt hat, geht es um ein wirklich innovatives Thema. Das ist es, was Oliver interessiert. Er will nichts machen, was die Welt nicht braucht. Da stimmt er mit seinem Vater ganz überein. Und das macht auch Reiter als Professor aus. Wenn er doch nur schon wüsste, wie die Diplomarbeit ausgegangen ist. Das würde auch seinen Vater zunächst einmal beruhigen und davon überzeugen, dass er den Doktor nicht nur für den Titel macht, sondern weil er wirklich an etwas Innovativem arbeitet. Wenn er eines weiß, dann ist es, dass man als Unternehmer immer einen Schritt voraus sein muss. Man muss Unsicherheiten nicht nur ertragen, sondern auch bewusst welche eingehen. Im Prinzip kommt Andreas das entgegen. Er spricht gern mit Leuten und kann sie überzeugen. Es ist nichts Gespieltes sondern liegt in seinem Naturell. Nachdenklich schaut er sich noch einmal den den Ausdruck seiner Diplomarbeit an, die zu Hause noch auf dem Schreibtisch liegt. „Die ganzheitliche Bewertung von Kunststoffen in der Automobilausstattung“ hat Reiter als Arbeitstitel genannt. Das klingt doch wirklich nicht schlecht als Idee.

1. Die Diplomarbeit

Es ist der 5. Juli 1988 irgendwo in einem Stuttgarter Vorort. Der Wecker neben Andreas Couch zeigt 15:16. „Wolltest Du nicht noch zur Uni, Du Mittagsschläfer?“ fragt Tanja kess und wirft Andreas ein Kissen auf den Bauch. Der streckt sich und sinniert. „Hm, ja, eigentlich schon. Aber so recht ist mir danach gar nicht. An seinem Geburtstag kann man doch auch mal blau machen.“ Andreas ist im fünften Semester Maschinenbau. Seit einigen Wochen ist es mit seiner Motivation nicht gerade gut bestellt. Er weiß auch genau, woran das liegt. Er braucht unbedingt ein Abschlussthema für die Diplomarbeit. Aber ihm fällt keines ein. Und schon gar nicht weiß er, was danach folgen soll. In irgendeinem Büro versauern und Pläne zeichnen? Motoren bauen? Und wozu hat er überhaupt dieses Studium begonnen?

Noch viele Minuten räkelt er sich auf dem Sofa. Die Sonne scheint draußen, es ist warm. Eigentlich winkt eine Fahrt mit dem Moped ins Grüne. Er und Tanja könnten sich einen schönen Nachmittag machen. Aber Andreas weiß auch, dass das schlechte Gewissen so nicht weggehen würde. Zudem fällt ihm ein, dass es nicht irgendeine Vorlesung ist, die er verpassen würde. Die Kunststoffkunde von Professor Reiter ist eigentlich immer ganz spannend. Reiter ist anders als die anderen. Wie genau, das kann sich Andreas auch nicht recht erklären. Er ist ein großer Mann, ausdrucksstark, entschlossen, voller ausgezeichneter Leistungen und Anerkennungen. Er ist wohl das, was viele charismatisch nennen. Aber gleichzeitig ist er auch nahbar irgendwie, und sogar lustig. Gerade letztens hat er ein Surfbrett in den Vorlesungsraum schleppen lassen, um den Studenten zu zeigen, woraus genau das Board besteht. Wenn er mal Professor werden würde, dann so einer wie Reiter, denkt sich Andreas und starrt auf den Schmetterling, der vor der geöffneten Balkontür tanzt. Aber Professor will Andreas auf keinen Fall werden. Die Frage ist nur, was dann? Ewig kann er nicht Student bleiben und die Abschlussarbeit muss nun mal fertig werden.

Mit einem Satz springt er auf, zieht sich die ausgelatschten Turnschuhe mit dem Adidas-Streifen an und schnappt sich den Helm. Es sind nur wenige Minuten den steilen Berg hinauf bis zur Uni. Wie oft ist er diesen Weg im Laufe des Studiums gefahren. Er hat Ingenieurswissenschaften studiert, weil es ihn immer fasziniert hat, was man mit Materialien alles anstellen kann. Und die Umwelt hat ihn ebenfalls schon immer fasziniert. Es ist eine Zeit, in der viele auf die Straße gehen. Aber so recht interessiert das keinen. 1977 veröffentlichten die Schweizer als Erste eine Studie zu „Ökobilanzen von Packstoffen.“ Unternehmen sollen darauf achten, die Umwelt nicht zu verschmutzen. So recht zu interessieren scheint das aber noch keinen in Deutschland. Es geht meist ums Geld, sonst um nichts. Da macht sich Andreas keine Illusionen. Nur Reiter scheint das irgendwie anders zu sehen. Aber vielleicht sollte er einfach nicht so viel auf Reiter geben. Vielleicht ist er tatsächlich einfach nur ein wissenschaftlicher Spinner, der seine Ideen gut vermarktet. Wer weiß. Spannend ist es trotzdem immer, wenn man die Vorlesung betritt. Man weiß nie genau, was er sich jetzt hat wieder einfallen lassen.

Nachhaltigkeit einfach erklärt

Andreas muss sich seinen Weg durch die engen Hörsaalreihen bahnen und über die hölzernen Klappstuhlreihen steigen. Auf den Stufen sitzen auch bereits Studierende. Er hat es gerade noch rechtzeitig zum Beginn geschafft. Er weiß, dass Reiter nicht nachtragend ist. Er mag es aber auch nicht, wenn Studierende zum Ende des Studiums noch immer die Uhr nicht lesen können und dauernd zu spät kommen. „Beim Mittagsschlaf verschlafen“ ist da mit Anfang 20 bestimmt keine gute Ausrede. Neugierig schaut Andreas herunter in Richtung Rednerpult und Tafel, als er sich endlich einen der noch freien Sitzplätze ergattert hat. Ein Skateboard ist heute nicht zu sehen. Dafür sitzt ein Mann mit glatt gebügeltem Anzug neben Reiter. Andreas denkt nach. „Natürlich, das hatte er ja angekündigt letztes Mal“, entfährt es ihm. Der Student neben ihm, der scheinbar keinen Mittagsschlaf hatte, schaut ihn grummelig von der Seite an. „Das ist Herr Doktor Meyer von der Entwicklungsabteilung bei Bosch,“ erklärt er Andreas in einem Professor Oberschlau Ton. „Wie Du Dich vielleicht erinnerst, hat Herr Professor Reiter ihn für dieses Mal angekündigt. Es wird um Ökobilanzierung bei einem Kotflügel gehen.“ „Danke“, kann sich Andreas abringen und schaut wieder herunter, wo Reiter gerade ans Pult tritt, um seinen Gast einzuführen.

Eine knappe Dreiviertelstunde später ist die Diskussion in vollem Gange. Heute scheint es so, als wäre Reiter derjenige, dem die meisten Fragen unter den Nägeln brennen. Eigentlich lässt er sonst bewusst den Studierenden immer den größten Raum. Das hat Andreas schon immer gefallen, dass er dazu ermuntert, auch den Mund aufzumachen, wenn solch wichtige Leute aus der Wirtschaft zu Gast sind. Aber heute hat er sich schon mehrere Male wieder eingeschaltet, nachdem Herr Dr. Meyer anscheinend die Fragen nicht so zufriedenstellend beantwortet hat, wie es Reiter sich vorgestellt hat. Andreas weiß, dass Reiter sehr um das Thema Umwelt bemüht ist. Zwar ist der Professor der Polymerforschung, aber seine Interessen sind sehr breit. Genau deshalb ist die Vorlesung ja so spannend. Kaum einer der anderen Profs. kümmert sich so ganzheitlich um die Themen im Ingenieurswesen. „Also ich muss ganz ehrlich sagen, Herr Meyer. Sie wissen, ich bin immer dankbar, wenn Leute wie Sie meinen Studenten hier einen Einblick in die Praxis geben und in die neusten Entwicklungen. Ich selbst habe ja vor nicht allzu langer Zeit einige Jahre wieder in der Industrie verbracht, um genau diesen Kontakt zu den wahren Herausforderungen im Geschäft nicht abreißen zu lassen. Ich muss aber auch sagen, und Sie kennen mich als kritischen Geist, dass mich die Methode, die Sie hier vorgestellt haben, um den Kotflügel zu bilanzieren, einfach nicht überzeugt. Da fehlt was, ist mein Fazit.“

Andreas schaut sich bei den Kommilitonen um. Ein Schmunzeln und leichtes Raunen geht durch den gesamten Hörsaal. Dieser Dr. Meyer zuppelt etwas nervös und leicht genervt am Jackette. So hatte er sich den Besuch in der Vorlesung wahrscheinlich nicht vorgestellt. Anstatt auf kritische Studenten zu treffen hat er sich mit einem streitbaren Professor angelegt. „Kollege Reiter, ich schätze Ihre Kritik, das wissen Sie. Sicher ist unsere Methode nicht die Krone der Schöpfung wenn es um Ökobilanzierung geht. Wir müssen bedenken, dass das Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Ja, vielmehr noch, wir müssen bedenken, dass es noch immer kaum jemanden interessiert. Unsere Konkurrenz schert sich einen Teufel um die Wolken, die da tagtäglich in die Luft geblasen werden. Wir denken nicht nur daran, wir machen auch. Und wenn Sie sagen, die Methode ist noch nicht ausgereift, dann gebe ich Ihnen recht. Habe ich auch nicht behauptet. Wenn dem aber so ist und Sie offensichtlich hier bessere Expertise zur Verfügung haben, dann würde ich genau davon gern erfahren. Gerade Sie, der Sie selbst in der Industrie tätig waren, müssten aber wissen, dass man die schönen Dinge, die man sich als Professor so im Labor einfallen lässt, nicht automatisch auf die Welt da draußen übertragen kann. Unsere Kunden interessiert keine Theorie, sie interessieren praktische Lösungen. Und Umwelt schön und gut, aber es muss sich rechnen.“

Langsam artet das Schauspiel zwischen Reiter und Meyer in einem Schlagabtausch aus. Andreas bereut bereits, dass er Meyer so unaufmerksam zugehört hat. Zwar interessiert ihn das Thema mehr als die meisten anderen Dinge, die er bislang im Studium gelernt hat, aber so richtig folgen konnte er Meyer nicht. Oder aber, er hat genau das gleiche Problem wie Reiter, der offensichtlich auch viele Probleme an der Methode sieht. Noch während er darüber nachdenkt, hört er fast aus dem Unterbewusstsein wieder die Stimme von Reiter: „Wissen Sie was, meine Damen und Herren, das Ganze ist spannend genug, um daraus eine Diplomarbeit zu machen. Das biete ich Ihnen hier und jetzt an. Sie haben mein Wort, dass einer von Ihnen sich dem Thema gern in der Tiefe widmen kann, um darüber seine Diplomarbeit zu schreiben.“ Andreas reißt mit einem Mal die Augen auf. Hat Reiter da gerade Diplomarbeit gesagt? Das ist es doch. Seit Wochen zermartert sich Andreas den Kopf über sein mögliches Thema, aber nichts scheint zu passen. Entweder ist es zu klein oder zu groß, zu wenig innovativ oder zu übers Ziel hinaus geschossen. Aber eines weiß er: Er muss fertig werden und zwar schnell. Da kommt dieses Angebot doch wie gerufen. Ungeduldig rutscht er nun auf dem kippeligen Holzstuhl herum. Wie bei vielen Möbeln hier im Hörsaalgebäude kann man froh sein, dass noch nichts auseinandergebrochen ist. Unsicher schaut er sich bei den anderen im Raum um. Wie viele von ihnen wohl dieselbe Idee haben und auch diese Arbeit schreiben wollen? Es sind viele, sehr viele, bestimmt 200 Studierende im Auditorium. Andreas muss sich unbedingt schnell seinen Weg nach unten bahnen sobald alles rum ist, um mit Reiter über die Arbeit zu sprechen. Das ist seine Chance.

Dann wird er plötzlich vom lauten Klopfen der Handrücken auf den Tischen aus den Gedanken gerissen. Alle erheben sich und er stürmt wie selten zuvor rechts heraus aus der Reihe, an den packenden Kommilitonen vorbei hin zur Treppe. „Hey, Du Affe, hast es wohl eilig, um zu Deiner Freundin zu kommen, oder was?“ macht ihn einer von der Seite an. Andreas interessiert das nicht. Er hat nur weiterhin das Pult unten im Blick, wo Reiter und Meyer weiter lebhaft zu diskutieren scheinen, als habe die Veranstaltung noch nicht geendet. Vor ihnen hat sich eine kleine Traube Studierender angesammelt, die offensichtlich noch Fragen haben. Oder wollen sie vielleicht auch eben jene Diplomarbeit schreiben, die doch Andreas nun machen will? Andreas kennt keinen von ihnen. Es müssten eigentlich eher Studierende im Grundstudium sein, eigentlich keine Konkurrenz für eine Abschlussarbeit. Mittlerweile packt Reiter den Stapel Papiere, der noch vor ihm auf dem Pult liegt und stopft sie mehr oder weniger ordentlich in die lederne Aktentasche. Die Studierenden scheinen es eher auf den Mann von Bosch abgesehen zu haben mit ihren Fragen. „Ist ja mal wieder typisch,“ denkt sich Andreas. „In der Vorlesung traut sich keiner, aber danach stehen sie alle Schlange, wahrscheinlich, um sich ein Praktikum zu erschnorren, oder so.“ Reiter blickt nun herüber und will sich offensichtlich schon einmal von Meyer verabschieden, der wahrscheinlich noch länger hier Fragen beantworten wird. Doch bevor Andreas auch Reiter entwischt, nutzt er seine Chance. „Herr Professor Reiter, dürfte ich Sie einen kurzen Moment sprechen?“ „Was gibt es Künzel? Haben Sie schon mit Ihrer Diplomarbeit angefangen? Sie müssten doch bald fertig sein?“ fragt er Andreas, teils mit Ermutigung und Vertrauen in der Stimme, teils fordernd. „Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Herr Professor Reiter. Was Sie gerade eben zu dem Diplomarbeitsthema gesagt haben, das finde ich sehr spannend. Ich will es gern machen. Es war schon lange mein Wunsch, ein Thema im Bereich Nachhaltigkeit zu bearbeiten. Aber irgendwie…“

So, jetzt ist es raus, denkt Andreas. Reiter schaut ihn plötzlich mit etwas anderem Blick an als noch vor einigen Momenten. Fast scheint es, als hätte er selbst schon vergessen, was er vor wenigen Momenten noch angekündigt hat. „Sie, Künzel, Sie wollen darüber schreiben? Na, haben Sie davon überhaupt schon Ahnung? Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie dazu schwerpunktmäßig Veranstaltungen bei mir besucht haben.“ „Nein, Herr Professor Reiter, habe ich nicht, aber ich habe durchaus schon am Rande immer mal wieder zu dem Thema gearbeitet. Und ich muss sagen, es fasziniert mich sehr. Um ehrlich zu sein, bin ich auch etwas verzweifelt, weil ich einfach bislang noch kein Thema gefunden habe, das mir liegt beziehungsweise für das ich mich begeistere. Deshalb denke ich, es passt irgendwie alles.“ Reiter nimmt seine Tasche und geht kurz und kommentarlos rüber zu Meyer, der noch immer in Gespräche mit den Studierenden verwickelt ist. „Herr Doktor Meyer, war mir eine Ehre, Sie sehen, was Sie an Interesse ausgelöst haben, das ist immer gut. Sie finden allein heraus, nehme ich an. Nochmals ganz herzlichen Dank.“ Meyer nickt und beide verabschieden sich mit einem kurzen aber kräftigen Händedruck. Dann wendet sich Reiter der Tür zu und schiebt Andreas quasi mit einer Geste ebenfalls gen Ausgang. „Künzel, machen wir es kurz. Was Sie sagen, klingt ehrlich und Ehrlichkeit ist schon mal eine gute Voraussetzung. Das Interesse nehme ich Ihnen auch ab. Der Rest wird sich rausstellen. Vorschlag: Sie kommen übermorgen um 14:00 Uhr in mein Büro, dann besprechen wir alles.“ Andreas kann noch kaum glauben, was da gerade passiert. Voller Strahlen schaut er Reiter an und sagt nur ein verdattertes „ja, gern.“ Dann ist Reiter auch schon am Ende des Flurs und hastet zu seinem nächsten Termin. Andreas schaut ihm noch nach. Plötzlich dreht sich Reiter nochmals um. „Ach, und Künzel, eines noch. Was Sie zum Thema Wünsche gesagt haben. Die erfüllt man sich selbst!“

Andreas erwidert mit einem freundlichen Nicken. Er kann es noch immer nicht recht glauben. Da sag doch mal einer, es lohnte sich nicht, in Vorlesungen zu gehen. Und ausgerechnet heute hätte er es um ein Haar nicht getan. Was Tanja wohl dazu sagen wird, wenn er ihr das erzählt. Sie ist ohnehin sehr skeptisch, wenn es um sein Studium geht. Sie hat ein Ausbildung als Arzthelferin gemacht und arbeitet lieber mit Menschen. „Was Ihr da immer mit Euren Messungen und Rechnungen macht, davon hat doch kein Mensch was“, hat sie schon oft gesagt. Manchmal war er so weit, dass er ihr eigentlich recht geben wollte. Aber dann hat er sich daran erinnert, wie sehr das Studium schon seine Weltsicht und sein Verständnis großer Zusammenhänge geprägt hat. Er hätte nie gedacht, wie stark unterschiedliche Stoffe sich auf die Umwelt auswirken und wie leichtfertig man mit allem umgeht, wenn man davon eben nichts versteht. Ja, Tanja sieht in Ingenieuren nur Leute, die Maschinen und Autos bauen. Aber darum geht es in erster Linie gar nicht. Es geht darum, die Produkte mit Hirn zu bauen und zwar so, dass sie dem Menschen nützen und nicht schaden, weder unmittelbar durch Krankheiten, noch durch die Umweltbelastung. Das ist es, was Andreas mit Freude und Sinn erfüllt, wann immer er mehr darüber lernt. Ob es diese Arbeit ihm wohl ermöglichen wird, in dem Feld auch später zu arbeiten?

Vertiefung: Erkenntnisse aus Jahrzehnten GaBi Arbeit in der Elektronik (Constantin Herrmann)

Elektronik ist überall in unserem Leben, offensichtlich und versteckt. Elektronikprodukte wie Computer, Smartphones, TV-Geräte, Küchenmaschinen, Kühlschränke, Bohrmaschinen, Mobilfunkboxen, Roboter, CNC-Maschinen usw. sehen und kennen wir alle, mehr oder weniger. Aber auch die versteckten Produkte wie elektronische Etiketten, sog. RFID tags, funktionale Gewebe mit Sensoren in Textilien, Bewegungsmelder, Lichtsensoren oder smarte NFC Funkchips begleiten unser Leben mehr oder weniger unsichtbar. Fakt ist, alle diese Produkte werden hergestellt einhergehend mit teilweise immensem Material- und Energieaufwand. So gut wie das gesamte Periodensystem an Elementen findet sich in Elektronik wieder, die unter Reinraumbedingungen gefertigt werden und Schaltelemente in Dimensionen einzelner Nanometer. Das sind Transistoren auf Halbleitern, die eine Gate-Breite von statistisch ca. 30 einzelne Atome vorweisen und davon einige Milliarden auf einem Quadratzentimeter gefertigt werden können. Und alle 18 Monate halbieren sich die Gate-Breiten und verdoppeln sich die Schaltgeschwindigkeiten.

Nach diesen schier unvorstellbaren Fertigungslinien reiht sich die Nutzungsphase. Üblich verbrauchen elektronische Produkte Strom, um zu funktionieren. Sei es aus der Steckdose oder über Batterien. Letztere müssen gewechselt werden, wenn der Energiehunger weitere Ladungen an Strom benötigt. Zwei, fünf oder zwanzig Jahre Strombedarf lässt den Umwelt-Fußabdruck oftmals schnell anwachsen, schneller als die aufwändige Herstellung bereits Spuren auf unserem Planten hinterlassen hat.

Irgendwann geht jedoch jede Nutzungsphase einmal zu Ende und ein weiteres Problemfeld der Elektronik eröffnet sich, die Entsorgungsphase. Unzählige Elemente wurden erst auf kleinsten Flächen in Bauelementen vereint. Edel und selten wie Gold, Dysprosium oder Indium aber auch verunreinigt wie flammgeschützte Kunststoffe mit Brom oder Antimon versehen, um am Entflammen gehindert zu werden. Die Vielzahl der Stoffe und deren oftmals kleinen Mengen lassen ein wirtschaftliches Recycling selten zu. Obwohl seit Jahrzehnten an Verwertungstechnologien gearbeitet wird, ist heute meist nur der Weg über Kupferhütten wirtschaftlich, die wenigstens Kupfer und Edelmetalle im Kreislauf halten können.

Die über Jahrzehnte erfolgte GaBi-Arbeit in der Elektronik erzeugte eine Datenbank, welche heute einige Hundert der gängigsten Elektronikkomponenten anbietet. Mit diesen Repräsentanten lassen sich nahezu alle bestückten Leiterplatten in ihrer Herstellung ökologisch bewerten, obwohl es weit mehr als 10 Mio. verschiedene Elektronikkomponenten am Markt gibt, wenn man ICs und Bauteile wie Widerstände und Kondensatoren sowie Leiterplattentypen, Lote und elektromechanische Bauteile zusammennimmt. Diese relativ geringe Anzahl an Datensätzen reicht aber aus, da sich ein Muster aus der Vielzahl an Daten, Studien und Projekten herausstellte. So kann jemand, der keine Zeit oder Muße hat sich um Details zu kümmern, schnell herausfinden, was eigentlich ökologisch relevant ist.

Dies ist zum einen die Thematik der Energieeffizienz, aufgrund der häufigen Dominanz der Nutzungsphase am ökologischen Fußabdruck. Jede Wattstunde Strom, die nicht verbraucht wird, ist ein ökologischer Vorteil. Aber Strom kann über vielfältige Arten erzeugt werden und unter der Annahme, dass sich „sauberer“ Strom oder besser regenerative Stromerzeugung durchsetzt, muss die Nutzungsphase in Zukunft nicht mehr zwingend der ökologische hot spot sein.

Daneben ist die schleppende Einführung einer funktionalen Kreislaufwirtschaft ein weiteres ökologisches Problem der Elektronik. Rohstoffe zu erhalten ist immer ein wichtiger Aspekt und ganz besonders für die Vielzahl der Rohstoffe in Elektronikprodukten. Sie benötigt allerdings das Zusammenspiel vieler Akteure, die in dieselbe Richtung ziehen müssten, um wirkliche Kreislaufwirtschaft in Märkten zu etablieren. Ein Thema, welches nicht nur für Elektronik einen Wendepunkt darstellen kann, aber für das Hersteller nicht die alleinige Verantwortung tragen.

Insofern lässt sich aus der Jahrelangen GaBi Arbeit eine einfache Daumenregel für Hersteller ableiten, wenn sie denn fragen: „worauf muss ich bei Elektronikfertigung achten, um ökologisch besser zu werden“, „wie kann ich ökologische Verantwortung für Produkte tragen“. Und bei aller Vielzahl von Einzelaspekten und Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, kann man mit der folgenden Vier-Punkte-Regel Dank GaBi weiterhelfen:

Regel

Ursache für ökologischen Fußabdruck der Herstellung von Elektronik

Einfluss und Maßnahmen

Ökologisch dominant sind die Flächen der Wafer-Chips in Halbleitern. Die kleinen Schaltungen auf Siliziumträgern, welche Smartness und Funktion in unser Leben bringen, dominieren i. A. den Fußabdruck aufgrund der enormen Energie zur Fertigung unter Reinraumbedingungen.

Höhere Integrationsdichten und mehr Funktion pro Fläche in Halbleitern senken den ökologischen Fußabdruck. Je weniger Chip-Fläche desto besser. Aber auch nicht sinnlos die größtmögliche Funktion (und damit Fläche) in jedes Produkt verbauen.

Die Fläche der Leiterplatten unter Berücksichtigung aller Flächen bei Mehrlagenleiterplatten aufgrund des Energiebedarfs zum Drucken und Ätzen der Leiterplattenoberflächen.

Der Herstellungsaufwand stammt aus der Prozesstechnik mit nasser Druck- und Ätztechnologien und je weniger Leiterplattenfläche gefertigt wird, desto geringer der ökologische Fußabdruck. Miniaturisierung kann helfen, siehe auch Regel 1.

Die Miniaturisierung der Elektronik einhergehend mit dem immensen Energieeinsatz unabhängig von Materialmengen dominiert den ökologischen Fußabdruck. Dennoch gibt es auch schwere Baugruppen und Bauteile wie Transformatoren mit dicken Kupferwicklungen und magnetischen Eisenkernen oder riesige Elektrolytkondensatoren und andere materialmengenrelevante Bauteile. Materialmenge kann auch die höchste materialunabhängige Energieintensität übertrumpfen.

Die Miniaturisierung der Elektronik wurde ökologisch als Allheilmittel angesehen, was sie nicht ist (siehe Regel 1 und 2, da immer mehr Fläche erzeugt wird, und Regel 4 mit immer reineren High-Tech-Materialien). Dennoch spielt Materialeinsatz ökologisch auch auf Leiterplatten eine Rolle und weniger Material ist weniger Fußabdruck. Abhilfe schafft dort Fokus auf sortenreines Recycling und Weiter- und Wiederverwendung, also Kreislaufwirtschaft.

Miniaturisierung braucht edle und seltene Materialien, um Funktion bei geringstem Materialeinsatz sicherzustellen. Da wie erwähnt das nahezu gesamte Periodensystem zu finden ist, stechen einige Materialien mit ihrem Fußabdruck auch bei kleinsten Mengen heraus, wie Gold und andere Edelmetalle, einige seltenen Erden wie Dysprosium oder Praseodymium, aber auch Indium oder Cobalt bringen hohe ökologische Rucksäcke mit Vermeidung oder Minimierung von edlen und seltenen Materialien mit extrem hohem Fußabdruck, wie bsw. Minimierung der Goldschichtdicken von Kontakten und Fokus auf deren Separierung bei kleinsten Materialmengen (siehe demgegenüber Regel 3) für sortenreines Recycling und Weiter- und Wiederverwendung, also Kreislaufwirtschaft.